von Lutz Götze

Vom ›Jargon der Eigentlichkeit‹ zur Phrasendrescherei der ›Gendersensibilität‹

Dagmar Lorenz hat, vollkommen zurecht, auf die enge Verbindung des Jargon der Eigentlichkeit, verfasst von Theodor W. Adorno in den Jahren 1962-64, mit der gegenwärtigen Debatte um »geschlechterneutralen« oder »gendersensiblen« Sprachgebrauch hingewiesen (FAZ 13.10.22). Zentrale Passagen der Argumentation Adornos – gerichtet gegen Martin Heideggers und seiner Schüler Jargon – sind:

»In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins; Untersprache als Obersprache. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung… Er verfügt über eine bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter. Eigentlichkeit ist dabei nicht das vordringlichste; eher beleuchtet es den Äther, in dem der Jargon gedeiht, und die Gesinnung, die latent ihn speist… Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken. Eigentlich: kernig sei, daß der ganze Mensch rede… Diese (die Aura) paart sich mit einer Unverbindlichkeit, die sie inmitten der entzauberten Welt disponibel oder, wie es wohl in paramilitärischem Neudeutsch hieße, einsatzbereit macht… Die Stereotypen des Jargons versichern subjektive Bewegtheit. Sie scheinen zu garantieren, daß man nicht tue, was man doch tut, indem man sie in den Mund nimmt: mitblökt; man habe es sich selber, als unverwechselbar Freier, errungen. Das formale Gehabe von Autonomie ersetzt deren Inhalt.«

Genau dies geschieht heute: In öffentlich-rechtlichen Medien, in Universitäten und Verwaltungen wird immer vehementer gegendert – gepaart, im Mündlichen, mit dem maulsperrenden Glottisschlag. Das vage Empfinden, man könnte, wenn man nicht mittäte, abgehängt und aus der Kommunikationsgemeinschaft ausgeschlossen werden, scheint ubiquitär und omnipotent zu sein. Da spielt es keine Rolle, wenn Umfragen ergeben, dass mehr als achtzig Prozent aller Deutschsprachigen den Genderwahnsinn ablehnen, dass mehr als neunzig Prozent die Anerkennung eines ›sozialen‹ Geschlechts (Gender) als nonsens bezeichnen. Vielmehr wird die Vergabe des ›Deutschen Buchpreises‹ an den Schweizer Autor Kim de l’Horizon als wesentlicher Schritt in Richtung der Anerkennung jeder Art von Geschlecht hymnisch gefeiert. Soziale Anerkennung und Gleichberechtigung über die Sprache!

Inzwischen dämmert es selbst den hartgesottenen Gender-Befürwortern, dass de l’Horizons Auftritt – gelegentlich der Dankesrede wandte er/sie sich, tränenumflort, an die Mutter und opferte anschließend seine/ihre Haarpracht zugunsten der demonstrierenden Frauen im Iran – eine reine Show-Veranstaltung war! Besser und politisch überzeugend wäre es gewesen, den ›Deutschen Buchpreis‹ den mutigen Frauen selbst zuzuerkennen. Der Gedanke wird solcherart entwertet, wie Adorno schreibt. Der Jargon, heute: die Show, ja, die Fake-news, triumphiert. Auf sie allein kommt es an, auf die ›signalhaft einschnappenden Wörter‹.

Die Urheber

Adorno schreibt weiter:

»In Berufsgruppen, die, wie es so heißt, geistige Arbeit verrichten, zugleich aber unselbständig und abhängig sind oder wirtschaftlich schwach, ist der Jargon Berufskrankheit. Bei solchen Gruppen tritt zur allgemein gesellschaftlichen eine spezifische Funktion hinzu. Ihre Bildung und ihr Bewußtsein hinken vielfach hinter jenem Geist her, mit dem sie nach gesellschaftlicher Arbeitsteilung befaßt sind. Durch den Jargon möchten sie den Abstand ausgleichen; ebenso als Teilhaber piekfeiner Kultur sich empfehlen – ihnen klingen noch die Ladenhüter modern-wie als Individuen eigenen Wissens: die Argloseren unter ihnen mögen das unverdrossen…immer noch persönliche Note nennen…Was in der Kulturindustrie die Pseudo-Individualisierung besorgt, das besorgt bei ihren Verächtern der Jargon. Er ist das deutsche Symptom fortschreitender Halbbildung; wie erfunden für solche, die sich als geschichtlich verurteilt oder wenigstens absinkend empfinden, aber vor ihresgleichen und sich selber als inwendige Elite sich gerieren. Sein Gewicht ist nicht darum zu unterschätzen, weil nur eine schmale Gruppe ihn schreibt. Ihn sprechen ungezählte leibhaftige Menschen.«

