von Peter Brandt

Meine Damen und Herren,
Antifaschisten, Friedensfreunde, liebe Anwesende!

Ich danke für die Einladung, heute bei dieser Gedenkveranstaltung zu sprechen. Vor ziemlich genau 80 Jahren, am 2. September 1945, endete mit der formellen Kapitulation Japans auch in Asien der Zweite Weltkrieg, auch dort mit fürchterlichen Zerstörungen und Menschenopfern. Schätzungen der Gesamtverluste allein des chinesischen Volkes reichen von 20 bis zu 35 Millionen Toten. Die kriegsverbrecherischen Atombombeneinsätze gegen die Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki knapp einen Monat zuvor dienten nicht allein der Beschleunigung des Kriegsendes unter Vermeidung weiterer amerikanischer Verluste – Japan scheint sogar schon vorher bereit gewesen zu sein aufzugeben -, es handelte sich auch und vorrangig um die Demonstration absoluter militärischer Überlegenheit der USA in der kommenden Epoche.

Am 8. Mai dieses Jahres gedachte der Bundestag in einer zentralen Feier des Kriegsendes in Europa und der Befreiung seiner besetzten und unterjochten Teile – einschließlich Deutschlands selbst – vom Nationalsozialismus, jener perfekt-völkermordernden Variante des europäischen Faschismus. In einem jahrzehntelangen, mühsamen Ringen, beginnend um 1960, hat sich auch der westliche Teilstaat deutscher Nation, die Bundesrepublik, nach und nach der Auseinandersetzung mit den Schrecken der unmittelbaren Vergangenheit gestellt. Dabei ist nach und nach einiges durchgedrungen: Kaum jemand leugnet oder verharmlost noch den Versuch, die europäische Judenheit komplett und systematisch auszurotten: die Shoah. Kaum jemand außerhalb des rechten Randes spricht noch ohne Wenn und Aber von der »sauberen Wehrmacht«. Die Älteren unter uns haben das anders erlebt.

Die vor allem in den jüngeren Generationen, auch unter professionellen Historikern, heute verbreitete Neigung, die Deutschen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs als Täterkollektiv zu sehen, scheint mir indessen die Realität der totalitären NS-Diktatur zu verfehlen, wo zwischen den überzeugten Anhängern und den eindeutigen, ihrerseits weltanschaulich differenzierten, Gegnern des Regimes eine ganze Skala von Denk- und Verhaltensweisen vorhanden war.

Natürlich gibt es nach dem hitlerfaschistischen Zivilisationsbruch eine kollektive Verantwortung unseres Volkes, die wir freiwillig übernehmen müssen. Die Vorstellung einer kollektiven Schuld (die nach 1945 die entschiedenen Antifaschisten durchweg abgelehnt haben) belastet nicht nur unmäßig die Millionen normaler kleiner Leute, die keine Möglichkeit hatten, sich z.B. einfach dem Wehrdienst zu entziehen; sie entlastet auch die Funktionäre des Nazi-Reichs, die Verbrecher und Denunzianten und vor allem die großkapitalistischen Unterstützer und Profiteure.

Während der Judenmord nach und nach, zuerst staatsoffiziell, dann auch in der Bevölkerung als monströses Verbrechen anerkannt worden ist, ist das im Hinblick auf die Behandlung der slawischen Völker in weitaus geringerem Maß der Fall – bis heute. Erst im Jahr 2000 begann die Zwangsarbeiterstiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« Entschädigungen auszuzahlen. Rund 20.000 Anträge früherer Sowjetbürger wurden aus formalen Gründen abgelehnt, bevor 2015 der Bundestag für etwa 4000 noch Überlebende eine einmalige Zahlung von 2500 Euro beschloss.

Was die Nazi-Führung mit dem slawisch, vor allem ostslawisch besiedelten Europa vorhatte, lässt sich mit dem Plan der kompletten Judenvernichtung durchaus auf eine Stufe stellen. Weitgehend bekannt ist hier vermutlich die heute angenommene Zahl von 27 Millionen sowjetischer, also hauptsächlich russischer, weißrussischer und ukrainischer Kriegstoter. Geplant war für den Fall des deutschen Sieges die Kolonialisierung der europäischen Sowjetunion, ihre industrielle und landwirtschaftliche Ausplünderung, die Ansiedlung deutscher Kolonisten in großem Umfang, während die Slawen teils nach Sibirien deportiert, teils auf einen sklavenähnlichen Status herabgedrückt werden sollten; und es war – durch die Umlenkung der Getreideernten nach Mitteleuropa – der Hungertod von etlichen Millionen Menschen einkalkuliert. Die Vernichtungspolitik, durchaus mit ökonomischen Zielen kombiniert, wurde seit dem Angriff auf die Sowjetunion unter Bruch des Nichtangriffspakts von August 1939 realisiert, zunächst im systematischen Mord an Juden und kommunistischen Funktionären, dann auch durch die Hungerblockade um Leningrad, heute St. Petersburg.

