von Heidi Bohley
Dresden, den 3. Juni 2020
An die Stadtratsmitglieder von RadebeulAufruf zur Verteidigung der Demokratie
Sehr geehrte
Frau Erdmann-Reusch, Frau Oehmichen, Frau Dr. Petzold, Frau Schindler, Frau Dr. Schröter, und Frau Zscheischler,
sehr geehrter
Herr Albert, Herr Dr. Baumann, Herr Bolza-Schünemann, Herr Borowitzki, Herr Buchert, Herr Domasch, Herr Dr. Eppinger, Herr Fourmont, Herr Gey, Herr von Gregory, Herr Große, Herr Hein, Herr Hoffmann, Herr Jacobi, Herr Kaiser, Herr Kraske, Herr Kruschel, Herr Lehmann, Herr Müller, Herr Oehmichen, Herr Prof. Dr. Plessing, Herr Dr. Reusch, Herr Spangenberg, Herr Dr. Schreckenbach, Herr Töpper, Herr Dr. Waidmann, Herr Wendsche, Herr Wittig und Herr Wolf,
kennen Sie den HOMO SOVIETICUS? So nennt man in Osteuropa einen Menschen, dessen Handlungen nicht mehr von den Fragen bestimmt werden was ist GUT oder SCHLECHT, was RICHTIG oder FALSCH - er fragt nur noch: „Was wird von mir erwartet?“ So kommt er zwar einigermaßen unbehelligt durch eine Diktatur, verliert aber seinen freien Willen und die eigene Urteilskraft.
Gemäß den vorgeschriebenen Prozeduren haben sie aus freiem Willen und eigener Urteilskraft den Dichter Jörg Bernig als Ihren künftigen Kulturamtsleiter gewählt – mehrheitlich, d.h. nicht alle von Ihnen haben sich für ihn ausgesprochen.
Da ich selbst eine 10jährige Erfahrung in Kommunalpolitik habe (1990 bis 2000 Stadträtin in Halle/Saale, davon 5 Jahre Fraktionsvorsitzende), weiß ich, dass nach der Ausschreibung die Kandidaten ausführlich auf ihre Eignung geprüft und persönlich befragt werden. Am Ende steht die Wahl, deren Ergebnis auch von den Unterlegenen zu respektieren ist. So geht Demokratie. Das wollten wir 1989. Zugegeben, das ist oft mühselig und es geschieht durchaus auch, dass eine Mehrheit sich irrt: ob Erfolg oder Irrtum wird sich aber erst daran zeigen, wie der Gewählte das neue Amt ausfüllt. Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier so belehrend bin - Sie wissen das ja selbst und haben bisher alles richtig gemacht!
Nun sind Sie aber in eine Zwickmühle geraten:
Menschen, die sich selbst Kulturschaffende nennen, verlangen von Ihnen, dass Sie eine Wahl rückgängig machen, demokratische Regeln über Bord werfen und stattdessen den Erwartungen einer durch keine Wahl legitimierten, kleinen aber lautstarken Menge folgen.Beunruhigt frage ich mich, welche Art Kultur wollen diese Schaffenden schaffen, wenn sie frei gewählten Ratsmitgliedern die Fähigkeit absprechen selbst verantwortlich darüber zu entscheiden, was für das Wohl ihrer Stadt gut ist – dafür wurden nur SIE von den Bürgerinnen und Bürgern ihrer Stadt gewählt.
Bleiben Sie standhaft und stehen Sie zum gegebenen Wort! Respektieren Sie sich selbst und das Amt, das sie ausfüllen. Radebeul steht gerade im Licht der Öffentlichkeit und Ihre Entscheidung wird dazu beitragen, ob das Wählervertrauen in die Demokratie beschädigt oder gestärkt wird.
Mit freundlichen Grüßen
Heidi Bohley
Diesen Brief sandte ich am 3.Juni 2020 an Kommunal- und OB-Büro mit der Bitte um Weiterleitung an die Abgeordneten. Einer von 36 Abgeordneten antwortete, was wohl bedeutet, dass der Brief die Empfänger erreicht hat.
Am 15.Juni 2020 entschuldigte sich der Oberbürgermeister von Radebeul bei Jörg Bernig und Gabriele Lorenz »für die öffentliche Beschädigung«. Er sprach von einer Spaltung der Stadt, die Frau Lorenz hoffentlich überwinden könne. (https://www.mdr.de/sachsen/dresden/dresden-radebeul/stadtrat-radebeul-kulturamtsleiter-demonstration-100.html)
Was war geschehen?
Jörg Bernig, parteilos, Bürger von Radebeul, Autor und Kunstpreisträger der Stadt, war am 22.Mai 2020 in freier und geheimer Wahl mit einer Mehrheit aus drei Fraktionen zum neuen Kulturamtsleiter gewählt worden. Durch Indiskretion aus den Reihen der Wahlunterlegenen wurde das Ergebnis bereits vor der offiziellen Verkündung bekannt.