Die Kulturindustrie ent-individualisiert die sprachliche Äußerung wie das Handeln selbst; gefragt sind unverbindliche Bekenntnisse, nicht Fakten oder Argumente. Da empfiehlt es sich, etwa in den Sprachwissenschaften an deutschen Hochschulen, die Kritiker des Genderwahns als unzeitgemäß und atavistisch zu bezeichnen und sie solcherart zu delegitimieren: Die Zeit der ›Sessel-Linguisten‹ sei längst vorbei; die aktuelle Sprachwissenschaft sei ganz anders und, im eigentlichen Sinne, aktiv und relevant. Erst in jüngster Zeit, so die häufig und vehement vorgetragene Behauptung der Geschichtsvergessenen, werde ernsthaft über das Verhältnis von Sprache und Gebrauch nachgedacht. Früher hingegen habe man sich lediglich streng an das System gehalten: Strukturalismus eben. Dabei gab es bereits vor mehr als fünfzig Jahren Sparten wie die Soziolinguistik oder die Linguistische Pragmatik, die eben diese Grenzen des Systems – Strukturalismus also – sprengten und überwanden: Sprache und Gesellschaft, Sprache und ihr Gebrauch. Eine Grammatik, die der Verfasser im letzten Jahrhundert vorlegte, trug den Titel: Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. Darin wurden, unter anderem, die movierte Form der Anrede, also ›Sehr geehrte Studentinnen und Studenten‹, aber auch ›Sehr geehrte Damen und Herren‹ empfohlen. Niemand erhob Widerspruch. Heute wäre zu ergänzen, dass regelhaft das Genus gewechselt werden sollte: ›Sehr geehrte Lehrer und Direktorinnen, liebe Schülerinnen und Studenten.‹

Und, mit Verlaub, was hat denn die germanistische Sprachwissenschaft der jüngsten Vergangenheit an wesentlich Neuem und Bahnbrechendem hervorgebracht? Die ›Gender‹-Debatte, sonst eher wenig. Die Reflexion also darüber, ob es neben den beiden Genera – maskulin und feminin – nicht noch ein drittes, eben das Gender – das ›soziale Geschlecht‹ – gäbe. Dass damit sprachlich abgesichert sei, dass Menschen, die ihren Körper als ›fremd‹ und unpassend empfinden, in jugendlichen Jahren oder später die Möglichkeit hätten, ihren Namen samt grammatischen Bezügen zu ändern: ›Karin‹ statt ›Karl‹, ›hen‹ anstelle von ›er‹ oder ›sie‹, ›Professorx‹ statt ›Professor‹ oder ›Professorin‹.

96 Prozent aller Sprachteilnehmer und -teilnehmerinnen lehnen das ab: aus Gründen der Verständlichkeit oder der Ästhetik der deutschen Sprache. Sie beklagen, zu Recht, den damit einhergehenden Verlust an notwendiger sprachlicher Bedeutungsdifferenzierung. Sie widersetzen sich der Unverbindlichkeit des Ausdrucks, von der Adorno sprach. Sprachmüll ist ihnen zuwider. Dass Nichtmuttersprachler im Inland (Deutsch als Zweitsprache) und Ausland (Deutsch als Fremdsprache) darunter besonders leiden würden, ist bekannt, ficht die Befürworterinnen freilich nicht an. Dass die deutsche Sprache dergestalt, zumal im Ausland, noch weiter an Bedeutung und Verbreitung verlöre, noch weniger. Schließlich sind SIE die ›inwendige Elite‹. In Wahrheit verkörpern sie das ›Symptom fortschreitender Halbbildung‹. Adorno war höflich; wir sprechen deutlicher von ›Unbildung‹, in Teilen ›Verblödung‹.

Wahrhaftige und eingebildete Probleme

Die Welt, im Herbst 2022, hat eine Fülle schwerwiegender, ja menschheitsvernichtender, Probleme: Kriege in der Ukraine und weltweit, Pandemien, Mangel an Grundlagen menschlicher Existenz wie sauberes Wasser und Luft, Hunger und katastrophale Krankheitsfürsorge. Sie werden, im bevorstehenden Winter, dramatische Züge annehmen. Der Genderwahn gehört zu den eingebildeten Problemen.

Bedrückend, auf die Beherrschung der deutschen Sprache bezogen, ist vielmehr die weitere Niveauabsenkung der Lese- und Rechtschreibkompetenz bei Viertklässlern, wie eine jüngst vorgelegte Studie nachgewiesen hat. Gleiches gilt für die völlig unzulängliche Fähigkeit des Kopfrechnens. Beschwichtiger und Schönrednerinnen präsentieren freilich sogleich die Beschwörungsformel: Die Covid-Pandemie und die Schulschließungen seien die Ursache. Mitnichten: Das Problem bestand bereits vor 2019, wurde freilich durch Corona verschärft. Es betrifft, im Übrigen, auch nicht lediglich die ›bildungsfernen Schichten‹ und Nichtmuttersprachler, wie eilfertig herausposaunt wird. Nein, die Phänomene reichen bis in die Mitte der Gesellschaft. Eine der wesentlichen Ursachen wird geflissentlich verschwiegen: der ununterbrochene Gebrauch technischer Medien, die nicht ›sozial‹, sondern unsozial sind und billigste Unterhaltung und Geschwätz präsentieren. Es wird zu Hause, aber auch in der Schule, immer weniger leise oder laut gelesen oder geschrieben: von Hand und nicht per Knopfdruck. Das Von-Hand-Schreiben fördert die unabdingbare Motorik der Hände und stärkt neuronale Netze, ist mithin für Physis und Gehirn unverzichtbar. Wer stattdessen für einfachste Rechenaufgaben oder kleine Texte das Handy benutzt, verblödet.

Das zu erkennen und gegenzusteuern, ist Pflicht und Aufgabe einer vernünftigen und zukunftsorientierten Bildungspolitik. Die Phrasendrescherei einer ›Gendersensibilität‹ ist das Gegenteil.

 

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