von Christoph Jünke
Erst seit wenigen Jahren wird in Österreich der Erinnerung an das sogenannte ›Rote Wien‹ staatspolitisch-museale Bedeutung zugesprochen. Trotz der Tatsache, dass seine sozialdemokratischen Erben nach dem Zusammenbruch des großdeutschen Dritten Reiches eine mitregierende Partei im nun dauerhaft eigenständigen Staate Österreich geworden waren, wurde des in der Zwischenkriegszeit von der alten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (heute: Sozialdemokratische Partei Österreichs – SPÖ) betriebenen Wiener ›Sozialismus in einer Stadt‹ kaum gedacht. Zum schulischen Lehrplan der Fünfziger- und Sechzigerjahre gehörte diese Zeit jedenfalls nicht.
Erst mit dem gesellschaftlichen Aufbruch von ›1968‹ und der an diesen anschließenden Ära Bruno Kreiskys wurde das Thema von einer neuen Generation politisch und wissenschaftlich Aktiver wiederentdeckt – flankiert und getragen nicht zuletzt von einem auch jenseits der österreichischen Grenzen neu entflammten Interesse an der Theorie und Praxis des sogenannten ›Austromarxismus‹. Zahllose Schriften und wissenschaftliche Publikationsreihen arbeiteten die Entwicklungen und Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit umfassend auf und begründeten eine längere Tradition von Ausstellungen und Ausstellungsliteratur, die erst im Übergang zu den Neunzigerjahren langsam zu verebben begann. Das politische und historische Interesse jedoch war nun in der Welt und wirkte nicht zuletzt auch touristisch. Reiseführer führten schon damals zu den vielfältigen Orten einer zum Teil noch bemerkenswert sichtbaren Vergangenheit.
So war der noch heute als sozialer Gemeindebau fungierende, in den Jahren 1926 bis 1930 errichtete Karl-Marx-Hof im 19. Wiener Bezirk bereits seit langem ein touristischer Magnet für Geschichtsinteressierte, als am 1. Mai 2010 in einem seiner Nebengebäude ein kleines ständiges Museum zur Geschichte des roten Wien eröffnete. Die Initiative hatte eine kleine Gruppe von Privatpersonen ergriffen, doch finanziell möglich wurden der teure Umbau und der seitdem dauerhafte Museumsbetrieb vor allem durch öffentliche Gelder.
In den oberen beiden Stockwerken des alten Waschsalons befindet sich seitdem jener sogenannte ›rote Waschsalon‹ (www.dasrotewien-waschsalon.at), in dem die Besucher und Besucherinnen nicht nur den typischen Grundriss und Aufbau einer Sozialwohnung des alten Karl-Marx-Hofes sinnlich nachvollziehen können. In der regelmäßig von thematischen Sonderausstellungen ergänzten Dauerausstellung kann man auch einiges zum kommunalen Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit lesen, betrachten oder sich erzählen lassen. Mehr noch entfaltet sich hier das ganze Panorama des roten Wien, seiner Leistungen wie Probleme, auf kleinem Raum. Die Geschichte des sozialdemokratischen Wien wird ebenso erzählt und illustriert wie die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung und ihrer so vielfältigen Vereins-, Fest- und Feierkultur.
Während die heutigen Bewohner des Karl-Marx-Hofes im Erdgeschoss noch immer ihre Wäsche waschen können, erfährt der Museumsbesucher der obigen Stockwerke, wer Victor Adler oder Karl Seitz waren; wie der Schulreformer Otto Glöckel die Wiener Schulreform in Gang brachte und Frauen den Zugang zu den Universitäten öffnete; wie damalige Arbeiterbünde den Alkoholkonsum bekämpften und Sportvereine für die breiten Massen gründeten; welche Rolle Arbeitergesangsvereine, Arbeitertheater und der Arbeiter-Radio-Bund spielten; dass im roten Wien internationale Jugendtreffen mit mehreren Tausend TeilnehmerInnen und gar eine Arbeiterolympiade stattfanden; und mit welchen finanzpolitisch originellen Methoden der sozialdemokratische Finanzrat Hugo Breitner (ein gelernter Bankier) all dies ermöglichte. Deutlich wird zudem, dass und wie all dies nicht unumstritten blieb und zu politischen Auseinandersetzungen und dem Aufstieg jenes sogenannten ›Austrofaschismus‹ führte, der das in Westeuropa in dieser Form einmalige Experiment eines ›Roten Wien‹ mit Terror und Blut beendete, bevor sich Österreich vier Jahre später an das nationalsozialistische Großdeutschland anschließen ließ. Kleine Filmchen, Fahnen und Devotionalien sind entsprechend ebenso zu betrachten wie Propaganda- und Aufklärungsbroschüren oder Flugblätter und Handzettel aus dem illegalen Kampf der Dreißigerjahre.