An diesem Ort stand ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene, die dann hauptsächlich als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Nach der Genfer Konvention von 1929 bzw. 1934, die Deutschland unterschrieben hatte, wäre das Reich verpflichtet gewesen, den Gefangenen eine Versorgung entsprechend der für die eigene Truppe zukommen zu lassen; Arbeitseinsatz wäre nur gegen Lohn zulässig gewesen. Im krassen Gegensatz dazu wurden die im Lauf des Krieges 5,7 Millionen sowjetische Kriegsgefangene durch unzureichende Versorgung, insbesondere Ernährung, und äußerst primitive Unterbringung, durch brutale Behandlung, besonders harte Arbeit und teilweise auch durch gezielte Mordaktionen so stark dezimiert, dass etwa die Hälfte der Gefangenen ums Leben kam. Von den direkt in Deutschland selbst inhaftierten sowjetischen Kriegsgefangenen überlebten nur 630.000.

Ist es angesichts dieser und der anderen angeführten Zahlen und Umstände nicht empörend, dass der russische und der belarussische Botschafter von der bereits erwähnten zentralen Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestags am 8. Mai dieses Jahres ausgeschlossen wurden? Als Begründung hat man die Befürchtung angeführt, eine eventuelle Teilnahme würde die Gefahr einer propagandistischen Vereinnahmung beinhalten angesichts des Ukraine-Kriegs. Was ist eigentlich mit der merkwürdigen Propaganda-Show, die vor allem zu den runden Jubiläen der anglo-amerikanischen Invasion in der Normandie stattfindet und zu der seit 2004 die deutschen Regierungschefs hinzugebeten werden. Als die westalliierten Truppen eine Front im Westen eröffneten, hatte die Sowjetarmee längst die Kriegswende erkämpft – unter schwersten Verlusten – und schickte sich an, die deutsche Heeresgruppe Mitte regelrecht zu zerschlagen. Gewiss: der Sowjetarmee gehörten auch Ukrainer an, aber Rechtsnachfolgerin der UdSSR ist nun mal die Russische Föderation.

Meine Mutter, Jahrgang 1920, in Norwegen geboren, als junge Frau aktiv im Widerstand gegen die hitlerdeutsche Besatzung, dann 1942 über die Berge ins neutrale Schweden geflohen, erzählte mir, wie sie in Stockholm Anfang Februar 1943 zusammen mit anderen Passanten vor einer Litfaß-Säule stand, auf der die Kapitulation der 6. deutschen Armee in Stalingrad angezeigt wurde. Und ein offenkundig sehr wohlhabender, keiner bolschewistischen Sympathien verdächtiger Herr habe zu ihr gesagt: »Diesmal hat Russland die Welt gerettet!«

Liebe Freunde, vor allem im Schatten des Krieges konnten die deutschen Nationalsozialisten, ihre Verbündeten und Helfer ihre monströsen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben. Im Fall der sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945 ist es ganz offensichtlich. Und selbst in Kriegen bzw. aufseiten von kriegführenden Staaten, die keinen verbrecherischen Charakter in sich tragen, geschehen Kriegsverbrechen.

Die Ära der Entspannung im alten Ost-West-Konflikt, sachte beginnend in den 1960er Jahren und nochmals fundamental infrage gestellt in den frühen 1980ern, war stets begleitet von neokolonialen Interventionen, nationalen Befreiungskriegen und Stellvertreterkriegen auf der südlichen Halbkugel. Es gelang aber, mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, möglich geworden durch die bundesdeutschen Ostverträge, in der nördlichen Hemisphäre eine Staatenordnung zu schaffen, die relativ stabil war und im Zentrum der Konfrontation zwischen den Blöcken, in Europa, wo jeder militärische Zusammenstoß in eine atomare Katastrophe zu führen drohte, einen Zustand herbeizuführen, der über eine simple Koexistenz hinausführte.