Auf dieser Grundlage initiierte ein ortsansässiger Jazzmusiker einen Offenen Brief gegen die Wahl von Bernig, den 426 Menschen, überwiegend aus dem Kulturbereich, unterzeichneten. (Stand 10.6.2020) Bernig sei neurechts und habe in der Vergangenheit mit islamkritischen Äußerungen »Wut und Hetze in der Bevölkerung geschürt«. (Offener Brief Radebeuler Kunst- und Kulturschaffender sowie Kulturliebhaber, zur Wahl Dr. Jörg Bernigs zum neuen Kulturamtsleiter vom 22.05.2020; https://radebeuler-kultur.de/)
Der Oberbürgermeister gab dem Protest nach, legte Widerspruch gegen das Votum des Stadtrats ein und forderte ihn auf, die Wahl zu wiederholen. Da der bereits gewählte Bernig nicht bereit war ein zweites Mal zu kandidieren, wurde die im Mai unterlegene Gabriele Lorenz am 15. Juni 2020 in Abwesenheit zur neuen Kulturamtsleiterin gewählt. Ist der Radebeuler Skandal damit beendet?
Wofür genau hat sich denn der Oberbürgermeister überhaupt entschuldigt?
- Bei Gabriele Lorenz, dass sie nicht bereits bei der ersten Wahl eine Mehrheit auf sich vereinigen konnte?
- Bei Jörg Bernig, dass er als Oberbürgermeister dem öffentlichen Druck nicht standgehalten habe und – statt den Respekt vor demokratischen Wahlergebnissen einzufordern - sein Vetorecht bemüht habe, um ein Wahlergebnis zu korrigieren, das den Unterlegenen missfallen hatte?
- Dass er in die Auseinandersetzungen nach der Wahl nichts eingebracht habe, was zu Bernigs Gunsten vorlag oder erklärt habe, mit welchem Kulturkonzept für Radebeul Bernig eine Mehrheit der Stadträte überzeugen konnte?
Wer von den Protestierenden kannte überhaupt die Bücher des Autors? Schlossen sich die Unterzeichner blind einem Stichwortgeber an, dem ein nicht näher definiertes ›neu-rechts‹ ausreichte, um einen Menschen und sein Werk zu diskreditieren? Dieser Rufmord ist zwar schlimm und schadet der Person, wird aber kaum das schriftstellerische Werk beschädigen wenn es die Qualität hat, für sich selbst zu stehen.
Der eigentliche und weitreichendere Schaden besteht in der Missachtung der Radebeuler Bürger, die ihren Stadtrat in freier und geheimer Wahl in dieser Zusammensetzung gewählt haben. Abgeordnete werden gewählt, um in einem begrenzten Zeitraum Entscheidungen im Interesse ihrer Wähler zu treffen. Machen sie das schlecht, riskieren sie bei der nächsten Wahl eine Niederlage.
Der Offene Brief des Schlagzeugers wäre also VOR der Wahl fällig gewesen, dann hätte er in den Fraktionen beraten werden können. Aber danach ist gewählt wer gewählt ist. Das ist zu akzeptieren.
Der Trommler hingegen meint, man »müsse nicht in jede Niederung schreiten, nur weil sie demokratisch legitimiert sei«. (Welt am Sonntag, 14.06.2020, Nr. 24, S. 47) Da braucht er wohl ein bisschen Nachhilfe in politischer Bildung. Allerdings nicht nur er.
Es war ja die Bundeskanzlerin höchstpersönlich, die kürzlich die Wahl eines FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten von Thüringen »unverzeihlich« nannte und allen Ernstes forderte, die Wahl müsse »rückgängig« gemacht werden. Da ihr dazu die Befugnis fehlt, eilte – bereit zur Unterwerfung – der FDP-Parteivorsitzende an den Ort des Geschehens und machte Druck – der gewählte FDP-Ministerpräsident trat ›freiwillig‹ zurück.
Und noch etwas wurde in Radebeul sichtbar: Im ›Kampf gegen rechts‹ ist mit Fairness nicht zu rechnen. Da heißt es ALLE GEGEN EINEN und die Angst wird spürbar, nur ja nicht selbst Opfer dieses Furors zu werden.
Wie sonst wäre das Verhalten der Präsidentin des PEN-Zentrums Deutschland e.V. Regula Venske zu erklären, die in einem Statement ihrem Vereinsmitglied (seit 2005) Jörg Bernig nahelegte »bitten wir Herrn Bernig zu prüfen, inwieweit er seine Verpflichtung gegenüber der PEN-Charta wahrnehmen kann, und ggfs. die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.« (https://www.pen-deutschland.de/de/2020/05/25/statement-des-pen-praesidiums-zu-joerg-bernig/)
Sie möchte ihn offenbar loswerden, aber ein Rauswurf ist nicht so einfach, da müsste ein begründeter Vorwurf erhoben werden, denn laut §11 der Vereinssatzung
Aber wie soll Bernig überhaupt gegen die PEN-Charta verstoßen haben?
Die Charta des International PEN:
Die PEN-Charta gründet sich auf Resolutionen, die auf internationalen Kongressen angenommen worden sind, und soll wie folgt zusammengefaßt werden.