Wer nach den ein bis zwei Stunden kurzweiliger Unterhaltung und historischer Aufklärung hinaustritt aus dem ›roten Waschsalon‹, sieht den sogenannten Superwohnblock des Karl-Marx-Hofes, welchen man dann durchschreitet, mit etwas anderen Augen an. »Wenn wir einst nicht mehr sind«, hatte der sozialdemokratische Bürgermeister Karl Seitz bei der Eröffnung des Karl-Marx-Hofes 1930 gesagt, »werden diese Steine für uns sprechen.« – Heute zieren diese Worte ein kleines Denkmal am Rande der Wohnanlage.
In der Tat: Verkehrstechnisch gut gelegen, bietet der sogenannte Superwohnblock einen anschaulichen Eindruck vom Geist jener Zeit. Überaus lang gestreckt – mit einem Kilometer Länge gilt er als der längste zusammenhängende Wohnblock Europas – atmet der kantig anmutende, fünfstockige Karl-Marx-Hof viel vom Funktionalismus der in den Roaring Twenties aufkommenden Neuen Sachlichkeit. Stark geprägt wird der ästhetische Gesamteindruck dabei von jenem durchgehend zweiteiligen Fassadenbau, der den in schwachem Gelb gehaltenen Grundkörper mit einem in rötlichem Putz gefassten, mäandernden System von Balkonen und Loggien verbindet und auf ornamentale Verzierung weitgehend verzichtet. In der Mitte des Wohnkomplexes wird dieses System durchbrochen von einem zurückgesetzten Baukörper, der Platz macht für große Bogendurchfahrten und einen großzügigen öffentlichen Vorplatz, der den Blick öffnet auf Bogenreihen und Ecktürme sowie vier übergroße, farbige Keramikfiguren, die die Motive von Aufklärung, Befreiung, Kinderfürsorge und Körperkultur – Sinnbilder des ›Roten Wien‹ – symbolisieren sollen. Nur ein knappes Fünftel der über 150 000 Quadratmeter Fläche wurde mit diesem monumentalen Häuserblock bebaut. Man legte viel Wert auf umfangreiche Grünanlagen in Form von Innenhöfen und integrierte Fürsorgeeinrichtungen wie zwei Kindergärten, eine Zahnklinik und eine Mütterberatungsstelle, ein Jugendheim und eine Volksbibliothek. Ein eigenes Postamt fehlte ebenso wenig wie eine Apotheke sowie zahllose Geschäftslokale und Gaststätten.
Mit dem kantigen Blockbau nach außen Wehrhaftigkeit signalisierend, wollte man nach innen den Eindruck einer kleinen Stadt in der Stadt erwecken, eines eigenen Reiches für die kleinen Leute, die hier nicht mehr in den alten ›Mietskasernen‹ oder in Form der früheren Schlafgängerei dahinvegetieren sollten, sondern vielmehr würdevoll und selbstbewusst und für kleines Geld leben konnten. Die einzelnen Wohnungen dieser nüchtern-imposanten Sachlichkeit waren mit 42 Quadratmeter Wohnraum zwar, für heutige Gewohnheiten, recht klein (einige dieser Kleinwohnungen sind heute zu größeren Wohnungen zusammengelegt), doch damals bedeuteten sie eine wahre Revolution in den Wohnverhältnissen. Man hatte fortan nicht nur seine eigenen vier Wände, man hatte vielmehr zwei Räume: eine Wohnküche und ein weiteres Zimmer, abgerundet von einem eigenen kleinen WC und Flurvorraum. Alle Zimmer hatten Fenster und viele Wohnungen auch einen kleinen Balkon. Ausgestattet waren die einzelnen Wohnungen schließlich (und auch dies war neu für die unteren Schichten) mit fließendem Wasser, Elektrizität und einer modernen Gasheizungsanlage. Zum Baden und Wäschewaschen ging man in die separaten Gemeinschaftsbäder und die Zentralwäscherei.
