von Lutz Götze

Wer die Seele der Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika erahnen will, mache sich auf den Weg nach Arlington oder, besser noch, nach Pearl Harbor. Arlington, vor den Toren Washingtons gelegen, birgt die letzte Ruhestätte zahlreicher US-Präsidenten. Ein Flaggenmeer, doch gleichwohl Würde, prägen den Ort; die Besucher schweigen ergriffen.

In Pearl Harbor, außerhalb Honolulus, ist alles anders. Hier ereignete sich in der Nacht vom sechsten auf den siebenten Dezember 1941 jener verheerende Angriff japanischer Bomber und Kampfflugzeuge, bei dem weit über zweitausend amerikanische Matrosen und Soldaten ihren Tod fanden. Etliche Schiffe der US-Pazifikflotte, darunter die Arizona, gingen in Flammen auf. Das Inferno erschüttert noch heute den Besucher, dem im Filmtheater die Dokumentation gezeigt wird. Eine martialische Stimme erläutert die Bilder, korrekt im Sinne der US-Geschichtsdeutung: die unsäglichen Verbrechen der japanischen Armee in China und Südostasien während der Dreißigerjahre, das Schmieden der Achse Berlin-Rom-Tokio, die Aufrüstung der Japaner im Pazifik und die Eroberung zahlreicher Inseln wie der Philippinen, der Salomonen und anderer Inseln des melanesischen Archipels, schließlich die Vorbereitung und Durchführung des Angriffs auf den amerikanischen Flottenstützpunkt.Das alles ist korrekt.

Was fehlt, ist die Darstellung der zeitgleich erfolgten Aufrüstung der USA, der Verlegung der Pazifikflotte nach Pearl Harbor in den Dreißigerjahren und der Besetzung zahlreicher pazifischer Inseln. Im Film werden die USA als Botschafter des Friedens dargestellt, die ein einziges Ziel gehabt hätten, nämlich den Krieg im Pazifik zu verhindern. In Wahrheit tobte über den Salomonen, den Marshall-Inseln, den Gilbert-Inseln und den Marianen einer der blutigsten Luftkriege des Zweiten Weltkriegs.

Lediglich in einem Nebensatz erwähnt der Film, dass die USA vor einem japanischen Angriff gewarnt worden waren. Eigene und fremde Geheimdienste hatten japanische Flottenbewegungen, darunter Flugzeugträger als neue Waffe, gemeldet, die Richtung Hawaii steuerten. Die Warnungen wurden nicht ernst genommen; am Abend des 6. Dezember lagen beinahe alle Schiffe der Pazifikflotte im Hafen, die Mannschaften feierten ein rauschendes Fest und gingen spät schlafen. Eine Stunde später begann das Inferno.

Die Atombombe

Vor allem aber gibt es kein einziges Bild oder Wort im Film über die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki am sechsten und neunten August 1945. Verschwiegen werden die Gräuel damals und die Zahl der japanischen Opfer bis heute: in den ersten Tagen weit über 100 000 Verstrahlte und Verbrannte, bis heute mehr als eine Viertelmillion Tote. Jedes Jahr kommen weitere Opfer in Japan dazu; die meisten sterben an Krebs.

Kein Wort darüber in Pearl Harbor! Eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte wird schlicht unterschlagen. Die Erinnerung daran und an die immense Schuld der Vereinigten Staaten von Amerika passt nicht in die Geschichtsfälschung, deren einziges Ziel darin besteht, Ruhm und Ehre der US-amerikanischen Streitkräfte zu vermitteln. Die Besucher sollen mit der Botschaft nach Hause gehen, ihr Land und ihre Regierung seien die besten und einzigen moralischen Mächte der Welt. Schuld an Kriegen und Völkermorden seien immer die anderen!

Im Souvenirladen neben dem Ausgang der Gedenkstätte liegen die üblichen peinlichen Devotionalien aus. Doch findet sich ein Buch, das sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzt, ob der Einsatz der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki wirklich, wie die offizielle Geschichtsinterpretation suggeriert, den Krieg vorzeitig beendete und weitere amerikanische Opfer verhinderte. Der Autor bestreitet die These und nennt gute Gründe für seine Auffassung. Die Verkäuferin, befragt nach dem Interesse der Besucher an dieser Untersuchung, erklärt lakonisch, das Buch liege seit Jahren im Regal. Ich sei der erste, der es in die Hand nehme.

Interkulturelles Lernen will das gegenseitige Verständnis von Fremden und Gegnern verbessern. In Pearl Harbor findet das Gegenteil statt.

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