von Ulrich Siebgeber
Geben Sie’s zu, geben Sie’s doch einfach zu, es wäre ja schon schön, wenn Sie zuhören könnten, einfach zuhören, vielleicht auch doppelt und dreifach, denn einfach kommt in solchen Zeiten keine Botschaft in ein einzelnes Ohrenpaar hinein, sie quetschen sich alle zusammen ins Ziel, das nicht ohne Grund Trommelfell genannt wird – ein dickes Fell sollte es schon sein und trommeln sollte man auch darauf, um sich bemerkbar zu machen. Wer wollte das nicht? Wer, frage ich, wollte das nicht? Er trete vor... sie trete vor, und mache den Zugetrommelten klar, worum es geht. Die Lage ist ernst.
Nach jeder erstaunlichen Mordtat mit Fanalcharakter stehen die üblichen Kandidaten am Pranger, als erste die ideologischen Stichwortgeber, gleich dahinter, quasi versuchsweise, die desolate Familiensituation, der Waffenbesitz und das Internet, irgendwo die einschlägigen Computerspiele und schließlich, gut verrührt mit dem Rest, die gesellschaftliche Konstitution. Das weiß die Kundschaft und ihr Gähnen zeigt sie im Vollbesitz ihrer Konsumentenpsyche. Kann es nicht wenigstens dieses eine Mal etwas anderes sein? »Würg!« So eine Meinungsäußerung, wenngleich unter dem Strich, in einem führenden Nachrichtenorgan sollte nicht leicht übergangen werden. Sie wird verständlich, weil nicht bloß die Religionen, sondern auch die Motive, aus denen Menschen töten, dem Verschleiß unterliegen. Es fällt eben schwer, über zehn, zwanzig Jahren etwas zu glauben, wenn es sonst im Leben und in der Gesellschaft nichts Festes gibt. So steht leicht der Glaube selbst unter Verdacht – vorsichtig gesprochen, die Überzeugung, als habe man in ihr das Grundübel aller Verhältnisse gefunden, in denen der Mensch dem Menschen zum Wolf wird. Warum denn nicht? Wer nichts zu sagen hat, hat nichts zu lachen, wer nichts zu lachen hat, der kann nicht glauben, wer nichts zu glauben hat, der findet jeden Grund dafür, ein Massaker anzurichten, plausibel und ›pathologisch‹. Recht so?
Infolgedessen ist jede Seite damit beschäftigt, die eigene Gruppe zu sichern. Der ist nicht von uns lautet der Basissatz aller Meinungsträger in der Stunde der wahren Bewährung. Übersetzt bedeutet das: ›Es könnte auch einer von uns gewesen sein, aber diesmal scheinen wir Glück gehabt zu haben. Vorwärts, testen wir das Glück der anderen.‹ Die ›Ideen‹ des Täters sind schnell ausgelesen und der Befund klingt erschütternd einsilbig. Im Prinzip... kann einer auch Mutters Garderobe mit der Knarre in der Hand verteidigen. Soll sie deswegen nackt gehen? Hat die Mode deswegen ›ein Problem‹? Vielleicht folgt Mutter der Mode nur zögernd. Reicht das, um das konservative Lager der Mittäterschaft zu bezichtigen? Es muss wohl reichen, so wie es immer gereicht hat, die Gegenseite an die Wand zu drücken, das Wüten der jeweils anderen ist dem einen oder anderen Rentenempfänger durchaus erinnerlich und die Migranten, sie ohnehin, wissen ein Lied davon zu singen.
Die schreckliche Verengung, in welche die Gesellschaften des Westens gelaufen sind, trägt einen Namen: den der Mehrheitsgesellschaft, auch ›schweigende Gesellschaft‹ genannt, deren Kulturtechnik, neben dem Schweigen, tatsächlich im Zusammenrücken besteht, einer besonderen Form der Rechtlichkeit, die das Recht für sich reklamiert, weil sie davon ausgeht, dass die Minderheiten sich jedes Recht nehmen, da es ohnehin auf ihrer Seite steht. Diese Mehrheitsgesellschaft steht dort, wo sie wählt, abstimmt, feiert und sich betrinkt (Randale liegt ihr bekanntlich nicht so), in verschiedenen Lagern, es wäre weitgehend unsinnig, sie dem konservativen hinzuschieben. Ihr Feindbild bewegt sich seit einem langen Jahrzehnt, den Lavaströmen Islands vergleichbar, in Richtung Islam, ohne ihn je zur gemeinsamen Zielscheibe werden zu lassen, weil hier der Schutzzaun ›Religion‹, dort der Schutzzaun ›soziale Minderheit‹ zuverlässig verhindert, dass die Aggressionsströme sich vereinen. Der kleine Unterschied reicht aus, um dem Meinungsgebräu der jeweils anderen Seite die Mehrheitsfähigkeit abzusprechen. Überfremdungsängste folgen keinen analytischen Standards, sie müssen sich nicht ausweisen, das ist ihr Vorteil und der Ruin derer, die in ihrem Spiegel die Wirklichkeit schlechthin zu erkennen versuchen. Sie wegzureden hingegen ruiniert die gemeinsame Sprache und ist Wasser auf die Mühlen des bizarren Tu-was-Spektakels, dessen Spektrum offensichtlich vom Liedchenträllern bis zum Massenmord reicht. Man muss den Begriff der ideologischen Tat differenzieren und kann es nicht. Man kann es nicht, weil zwischen Tat und Ideologie der Wahnwitz einer Konsequenz geistert, die stärkeren, soll heißen ausgeblendeten Motiven folgt oder buchstäblich kein Motiv nötig hat, weil sie sich selbst genügt. Seltsamerweise schließen sich die beiden Extreme nicht aus. Vielleicht eröffnen sie erst in Tateinheit den Weg ins große Verbrechen.