Auf diese Weise lebten im Karl-Marx-Hof fünf- bis sechstausend Menschen in fast 1400 Wohneinheiten, unter einem weitgehenden Mieter- und Kündigungsschutz und finanziert aus der seit Anfang der Zwanzigerjahre neu entrichteten Wohnungsbausteuer, einer stark progressiv gestaffelten Steuer auf Wohneigentum und Mieten. Diese führte schnell dazu, dass sich privater Wohnungsbau kaum noch rechnete, Boden- und Bauspekulation gleichsam austrockneten.
Bis Anfang der Dreißigerjahre konnten auf diesem Wege 380 Wiener Gemeindebauten mit mehr als 64000 Wohnungen in kleineren und größeren Wohnkomplexen errichtet werden – nicht an jenen anderen Ortes zu Gettos mutierten Stadträndern, sondern mitten in der Stadt, über alle Stadtviertel verteilt. Und so wie man sich bei dieser Vielzahl von städtischen Wohnanlagen architektonisch plural gab und sich, je nach Architekt und Bau, zwischen architektonischem Pragmatismus und Radikalismus, zwischen Konservatismus und Avantgardismus bewegte, war man auch bei der Benennung der diversen Gemeindebauanlagen ideologisch tolerant und plural: Bürgerliche Klassiker wechseln sich mit linken Ahnherren ab, einen Goethehof gibt es ebenso wie einen Lassallehof oder einen Victor-Adler-Hof, einen Karl-Liebknecht-Hof ebenso wie einen George-Washington-Hof.
Dass es dabei den Wiener Sozialdemokraten mit ihrem international beachteten Wohnungsbauprogramm (auf großen internationalen Fachkongressen trafen sich damals die führenden Architekten Europas in Wien und formten mit ihren Diskussionen den Geist ihrer Zeit) um mehr als bloße Architektur und mehr als die bloße Bekämpfung von sozialgeschichtlich verursachter und kriegsbedingter Not ging, das verstand sich gleichsam von selbst. Ein Neues Wien sollte es sein. Und Neue Menschen sollte dieses neue Wien erschaffen helfen. »Der Kapitalismus kann nicht von den Rathäusern aus beseitigt werden«, schrieb Robert Danneberg, der sozialdemokratische Architekt des ›roten Wien‹, Ende der Zwanzigerjahre: »Aber große Städte vermögen schon in der kapitalistischen Gesellschaft ein tüchtiges Stück sozialistischer Arbeit zu leisten. Eine sozialdemokratische Gemeinderatsmehrheit kann auch im kapitalistischen Staat zeigen, welche schöpferische Kraft dem Sozialismus innewohnt.« Auch Max Adler, der linkssozialistische Gesellschaftstheoretiker des Austromarxismus, betonte in seiner damals viel gelesenen Programmschrift »Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung« die zwar notwendige, aber nicht hinreichende praktische Reformarbeit in Staat und Gemeinde, die eigentlich noch klassische Kulturaufgaben des Bürgertums sein sollte, von diesem jedoch behindert würden:
Solch überschießendes Bewusstsein war nicht nur die Sache vereinzelter Utopisten, sie war Handlungsmaxime Zehntausender politischer Aktivisten und Glaubenssatz hunderttausender Menschen aus den lohnarbeitenden und bedürftigen Klassen. Und ermöglicht wurde es durch den gesellschaftspolitischen Aufbruch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als eine Welle von Revolten und Revolutionen ganz Europa erfasste, nicht zuletzt auch Österreich. Die alte österreichisch-ungarische Habsburgermonarchie war 1918 in sich zusammengebrochen, nachdem sich die Tschechen und Slowaken, die Ungarn und Südslawen unabhängig gemacht hatten. Abgeschnitten vom sogenannten agrarischen Hinterland, von den traditionellen Rohstofflieferanten und den zollschutzgeschützten Absatzgebieten schien Deutschösterreich danach kaum noch lebensfähig, doch der mächtig ersehnte Zusammenschluss mit dem republikanisch gewordenen Deutschland wurde den Österreichern von den alliierten Siegern verwehrt. Gemeinsam machten sich also österreichische Sozialdemokraten und Konservative 1918/19 daran, die Grundlagen einer modernen Republik zu errichten, indem sie erstmals umfassend eine parlamentarische Demokratie etablierten, entsprechende bürgerliche Freiheiten garantierten, Staat und Kirche nachhaltig trennten, den Achtstundentag, bezahlten Urlaub, Arbeiterkammern und ein umfassendes System von Betriebsräten durchsetzten und das alte, löchrige System von Sozialversicherungen gründlich erweiterten.
