von Steffen Dietzsch

Am 1. Dezember 1934, einem Samstag, nachmittags gegen halb vier, wurde Sergej Mironowitsch Kirow (*1886) an seinem Dienstplatz, im alten Smolny-Institut in Leningrad, von einem jungen Komsomolzen, Leonid Nikolajew (*1904), mit einem Nagant-Revolver russ: Наган) in den Rücken geschossen. Kirow war Leningrader Parteichef (seit 1926, als er Sinowjew abgelöst hatte) und der gegenwärtig neben Stalin populärste Politiker in der Partei; zumal seit Februar 1934, als er auf dem XVII. Parteitag der KPdSU die spontane Sympathie der Mehrheit der Delegierten einstrich. – Mit diesem Attentat begann, wie wir heute wissen, eine neue Verschärfung im alltagsterroristischen Regierungshandeln in der UdSSR (das erst 1953, nach Stalins Tod, zurückgefahren wurde).

Obwohl persönliche Gewalt auch zum zivilen Alltag in der Union gehörte, gerade auch jetzt – seit 1930 – beim Vergesellschaften der Landwirtschaft (Umwandlung der Bauernschaft in Landarbeiter), war ein solcher Mord an einem hohen Funktionär lange nicht vorgekommen. Die letzten Attentate auf führende Kommunisten innerhalb der Sowjetunion fanden statt im Sommer 1918 (als Moissei Uritzki, der Chef der Petrograder Tscheka getötet und Lenin selber schwer verwundet wurde). Selbst wenn Kirow einem trivialen Ehebruchsdrama (er soll eine Liaison mit der Frau des Mörders gehabt haben) zum Opfer gefallen sein sollte, so erweist dieser Mord in der Geheimgeschichte des Bolschewismus seine besondere Symbolik: Am Beginn des jetzt neuen Wegs zur Vollendung des Sozialismus (und damit zur Befreiung der Menschheit) muss vorher wieder ein ›Tod Gottes‹ imitiert werden (die Entlarvung des Judas Bronstein-Trotzki nach zehn Jahren Oktoberrevolution machte zunächst bloß alle Mängel des vergangenen Jahrzehnts deutlich); jetzt muss ein singuläres Verbrechen der alten, dunklen, klassenfeindlichen Kräfte aufgezeigt und gesühnt werden, damit der Neue Bund weiter zur Erlösung fortfahren kann.

Kirow war aber auch machtpolitisch ein willkommenes Opfer: Er hatte eben auf dem Februarparteitag die überwältigende Stimmenmehrheit für die Parteigremien bekommen; damit wäre eine mehr oder weniger dissonanzschwache Überwindung der Versagerstrategie Stalins in Agrar-, Nationalitäten- und Militärfragen möglich gewesen. Kirow kannte zudem, sozusagen aus ›erster Hand‹, die ganz persönlich von Stalin zu verantwortenden gravierenden geopolitischen Fehlentscheidungen vom Sommer 1920, die zur Niederlage im polnisch-sowjetrussischen Krieges führte (dem ›Waterloo‹ des europäischen Kommunismus) und zu den großen Gebietsverlusten in der Westukraine und in Westbjelorussland. Zu den Friedensverhandlungen mit dem polnischen Sieger in den Verhandlungen von Riga 1921 wurde Kirow (neben Adolf Joffe, Suizid 1927) als Verhandlungsleiter berufen. An diese eher schmachvolle Arbeit erinnert die Gedenkschrift Kirows, die noch im Dezember 1934 in Moskau in deutscher Sprache erschien. Ein namentlicher Nachruf von über dreißig führenden Militärs in jener Gedenkschrift zeigt unerwartet etwas von der Leidensgeschichte der mit dem Kirow-Mord beginnenden Vollendung des Sozialismus: Von den 32 Unterzeichnern haben nur zwei die nächsten fünf Jahre überlebt – Woroschilow und Budjonny (deren Dilettantismus dann 1941 ganze russische Armeen zum Opfer fielen).