von Gunter Weißgerber

Meine Erinnerungen daran

Am 8. Oktober schrieb ich mich in der Michaelis-Kirche am Nordplatz in Leipzig bei Michael Arnold 1989 innerhalb der dortigen Vorstellungsveranstaltung des »Neuen Forums« (NF) ein. Die Stimmung dieser Zusammenkunft war geprägt von den Auseinandersetzungen des Vortages in Ostberlin, Dresden und Leipzig, niemand ahnte den kommenden friedlichen Ausgang der Leipziger Montagsdemonstration des nächsten Tages, dem 9. Oktober 1989.

Das »Neue Forum« war aber nicht mein Ziel. Unterstützen wollte ich es, aber tief im Herzen war ich seit Kindheitstagen der Partei von Lasalle, Bebel, Ebert, Scheidemann, Wels, Schumacher, Brandt und Schmidt verbunden. Sozialdemokrat in einer sozialdemokratischen Partei wollte ich sein und als solcher mit einer solchen Partei die Freiheit in der DDR mitsamt den anderen oppositionellen Gruppen gewinnen und in einer deutschen Einheit, die ich mir nur in der »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) und in der NATO vorstellen konnte, für immer absichern. Das war mein Plan. An dem blieb ich dran. Von Michael Arnold bekam ich auch die Adresse von Ibrahim Böhme, dem damals bekanntesten Ost-Sozi und fuhr am 12. Oktober 1989 mit einem Kollegen zu Böhme nach Ostberlin, um endlich Kontakt zu den ostdeutschen Sozialdemokraten zu bekommen. Böhme trafen wir in seiner offensichtlich gut oberservierten Wohnung nicht an und zogen unverrichteter Dinge wieder ab.

Ende Oktober bekam ich dann im Pfarrhaus der Nikolaikirche die Kontaktadressen von Andreas Bertram und Mike Dietel, die sich zu noch sehr gefährlichen Zeiten nicht scheuten, für die kommende Sozialdemokratie mit ihren Namen aus der Deckung zu kommen. Andreas Bertrams Wohnung lag näher und so machte ich ihm sogleich meine Aufwartung. Andreas erzählte, dass es wenige Tage vorher ein Treffen einer Initiativgruppe zur Gründung der SDP in Leipzig gegeben habe und diese Gruppe sich in Kürze wieder treffen werde. Dann würde es konkret um den Gründungstermin und den –ort gehen. Er nahm den 7. November 1989 an. So war es dann auch.

Die Gründungsveranstaltung war eine zähe und ungewohnte Angelegenheit. Als historisch Belesener dachte ich ›Hauptsache dabei gewesen!‹, alles andere ist egal. Jetzt wird etwas daraus gemacht, gemeinsam mit Gleichgesinnten. Damals hatte ich keine Ahnung davon, dass auch unter Gleichgesinnten jede Menge Konflikte lauern (müssen). Jede inhaltliche und personelle Entscheidung bedarf auch unter anständigen Leuten des Disputs. Das ist eine Erkenntnis, die von aus der Diktatur Kommende erst noch gewinnen mussten. Vor allem erinnere ich mich der trockenen Ausführungen zur Handhabung der Geschäftsordnung. Was die meisten diesbezüglich eher naiven Anwesenden jedoch sofort verstanden, waren die Missbrauchsmöglichkeiten auch durch scheinbar Gleichgesinnte. Wer moderiert, bestimmt den Ablauf und die Redner und deren Reihenfolge: Organisationsfragen sind Machtfragen. Das war eine sehr bittere Erkenntnis und die erste kalte Dusche für viele Enthusiasten.

Die jungen Vikare waren uns hier noch eindeutig voraus. Insgesamt dauerte der notwendige Aufholprozess in Organisationsfragen mehrere Monate, in denen personelle Entscheidungen fielen, die erst Jahre später von der Parteimehrheit ausgeschwitzt werden konnten. 1994 konnten wir erstmals von einem ›PDS-freien Unterbezirksvorstand‹ in der Region Leipzig-Borna sprechen. Bis dahin gab es immer einige Neusozis im Vorstand, die sich von der Vorstellung einer reformierten SED als natürlicher Partner der SPD nicht lösen konnten, denen es am nötigen sozialdemokratischem Wissen und Selbstbewusstsein mangelte. Jene sahen die SPD durch die Brille ihrer SED-PDS-Gegner.