Die früh ergangene Aufforderung des Dramatikers Georg Büchner, den Ideen gefälligst dorthin zu folgen, wo sie sich verkörpern, wurde in einem langen historischen Prozess inkorporiert und das Ergebnis ist weniger zweischneidig als allseits unbefriedigend. Die Leine zwischen den Gesinnungen und den Taten, die aus ihnen hervorkriechen, ist unendlich lang und verkürzt sich in kritischen Situationen und Gehirnen dramatisch. Der Bestürzung über den Hass, ›von dem die Tat zeugt‹, folgt die Bezeugung von Hass auf den Täter und seine wirklichen oder angeblichen Stichwortgeber, dem Hass der Wörter folgt die kollektive Suche nach rechtlichen oder gleich rechtsverkürzenden Rache-Instrumenten, also die Befriedigung von Tatmotiven, die den Täter selbst umtreiben, nicht selten aus dem gleichen ideologischen Stall. Nun müssen sie zusammenstehen, ein Täter, ein Volk, eine Gesinnung, die Gemeinschaft hat ihn aus ihrer Mitte ausgespien und leidet an dem Geschmack, den sie mit ihm teilt. Diesmal dieser, dahinter ein anderer, die Liste möglicher Kandidaten ist lang, man darf sie ohne weiteres unabsehbar nennen.
Dieser kreuz-und-quer-Hass in Gesellschaften, die das Geltenlassen in ihre Fundamente eingeschrieben hat, könnte erstaunen, bestimmte er nicht allerorten den Alltag. Alle wissen, das Geltenlassen, auf den Grund befragt, trägt nicht, und wenn einmal doch, gilt es den Hartgesottenen prompt als Übel, das bekämpft werden muss. ›Null Toleranz‹ als gemeinsame Formel für Dampf- und Kampfquassler, das klingt nicht übel, ganze Bahnhöfe gehen darüber in Papier auf. Der gemeinsame Feind heißt ›Fundamentalismus‹, egal welcher, der eigene bleibt ausgeblendet, soviel Toleranz muss sein. Warum das so ist? Keiner sieht die Fundamente, auf denen er steht, wirklich, er müsste den Bau schon einreißen, in dem er sich glücklich eingerichtet hat. Und wem nützt schon der Augenschein. Man nimmt an, man nimmt aus. Gewiss, man wäre auch dem Feind gegenüber tolerant, sofern die gegründete Aussicht bestünde, er würde irgendwann das Feld räumen. Nur diese Sperrigkeit, dieses intransigente Bleibeverhalten von Leuten und Ideen, mit denen man, gesinnungsmäßig gesprochen, längst fertig ist, hat etwas Aufreizendes, auch Lähmendes, etwas, das fordert und reizt, ohne dass man sich einzugestehen wagte, wozu. Warum auch? Wer schreibt, hat seinen Filter vielleicht gefunden, wer kandidiert, desgleichen, wem die Gruppe genügt, dem genügt in der Regel das Fernsehen oder das Protestcamp, nur diese paar Prozent, die ohne Filter leben, denen das raumfüllende ›Was tun‹ die Haut geritzt hat und, schlimmer, die darunter liegenden Schichten, der pathologische Bodensatz der Gesinnungsparteien ist ihr Problem und wohl nicht nur ihres.
Die Liquidierung störender Elemente hat, als Regierungstätigkeit betrachtet, eine gewisse Tradition. Mancher Zeitgenosse staunt über die Traditionsbeflissenheit friedlich Gewählter, die in friedfertiger Absicht Länder befreien helfen, von denen sie keinerlei Bedrohung erwarten. Überproportional zugenommen haben die Fähigkeiten der Militärs, vom Willen abgesehen, jeden Einzelnen fast zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Mitte seiner Familie, seiner Gruppe, seiner Gesellschaft, seines Staates auszulöschen und anschließend so zu tun, als habe er nie existiert oder als habe man eine jener Milben beseitigt, deren Dasein sich in einem Uexküllschen Paralleluniversum abspielt. Kein Zweifel: der Phantasie jener Filterlosen setzt das mächtig zu, stärker noch als jedes fatale Computerspiel und jedes schein-unschuldige Trainingsprogramm. Der Wunsch, einmal im Leben die Macht der Gewalthaber in den eigenen Adern kreisen zu lassen, ist ein gewaltiges Putschmittel – voilà, hier kommt der Putsch. Keiner, der wörtlich genommen werden wollte, aber ein Privatputsch, ein Massaker, ein Fanal: das streitbare Ich gegen das falsche Universum. ›Seht her‹, sagt die Gebärde, ›ordentlich vorbereitet und mit einem soliden Waffeneinsatz ist alles machbar.‹ Auch das: den Überwachungsstaat austricksen, ihm eine Stunde abgewinnen, die Stunde der freien Verfügung – ein hoher, sehr hoher Reiz für jemanden, dessen angestrengte Gehirntätigkeit nur Umwelt kennt und gelten lässt, den gehäuteten Jedermann mit dem Finger am Abzug.
Dagegen steht die Trauer. Man muss auch ihr auf die Finger sehen, der Trauer, denn sie hat jene unselige Tendenz zu verschmelzen, mit was auch immer, dem Hass sowieso, der Wut, die man angeblich herauslassen muss, um sie unschädlich zu machen, dem Gewäsch von gestern, verbunden mit den Möglichkeiten, die es sich aus der neuen Situation erhofft, den Märchen von morgen und übermorgen, dem hässlichen Mundgeruch von Leuten, die zuviel reden, und dem käsigen Schweigen, das sich zu alldem nicht äußern möchte, weil es kontaminiert ist. Jede menschliche Trauer schließt die Trauer um den Menschen ein.