Nach kurzer Zeit jedoch kehrten die tiefgreifenden Differenzen zwischen den politischen Lagern machtvoll an die Oberfläche zurück. Die im Großraum Wien zuerst mit einfacher und bald schon mit absoluter Parlamentsmehrheit regierenden Sozialdemokraten wollten weiter gehen. Die die österreichische Bundesregierung stellenden Konservativen, die sich auf das bäuerliche Umland, auf die hochbürgerlichen Schichten und die katholische Kirche stützten und bald schon wieder konsolidiert hatten, wollten dagegen ihre zunehmend offensiver auftretenden Gegner in die alten Schranken zurückdrängen. Eine vor allem in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre immer härter werdende gesellschaftspolitische Auseinandersetzung begann, die das ›schwarze‹ Österreich dem ›roten‹ Wien gegenüberstellte.
Mit dem Ende der Hyperinflation Anfang der Zwanzigerjahre und nachdem Wien den Status eines eigenen Bundeslandes zugestanden bekommen hatte (was den Sozialdemokraten nun ermöglichte, eigene Steuern zu erheben und vom gesamtösterreichischen Lastenausgleich finanziell zu profitieren), begannen die sich noch immer gänzlich in der sozialistisch-marxistischen Tradition verortenden österreichischen Sozialdemokraten mit dem praktischen Kampf um das Neue Wien und den Neuen Menschen. Aus dem Kampf gegen die kriegsbedingte Not machten sie eine Tugend und setzten auf umfassende gesellschaftspolitische Reformen gerade auch im Sozial- und Gesundheitsbereich.
Die Macht der vielfältigen Arbeiterorganisationen wurde gefestigt, das noch immer allgemein vorherrschende Elend mittels einer Vorsorge- und Fürsorgepolitik bekämpft, die sich selbstbewusst von jeder bürgerlichen Wohltäterei absetzte und gesellschaftliche Fürsorge als ein Menschenrecht des bedrängten Individuums verstand. Erfolgreich bekämpfte man nicht nur die Tuberkulose, die Rachitis und den Alkoholismus, sondern schützte auch Frauen und Kinder auf besondere Weise. Mütterberatungsstellen, Sachbeihilfen und Schulspeisungen gehörten ebenso dazu wie ein umfangreiches System von neuen Kindergärten, Kinderhorten und Spielplätzen, von medizinischen Vorsorgeuntersuchungen, öffentlichen Sportanlagen und Badeanstalten. Das Schulsystem wurde ausgebaut und demokratisiert. Die Klassen wurden kleiner, der Religionsunterricht abgeschafft, die Lernmittelfreiheit und die Schülermitverwaltung eingeführt. Der Geist der Reformpädagogik hielt Einzug und brachte allgemeine Mittelschulen, Gesamtschulen und vieles mehr. Vor allem die Bildung galt als Weg aus dem Elend, aber auch als Mittel einer umfassenden menschlichen Emanzipation. Kommunale Schul- und Volksbibliotheken sprossen aus dem Boden und wurden ergänzt von einem umfangreichen gegenkulturellen Parteischulungssystem. Ein weit verzweigtes Netz von Partei- und Massenorganisationen, von Kulturvereinen der politischen wie der unpolitischen Form vervollständigte diese Gesellschaft im Aufbruch.
›Sozialismus‹, das war den österreichischen Sozialdemokraten nicht nur abstraktes, fernes Ziel, sondern eine mit gemeinwirtschaftlichen und solidarischen Prinzipien einhergehende allseitige Bildungsbewegung, die sich als gesamtgesellschaftliche Lebensreformbewegung im Hier und Jetzt verstand. Auch und gerade als Arbeiterbewegung klassischen Zuschnitts verstand man sich als gesamtgesellschaftliche Emanzipationsbewegung, als soziale, politische und kulturelle, geradezu kulturrevolutionäre Bewegung, in der es nicht nur um Lohn und Arbeitsbedingungen gehen sollte, sondern um das ganze Leben. Jugendliche Gammler und Hippies gehörten ebenso selbstverständlich dazu wie Vegetarier und Nudisten; politische Praktiker und idealistische Aktivisten ebenso wie der bodenständige Verwaltungsfachmann oder die Hausfrau und Mutter. Die sozialdemokratische Gegenkultur von der Wiege bis zur Bahre – am roten Wien der Zwanzigerjahre lässt sie sich in ihrer umfangreichsten und reichhaltigsten Form studieren. Und repräsentiert wurde sie von einer sozialdemokratischen Partei, die nicht nur die damals mitgliederstärkste Sozialdemokratie Europas war, sondern in der Stadt und dem Bundesland Wien über eine solide absolute Parlamentsmehrheit verfügte.