Abends nach Hause gekommen, schrieb ich sofort einen kleinen Aushang für die Kirchgemeinde in Leipzig-Probstheida. Leider lehnte der Kirchenvorstand das ab. Es war eine unangenehme Überraschung: Die wollten sich heraushalten!? Wenige Jahre später, mit der Öffnung der Stasiakten, hatte ich eine Erklärung. Diese Kirchgemeinde war die des ruchlosen IMs Pfarrer Hans-Georg Rausch. Obwohl dieser bereits 1984 die DDR nach Hessen verließ, könnten wichtige Mitglieder seiner alten Gemeinde noch immer seiner Denk-Schule nahegestanden haben, oder sie befürchteten für die kommende Zeit zu viel Offenlegung? Keine Ahnung.

Rückblickend bleibt festzustellen, die Akzeptanz der Leipziger SPD in der Bevölkerung wuchs über 15 Jahre in Zusammenhang mit ihrem erkennbaren Selbstbewusstsein, auf die SED-PDS nicht angewiesen zu sein, stetig an. Mit dem Kippen der politischen Orientierung pro SED-PDS in der sächsischen SPD in späteren Jahren, rutschte die Leipziger SPD zwangsläufig auf das Niveau der SPD-Regionen in Sachsen, die von 1989 an in der SED ihren natürlichen Partner sahen.

Drei herausgehobene Diskussionen vom 7. November 1989 sind mir in Erinnerung. Zuerst wurde die Frage erörtert, weshalb sich eine Sozialdemokratische Partei in Deutschland SDP nennen soll? Für die meisten Anwesenden war das grober Unfug und vor allem ein falsches Signal! Der Zug sollte in Richtung Einheit gehen. Wie kann denn das dann mit der SPD von Brandt und Schmidt im Westen zusammenpassen? Wir ließen uns breitschlagen, den Namen SDP vorläufig zu akzeptieren. Die Freunde in Schwante hatten das ›Auto‹ am 7. Oktober gebastelt, sie waren die Ersten, dann sollte es eben vorläufig so heißen, das Kind.

Uns allen war klar, SDP würde diese Partei nicht lange heißen können. Kein Mensch würde das draußen auf Dauer verstehen. Im Übrigen hatten wir keine Ahnung davon, wie ablehnend wichtige Teile der West-SPD auf die im Angriffsmodus gegen die SED entstehende Ost-SPD reagierten. Wäre das am 7. November 1989 in Leipzig bekannt gewesen, zu einer SDP/SPD-Gründung wäre es an dem Abend wohl nicht gekommen. Zu groß wäre der Abscheu über die Lafontainisten, Bahrs und Epplers gewesen.

Der zweite grundsätzliche Punkt war die Festlegung, ob sich die SDP, wie die SED, in den Betrieben organisieren solle. Das Ergebnis war eindeutig: Parteien haben in Betrieben nichts zu suchen. Betriebe als Transmissionsriemen von Parteien waren eine abstoßende Vorstellung.

Beim dritten Thema ›Arbeitsgemeinschaften‹ war eine ›AG Geschichte‹ nicht vorgesehen, was bei mir auf große Verwunderung stieß. Die älteste demokratische Partei Deutschlands will und soll sich nicht mit Geschichte beschäftigen? Und das gerade vor dem Hintergrund der in Bälde mit Wucht auf die Sozialdemokraten einstürzenden Diskussionen um die Diktaturen des 20. Jahrhunderts und des Anteils der (SED-)Kommunisten daran? Durch die SDP-Gründung einerseits den Mythos der SED als einer ›Einheitspartei‹ von Sozialdemokraten und Kommunisten brachial zerstören und sich dann andererseits nicht um die historischen Zusammenhänge kümmern? Würden solche geschichtlichen Zusammenhänge vielleicht Kooperationen mit der SED auf einem Dritten Weg behindern? Das durfte nicht sein!

Das Auditorium folgte meiner Argumentation mit großer Mehrheit und eine AG Geschichte wurde beschlossen. Eine historisch sprachlose SDP/SPD würde es jedenfalls in Leipzig und Umgebung nicht geben!

 

 

 

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