Leipzig 9. bis 16. Oktober 1989

von Gunter Weißgerber

Die Vorgeschichte der Friedlichen Revolution ist vielfach und umfangreich beschrieben worden. Einem Leipziger Auslöser derselben wurde bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Mit den Worten »Das sind keine Leute von uns!« wies Christian Führer die aufmüpfigen Oppositionellen am 29. August 1988 aus der Nikolaikirche – nicht ahnend, damit den endgültigen Treibsatz an die Erosion des SED-Staates, vor dem er seine Kirche schützen wollte, zu legen. Schon eine Woche vorher entzog Superintendent Magirius den oppositionellen Basisgruppen per Brief die eigenständige Gestaltung der Friedensgebete.

Mit diesem Rauswurf betraten die Oppositionellen den öffentlichen Raum im Nikolaikirchhof und bekamen so ein quasiöffentliches Podium, welches gerade zu Messezeiten eine starke Ausstrahlung erhielt. Führer und Magirius meinten ihre Gemeinde damit vor dem Staat geschützt zu haben, verhalfen aber tatsächlich den jungen Leuten zu weltweiter Öffentlichkeit (siehe auch »Ein historischer Fenstersturz der anderen Art« erschienen bei GlobKult 2017).

Die für die Friedliche Revolution 1989/90 entscheidende Phase waren die Tage zwischen dem 9. und dem 16. Oktober von Leipzig. Am Abend des 9. Oktober schraken die Machthaber im Gefühl des von der Sowjetunion im-Stich-gelassen-Werdens verunsichert vor der Gewaltanwendung zurück. Die Vorahnung weit geöffneter Fenster in die Freiheit konnte sich fulminant Bahn brechen. Der Koloss wankte, geschlagen war er noch lange nicht. Absolute Priorität für den Machtapparat hatte die Eindämmung der sich entfaltenden Demonstrationslust in der gesamten Bevölkerung. Der weiterhin andauernden Gewaltandrohung wurde der Vorschlag des Dialogs, allerdings zu den Konditionen des Machterhalts der SED, beigesellt. Die Situation glich dem schweren Wanken eines durch seine Größe beängstigenden Turmes. Würde er wieder stabilisiert werden oder gelänge ein weiterer entscheidender Schritt hin zum unfallfreien Fall desselben?

Der Blick der Machthaber und der Bevölkerung ging zum kommenden Montag in Leipzig. Würden weniger als 70 000 kommen, würde die SED zuschlagen lassen. Würden mehr kommen, würde die Verunsicherung der SED gewaltig zunehmen.

Die SED machte am 16. Oktober 1989 Leipzig zur geschlossenen Stadt. In den Zügen wurde nach möglichen Demonstranten gesucht, viele Tankstellen außerhalb Leipzigs waren geschlossen, die Einfallstraßen wurden kontrolliert, zusätzlich wurden um Leipzig Fallschirmspringer stationiert, das Drohpotential war gewaltig. Kliniken hatten sich mit zusätzlichem Spenderblut bevorratet, Namenslisten für Internierungslager wurden ständig aktualisiert.

Der SED half das alles nichts. Mehr als 120 000 Menschen schwemmten ihr die Hoffnung weg, mit Waffengewalt ihre DDR noch einmal stabilisieren zu können.

Die acht Tage zwischen dem 9. Und dem 16. Oktober 1989 entschieden unter Beibehaltung der sowjetischen Passivität über das weitere Schicksal der DDR. War der Gesamtprozess die Friedliche Revolution, die alles andere als friedlich begann, dann war die Leipziger Woche bis zum Abend des 16. Oktober ein geglückter Volksaufstand.

Warum die mikroskopische Unterteilung in Friedliche Revolution und Volksaufstand? Wären 1989 die Demonstranten von Leipzig, Plauen, Dresden, Berlin wie die im Jahre 1953 niederkartätscht worden, würde heute mit Sicherheit allgemein im Westen von einem weiteren niedergeschlagenen Volksaufstand die Rede sein – so wie im Fall von 1953 (DDR), 1956 (Ungarn) oder 1989 (Peking). Und in der DDR wäre es im Sprachgebrauch der SED eine erneute vom Imperialismus und von der CIA angezettelte faschistische Konterrevolution gewesen. Wetten?

Wird der Misserfolg von demokratischen Freiheitsbewegungen demnach vergesellschaftet und quasi dem anonymen Volk zugestanden und der Erfolg privatisiert, d. h. dem Willen einzelner Menschen – Revolutionsführern – glorifizierend zugeordnet? Die Friedliche Revolution 1989/90 hatte keine Führer. Allenfalls brachte sie wortführende Gruppen und deren Sprecher hervor.

Nach dem 16. Oktober 1989 begann der offene Wettlauf mit dem SED-Staat und dessen tschekistischem Instrumentarium: Die SED klammert sich an den Dritten Weg und verliert diesen Clinch am 23. August 1990 im erstmals freigewählten DDR-Parlament.