Der PEN-Club vertritt die folgenden Grundsätze:
1. Literatur kennt keine Grenzen und muß auch in Zeiten innenpolitischer oder internationaler Erschütterungen eine allen Menschen gemeinsame Währung bleiben.
2. Unter allen Umständen, und insbesondere auch im Kriege, sollen Werke der Kunst, der Erbbesitz der gesamten Menschheit, von nationalen und politischen Leidenschaften unangetastet bleiben
3. Mitglieder des PEN sollen jederzeit ihren ganzen Einfluß für das gute Einvernehmen und die gegenseitige Achtung der Nationen einsetzen. Sie verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhaß und für die Hochhaltung des Ideals einer in einer einigen Welt in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.
4. Der PEN steht für den Grundsatz eines ungehinderten Gedankenaustauschs innerhalb einer jeden Nation und zwischen allen Nationen, und seine Mitglieder verpflichten sich, jeder Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung in ihrem Lande, in der Gemeinschaft, in der sie leben, und wo immer möglich auch weltweit entgegenzutreten. Der PEN erklärt sich für die Freiheit der Presse und widersetzt sich jeglicher willkürlichen Zensur in Friedenszeiten. Er steht auf dem Standpunkt, daß der notwendige Fortschritt in der Welt hin zu einer höher organisierten politischen und wirtschaftlichen Ordnung eine freie Kritik gegenüber Regierungen, Verwaltungen und Institutionen zwingend erforderlich macht. Und da die Freiheit auch freiwillig geübte Zurückhaltung einschließt, verpflichten sich die Mitglieder, solchen Auswüchsen einer freien Presse entgegenzuarbeiten, wie wahrheitswidrige Veröffentlichungen, vorsätzliche Fälschungen und Entstellungen von Tatsachen für politische und persönliche Ziele.(https://exilpen.org/pen-charta/)
Punkt 4 beschreibt genau die Position des streitbaren Autors Jörg Bernig:
Kann man von der Präsidentin einer Autorenvereinigung (PEN= Poets, Essaysts and Novelists ) nicht erwarten, dass sie sich mit dem Vorwurf gegen ein Vereinsmitglied ›Wut und Hetze in der Bevölkerung zu schüren‹ anhand seines Werkes auseinandersetzt und den Autor gegen unberechtigte Kritik verteidigt? Oder – falls sie zu einem anderen Schluss kommt – Verfehlungen konkret belegt?
Da Regula Venske das nicht tut, verstößt dann nicht eher sie gegen die PEN-Charta und sollte ihren Rücktritt erwägen? Ob Frau Venske bewusst ist, in welch unheilvolle Tradition der Ausgrenzung und Stigmatisierung von Autoren sie sich stellt?
Der Verein, dem sie heute vorsteht, entstand 1998 durch die ungeprüfte Blockübernahme des PEN-Zentrums der DDR in das Deutsche PEN-Zentrum der Bundesrepublik. Der DDR-PEN hatte sich nie gegen Berufsverbote, geschweige denn Verhaftungen missliebiger DDR-Autoren eingesetzt. Einzutreten ›gegen jede Art der Unterdrückung der Äußerungsfreiheit in ihrem Land‹ wäre nach der Charta seine ureigenste Pflicht gewesen. Die Aussicht, mit jenen Ost-PEN-Mitgliedern, die im Einvernehmen mit der SED andere Autoren ausgegrenzt hatten, an einem Tisch sitzen zu sollen, war für viele unerträglich. Nach hitzig geführten Diskussionen war absehbar, aus Rücksicht auf die zu übernehmenden Mitglieder, würde die Vergangenheit kaum ernsthaft aufgearbeitet werden. (Vgl. Udo Scheer: Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition, Jaron Berlin 2007)
Die amtierende Präsidentin des westdeutschen PEN Ingrid Bachér und in der Folge viele dissidentische DDR Schriftsteller traten unter Protest aus – darunter Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Edgar Hilsenrath, Freya Klier, Günter Kunert, Reiner Kunze, Herta Müller, Armin Müller-Stahl, Utz Rachowski, Lutz Rathenow, Hans-Joachim Schädlich und Udo Scheer.
Sie fanden im PEN- Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland (PEN Centre of German-Speaking Writers Abroad – https://exilpen.org/geschichte/), das 1948 aus dem EXIL-PEN hervorgegangen war, eine geistige Heimat.
Was nur wenig bekannt ist:
Bis heute existieren in Deutschland diese beiden PEN-Gruppen nebeneinander. Der Venske-Verein gut ausgestattet mit Fördermitteln und Mitarbeitern, der andere klein, finanziell schmal aufgestellt mit selbstausbeuterischem Engagement der Autoren.
Frau Venske spricht also durchaus nicht für alle deutschsprachigen PEN-Mitglieder, auch wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung den Anschein hat.
Wohin also läuft der Hase in diesem Land? Wird sich die Ansicht des sieghaften Radebeuler Schlagzeugers Günther »Baby« Sommer durchsetzen, man müsse nicht in jede Niederung schreiten, nur weil sie demokratisch legitimiert sei?
Sagen wir es mit den Worten von Karl Valentin: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist.«