von Ulrich Schödlbauer
Das ist ein Jahrhundertsatz, geformt von Millionen Mündern und damit ein geflügelter Widerspruch in sich ähnlich der aus der Antike überlieferten Ansage eines ansonsten unbekannten Kreters: Alle Kreter lügen. Lügen nun all jene, die diesen Satz wie eine Monstranz vor sich hertragen, die einen seit Jahren, die anderen seit den jüngsten Lockdown-Beschlüssen, zu denen jedem, der seine Sinne beisammen hat und gelegentlich noch mit den Nachbarn redet, nichts weiter mehr einfällt als Heilige Einfalt!, oder sagen sie die Wahrheit, die bittere Wahrheit und sonst nichts? Nun ja, sie sagen es ja: Niemand sagt es, also sind sie niemand, patentierte Niemande, die sich selbst bescheinigen, niemand zu sein. Wie konnte es dazu kommen, dass so viele in diesem Lande, wie die Phrase lautet, sich für Niemande halten, schlimmer: für niemand?
Gerade darüber verspricht der Satz der Niemande Aufschluss: Das Problem, das er anspricht – ein ungelöstes, um genau zu sein –, ist identisch mit dem, das sie zu Niemanden macht. Warum das? Weil es darin besteht, dass ›die Politik‹ – nennen wir sie vorläufig noch so, bald werden andere Vokabeln dafür zur Verfügung stehen – sich einen Teufel um das schert, was alle Welt sieht und der urteilsfähige Teil des Landes immer deutlicher ausspricht: Sie schert sich einen Teufel um den aus dem Nichts der politischen Macht heraus zum politischen Niemand, zum Untertan degradierten Souverän, sie schert sich schon so lange nicht mehr um ihn, dass sie verlernt hat, auf die Modulationen seiner Stimme zu achten – ein gravierender Fehler, der Souverän mag immer dasselbe vor sich hinbrabbeln, es kommt aber darauf an, um den in weiten Kreisen allzu hoffähigen, leider weithin unbekannten Marx zu zitieren, rechtzeitig zu hören, wie er brabbelt, denn dieses Brabbeln ist keineswegs der Selbstzweck, für den ihn die Betriebsarroganz hält, die sich dreist an die Stelle der Funktionsintelligenz gesetzt hat, um sie zu halten, bis…
… sagen wir doch, bis die regierenden Niemande einsehen lernen, dass sie ihre Pöstchen und Prösterchen keineswegs bis zum Sankt Nimmerleinstag behalten werden, nicht einmal die Dam- und Herrschaften von der SPD, denen das geflügelte Wort eines ihrer ehemaligen Vordenker von den Sesselfurzern längst zur verhängnisvollen Prophetie geriet, zum Zeichen an der Wand in einer ansonsten ziemlich analphabetisch wirkenden Landschaft mit Sternchen, die bekanntlich nach Mitternacht am hellsten strahlen. Nacht über Deutschland – das klingt nach einem etwas kitschigen Filmtitel auf der Suche nach der verlorenen Zeit, als die Bombergeschwader der Befreier ihre Christbäume in den nächtlichen Himmel über Hamburg und Dresden zauberten. Es hat aber etwas mit diesem Deutschland zu tun, dessen ›Elite‹ ihr Urteilsvermögen für Sternchen dahingibt, während ihre Kritiker, im Glauben, etwas Gutes zu tun, den frisch zu Untertanen Degradierten, die gerade anfangen, sich die Augen zu reiben, den ewigen deutschen Untertanengeist hinreden, als sei dagegen kein Kraut gewachsen außer dem, das ihre Vordenker und Vorbeter und Vorkäuer und Vorschwätzer und Vorregierer gerade rauchen.
Nein, liebe Niemande, euer Problem ist kein deutsches, sondern eines, das gelöst werden muss. Und zwar bald.