von Ulrich Schödlbauer
Dystopien sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren, vor allem dann, wenn sie im Gewand der Zeitzeugenschaft daherkommen. In gewisser Weise sind alle Dystopisten Zeitzeugen: Sie fassen ihre geballten Beobachtungen dessen, was faul im Staate Dänemark, sprich in ihrer Lebenswelt ist, zu einem konsequenten Weltentwurf zusammen und verlegen ihn in eine unbestimmt ferne Weltgegend, besser noch, in die Zukunft. Was Wolski auf seinen Seiten (im Netz wie im Buch) bietet, lässt sich als dystopische Konstruktion der Gegenwart betrachten. Sie geht von einer geheimen Vorgeschichte aus, deren Eckdaten immer bekannt waren, deren wirkliche Bedeutung hingegen in den öffentlichen Darstellungen unterdrückt blieb. Dem entspricht der Gestus des Zeitzeugen, dessen raunende Beschwörung eigener Erlebnisse sich am Ende mit der Bemühung ›allgemein zugänglicher Informationen‹ zufriedengibt.
Wolskis These, auf einen einfachen Nenner gebracht, lautet: Der Kommunismus, sprich: die ideologisch motivierten Kräfte des russischen Imperialismus sind mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Zerfall ihres Machtbereichs nicht untergegangen, sondern zur verdeckten Übernahme des Westen durch – kurzfristige – Aneignung seiner Wirtschaftsweise und Täuschung über die eigenen langfristigen Absichten übergegangen. Das deckt sich teilweise mit dem libertären Argument, die globalistischen Eliten hätten mittlerweile ein ›sozialistisches‹ Regime über die traditionellen Staaten des Westens verhängt. Aber auch von der bevorstehenden Unterwerfung Westeuropas durch das heutige Russland im Gefolge des Ukraine-Kriegs ist im Buch die Rede. Das Abenteuerliche der These liegt eher im historischen Bereich: in der Idee, der gesamte Westen sei seit den Neunzigern einem riesigen Betrugsmanöver seitens der Sowjet-Nomenklatura aufgesessen und müsse nun die Folgen seiner grenzenlosen Naivität ausbaden, die ihm einen welthistorischen Sieg vorgaukelte, während er in Wirklichkeit den verborgenen Langzeitplan der Gegenseite umsetzen half und immer noch umsetzt.
Den pivot, den aus seiner Sicht entscheidenden Dreh- und Angelpunkt in den Ost-West-Beziehungen legt Wolski auf das Jahr 1972, das Erscheinungsjahr von Grenzen des Wachstums, der ersten Programmschrift des Club of Rome. Mit den Aktivitäten des Club of Rome, so Wolski, erhält die Propaganda sozialistischer Ideen Zugang zu den feinen Kreisen der kapitalistischen Gesellschaft. Indirekt und subkutan bereitet sie damit ein Klima vor, in dem der Kapitalismus an seinem eigenen Erfolgsmodell zu zweifeln beginnt, um es zuguterletzt in sein Gegenteil zu verkehren. Im gleichen Jahr gründen Russen und Amerikaner in London das International Institute for Applied System Analysis zur gemeinsamen Analyse globaler Herausforderungen. Auf russischer Seite gehen daraus Reformideen (und ein Jahrzehnt später geschulte Reformer) hervor, deren Stunde dann in der Gorbatschow-Ära schlägt. Kapitalistische Systemkorrekturen als Treibsatz, um dem Kommunismus am Ende doch zum welthistorischen Sieg zu verhelfen –: so lautet die Absicht, die Wolski unter Berufung auf andere Quellen der Perestroika und den Folgestadien der russischen Wirtschafts- und Geopolitik unterstellt.
Die Leser mögen das gläubig zur Kenntnis nehmen oder auch nicht – eine ganz andere Frage dürfte sein, ob die Überzeugungstiefe der in das Projekt eingebundenen Genossen den Wechsel der Systeme und der Übergang zu eigenem Eigentum und damit verbundener Oligarchen-Macht unbeschadet hätte überstehen können. Offenbar gehört Wolski zu den Zeitgenossen, die sich die Ausbreitung von Ideen nur in Kategorien der Unterwanderung und des Verrats vorstellen können, das heißt im Gewand subkutaner Wühlarbeit – von den dekretierten Wahrheiten siegreicher Regime einmal abgesehen. Dennoch behält die Vorstellung, den diskreten, sich gegenwärtig offenbar verstärkenden Niedergang des ›Westens‹, also des den von den USA dominierten Teils des Weltsystems, nicht erst mit den Jahren 2001 (Nine-Eleven) oder 2021 (Abzug aus Afghanistan) beginnen zu lassen, sondern auf einen Zeitpunkt zurückzudatieren, zu dem das System seine eigene Erfolgsgeschichte kritisch zu hinterfragen beginnt, ihren dissidenten Charme. 1972, so ließe sich behaupten, schaltet der Westen vom ökonomischen auf das moralische Paradigma um, mit dessen ökonomischen Folgen sich gegenwärtig überall Regierungen herumschlagen. Es steht jedem frei, darin nützliches Idiotentum à la Lenin zu finden, das irgendwelchen sinistren Hinterleuten der Geschichte zur Hand geht. Es steht ihm auch frei, es zu lassen und die Ursachen der geschichtlichen Dynamik in komplexeren Mechanismen und Kräfteverhältnissen zu suchen.