Doch als aus einer Reihe von Gründen im Osten unseren Kontinents das bestehende System des sog. real existierenden Sozialismus ins Wanken geriet, dann zusammenbrach – bis hin zur Auflösung der Sowjetunion –, erwiesen sich die progressiven oder auch nur konstruktiven Kräfte der westlich-kapitalistischen Welt als zu schwach, eigene Reformimpulse ins Spiel zu bringen und auf zwischenstaatlicher Ebene unter Überwindung beider alten Blöcke eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands zustande zu bringen. Es ist offenkundig, dass ein solcher Weg hauptsächlich von den USA blockiert wurde, um einen aufgrund seiner gleichrangigen Atombewaffnung und seines Rohstoffreichtums immer noch relevanten geopolitischen Konkurrenten auszumanövrieren.

Es ist fast unumstritten, dass Russland Ende Februar 2022 in der Ukraine einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat und diesen seitdem brutal führt. Aber dieser Krieg hat eine längere und eine unmittelbare Vorgeschichte, auch eine innerukrainische Vorgeschichte, sowie einen weltpolitischen Zusammenhang. Alles das ist wesentlich komplizierter, als uns beinahe unisono in den Mainstream-Medien gepredigt wird.

EU-Europa und dessen Mitgliedsstaaten, inzwischen Deutschland vorne weg, haben sich 2022 in die bedingungslose Gefolgschaft der USA begeben und damit jede Möglichkeit ruiniert, eine konstruktive Rolle bei der Wiederherstellung des Friedens zu spielen. Sie stehen heute vor einem Scherbenhaufen. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Haltung des in der Ukraine derzeit militärisch Stärkeren zu bejubeln, aber es gilt, endlich zu begreifen, dass es ohne die Berücksichtigung der elementaren Sicherheitsinteressen Russlands, des flächenmäßig größten und bevölkerungsreichsten europäischen Staates, keinen stabilen Frieden geben kann.

Diese Interessen sind seit 1990, insbesondere seit den 2000er Jahren von der NATO unter Führung der USA immer wieder missachtet worden, und die weltpolitische Lage ist zusätzlich in gefährlicher Weise dadurch verschärft worden, dass man die Rüstungskontrolle hat verfallen lassen. Für Europa ist besonders gravierend die Kündigung des Vertrags über die Abschaffung der atomaren Mittelstreckenwaffen von 1987 durch die erste Regierung Trump, sowie speziell für Deutschland die verabredete Aufstellung hochmoderner, wenngleich zunächst noch nicht atomar bestückter, doch weit nach Russland zielender US-Raketen ab 2026. Anders als vor viereinhalb Jahrzehnten bei der sog. Nachrüstung der NATO hat es keine öffentliche Debatte darüber gegeben, kein Verhandlungsangebot an die andere Seite und keine Befassung des Bundestags.

Man hat den Eindruck, politisierende Offiziere, überforderte Politiker und transatlantisch verbandelte Journalisten überbieten sich darin, den großen Krieg herbeizureden. Die Aufrüstung in großem Stil, die beschlossen worden ist, dient vor allem den Profiten der Rüstungskonzerne, in erster Linie der amerikanischen. Landesverteidigung im eigentlichen Sinn steht gar nicht zur Debatte. Ich sehe die Entwicklung des heutigen Russland durchaus kritisch, auch und besonders gesellschaftlich und innenpolitisch. Es ist aber davon auszugehen, dass vor allem eine neue Entspannung in den Außenbeziehungen den Spielraum für demokratische und sozialemanzipatorische Bestrebungen im Innern Russlands wieder erweitern würde. Die Erzählung eines weltweiten Ringens zwischen den Kräften der freiheitlichen Demokratie und denen der »Autokratie« stimmt hinten und vorne nicht und ist zutiefst destruktiv.

Ich möchte meine Ansprache damit beenden, indem ich Ihrer Arbeitsgemeinschaft für ihre langjährige Arbeit danke. Lassen Sie sich nicht entmutigen! Es ist noch nicht aller Tage Abend. Und alle, die wir von unterschiedlicher ideologisch-politischer Herkunft weltweit für die Erhaltung des Lebens auf der Erde, für ein Leben der Völker in Freiheit, Selbstbestimmung, sozialer Gleichheit und Solidarität eintreten – die Erinnerung an die Ermordeten und Unterdrückten wie auch an die Kämpfer für die Befreiung der Menschheit gehört maßgeblich dazu –, also wir alle sind mehr und stärker, als wir in Stunden der Verzagtheit meinen.

Globkult Magazin

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herausgegeben von
RENATE SOLBACH und
ULRICH SCHÖDLBAUER


Sämtliche Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Urheber. Front: ©2024 Lucius Garganelli, Serie G

 

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