Ab jetzt wurde es den meisten Ostdeutschen klar, dass bald nichts mehr so sein würde, wie es jahrzehntelang bleiern auf ihrem Leben lastete. Nun begann auch das allgemeine Nachdenken über Optionen. Was die sogenannten Reformer aus SED und MfS seit Jahren strategisch planten und sich auf eine nach ihren Vorstellungen weiterexistierende DDR oder auf den in ihren Augen Supergau Deutsche Einheit unter imperialistischen Bedingungen alternativ vorbereiteten, dies begann jetzt auch in der Bevölkerung Raum zu greifen. Anfänglich ging es den meisten sicher nur darum, die DDR freier, demokratischer und wirtschaftlicher zu gestalten. Zu groß war die Gewissheit, dass die Sowjetunion andere Wege niemals zulassen würde. Dem Gedanken an die Deutsche Einheit nachzuhängen, schien dem Gros der Bevölkerung noch in den ersten Oktobertagen 1989 einfach nur verschenkte Mühe. Das lohnte nicht des Nachdenkens und sehr gefährlich war es obendrein.

Die Sowjetunion schien tatsächlich nicht eingreifen zu wollen. Das galt wohl selbst für Forderungen, die weit über den Artikel Eins der DDR-Verfassung (Führung der SED) hinausgingen. Nun würde es nicht mehr lange dauern und die Demonstranten würden wie 1953 auch nach Deutscher Einheit rufen. Dies wusste die SED und rief nach dem 9.Oktober 1989 zum Dialog (gleichbedeutend mit ›Runter von der Straße!‹) und mixte die Leimrute ›Dritter Weg‹ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, damit auch viele Oppositionelle einfangend, nicht für sich, aber sehr wohl für das Thema. Vor allem im Raum Ostberlin fand diese Finte viele Freunde und wurde zum elitären Schlager der von der SED unterstützten Demonstration am 4. November 1989 in Ostberlin.

Da Ostberlin in der gesamten DDR in denkbar schlechtem Ruf stand, hier wohnten die SED-Günstlinge und hierher musste die gesamte Bauwirtschaft der DDR eine Art Zehnten liefern, war die pro-DDR-Haltung vieler Ostberliner Intellektuellen ein weiterer Grund, gegen alles zu sein, was ›diese Bonzen‹ für uns in der Provinz für richtig hielten. Es ging 1989/90 auch ganz klar gegen die so empfundene Ostberliner Bevormundung.

Der Dritte Weg war der medial fulminant begleitete Versuch eines Trojanischen Pferdes der SED, mit dessen Hilfe die DDR erhalten werden sollte. Es mussten nur genug Menschen auf den Klepper hereinfallen! So die Hoffnungen der SED. Das Pferd sollte gegen die Massendemonstrationen und den sich umgreifenden Willen nach Einheit anstürmen. Letztlich ohne wirkliche Chance. Den Millionen Demonstranten genügten bald die zuerst errungenen Freiheitsrechte wie das Demonstrations- und Rederecht nicht mehr. Die Leute wollten den weiteren Weg beeinflussen und selbst steuern. Und dies keinesfalls auf der Leimrute der Wolfs, Gysis und Modrows. Die Dialoge wurden gut besucht, die Straße war den Leuten dennoch viel wichtiger und direkter. Während die alte Garde samt ihrer intellektuellen Entourage in der Ostberliner Kundgebung am 4. November 1989 Zeichen setzen konnte, hatte sie in der Provinz diesbezüglich nicht die Spur einer Chance. Im Gegenteil, je massiver die SED die Leute von der Straße holen wollte, desto gingen sie zu den Demonstrationen.

Die wohlgesetzten SED-Stolpersteine am Rande dieses Dritten Weges würden heißen ›Dialog/Dritter Weg‹ – ›Großkundgebung Alexanderplatz‹ – ›Grenzfall‹ – ›Für unser Land/Wir lassen uns nicht BeeRDigen‹ – ›Die SED im SPD-Schafspelz/Wettlauf mit der SDP‹ - ›Lafontainscher Doppelschlag‹ – ›Demonstrationsstopp über die Weihnachtspause hinaus‹ – ›Faschismus. Wir brauchen MfS/AfNS‹/ ›Deutsche Einheit gleich Faschismus‹ – ›Verfassungsentwurf des Runden Tisches‹.

Die in dieser Reihe noch folgende Schilderung aus Leipziger Sicht passt auf die DDR-weiten Prozesse dieser Zeit. Orte und handelnde Personen einschließlich der meinigen sind austauschbar, die Strategie der SED und ihrer Schilder und Schwerter war flächendeckend. Ebenso das Agieren und Reagieren der Bevölkerung.

 

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