Im ›roten Waschsalon‹ wird diese vielfältige Gegenkultur und Geschichte naturgemäß nur stückweise wieder lebendig. Doch dargestellt werden auch die Stationen ihres scheinbar unaufhaltsamen Niedergangs: der gesellschaftliche Aufstieg der Heimwehren und Hakenkreuzler; die zunehmenden Gewaltausbrüche und das schrittweise Zurückweichen der sozialdemokratischen Parteiführung vor dem ständestaatlichen Konservatismus. Gezeigt wird, wie die nach 1929 um sich greifende Weltwirtschaftskrise dazu führte, dass die österreichische Industrieproduktion von 1929 bis 1933 um fast 40 Prozent sank, das Exportvolumen auf 57 Prozent des Volumens von 1920 fiel, und dass 1934, zur Zeit des kalten Staatsstreiches des ›Austrofaschismus‹, fast 45 Prozent aller Industriearbeiter erwerbslos waren und ein Großteil der anderen nur noch Kurzarbeit schob.
So wurde der gesellschaftspolitische Stolz der Wiener Arbeiterbevölkerung politisch wie wirtschaftlich nach und nach unterhöhlt und schließlich gebrochen. Der Karl-Marx-Hof wurde zum Symbol dieser gewaltsamen Erniedrigung. Im sogenannten Februar-Aufstand von 1934 – immerhin der erste Massenaufstand gegen den europäischen Faschismus – griffen das ständestaatliche Bundesherr und die Heimwehren vor allem die Wiener Gemeindebauten militärisch an. Der Karl-Marx-Hof wurde zu einem der Zentren des Widerstandes gegen den Austrofaschismus und die Bilder der mit schwerer Artillerie beschossenen Wohnanlage gingen in das kollektive Bewusstsein von Siegern und Besiegten ein.
Zumindest als sozialpsychologisch-kulturelle Erinnerung sollte der alte ›rote‹ Stolz vieler Wiener aber noch einige Jahrzehnte nachwirken. Wie so häufig in der menschlichen Geschichte übernahmen die Sieger auch in diesem Falle wesentliche Aspekte der Kultur ihrer Besiegten, um ihre neue Herrschaft auf Dauer zu stellen. Der Karl-Marx-Hof wurde zwar umbenannt, überstand jedoch – wie auch die anderen Gemeindebauten und so manches andere – die Zeit des Ständestaates und des Aufgehens im Großdeutschen Reich. Ja mehr noch: Der moderne Sozialstaat, als dessen Pionier das ›rote Wien‹ zu gelten hat, lebte in der neuen Konsensdemokratie des langen weltwirtschaftlichen Booms der Fünfziger- und Sechzigerjahre nicht nur wieder auf, er verallgemeinerte sich sogar noch. Auch die Kultur des sozialen Wohnungsbaus hat überdauert, trotz vieler Anfeindungen und mancher Versuche, sie im Zeitalter des Neoliberalismus endgültig zu überwinden.
Was sich allerdings nicht wieder verallgemeinerte, war das antagonistische Klassenbewusstsein, mit dem solch Sozialstaat einst erkämpft und bekämpft wurde (die weniger harmonischen Ursprünge moderner Errungenschaften werden im Allgemeinen gern vergessen). Mit der Zeit verblasste auch die bis in die 1980er-Jahre spürbare Erinnerungskultur an die Errungenschaften und Traditionen des ›roten Wien‹. Heute sprechen (fast) nur noch die architektonischen Steine für jene, die sie einst errichteten. Umso verdienstvoller ist die Arbeit des ›roten Waschsalon‹ im Karl-Marx-Hof.
(Die Printfassung dieses Beitrages erschien in der Zeitschrift Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für Historische Studien, Heft 2017/I. Dort finden sich auch die Zitatnachweise und Literaturhinweise.)