von Steffen Dietzsch
Nationaler Einschluss und Neues Europa?
Piɬsudski gehört zu den großen Irredentisten, die im Gefolge des Versailler Vertrags hervortraten und die die politische Geographie Europas nachhaltig – bis heute – in Bewegung hielten. Sein Traum eines Polska Międzymorze (›zwischen-den-Meeren‹) beflügelt bis heute die geopolitische Phantasie seiner Anhänger; er war ihnen damit der große Realist der Utopie. – Templin erzählt davon in seiner außerordentlich gut recherchierten, anekdotenreich und lesefreundlich – manchmal im familiären Ton – geschriebenen Biografie. Seine Darstellung von Piɬsudskis dramatischer Lebens- und Politikentwicklung ist empathisch, engagiert und analytisch. Dadurch kann seine Arbeit zu einer weiteren produktiven Grundlage werden für eine erneuerte, künftige Diskussion über die besondere Rolle des Neuen Polen in den Anfängen und Verläufen des sogenannten Weltbürgerkriegs (1919-1989). Zu dessen vorläufigem Ende (1989) gehört als Ursprung und Konsequenz, dass jenes geistige wie geopolitische Scheitern der Sowjetunion auf das Waterloo des Bolschewismus zurückzuführen ist, als das der historisch singuläre Sieg von Piɬsudskis Armee im sowjetisch-polnischen Krieg vor Warschau (August 1920) verstanden werden muss. Es gehört aber auch zur Tragik von Piɬsudskis politischem Projekt, dass im nationalen (und militärkultischen) Furor und in den national-ethnischen Überdehnungen, mit denen die Polonia Restituta begründet wurde, allerdings auch einige Gründe seines Untergangs (1939-1944) begriffen werden müssen.
Templin lenkt den Blick ausführlich auf die (litauische) Herkunft, Jugend und politische Erziehung des jungen Piɬsudski. Die ersten fünf Kapitel – circa 200 Seiten – der Biografie zählen zum Informiertesten, was dem deutschsprachigen Leser zu jener historisch-politischen Landschaft zwischen Njemen und Beresina jetzt zu Gebote steht.
Mit einem Titelbegriff seiner Biografie – Revolutionär – macht Templin auch auf ein Problem mit dem Selbstbild des Marschalls aufmerksam: Eher als Revolutionär ist Piɬsudski (stolzer) Legionär, seit August 1914 (er befehligte die Erste Brigade), also kein geborener (Parteien-)Demokrat; auf einem Kongress der Legionäre (Aug. 1923, Lemberg) betonte er deren Autonomie als sich-selbst-verantwortende und die Nation flankierende (Wehr-)Institution als ein staatsrechtliches Spezificum in der polnischen Geschichte. Legionäre sollen sich (nach einer Sentenz von Juliusz Sɬowacki) wie Efeu um Eichen ranken. Dementsprechend nüchtern und prosaisch fällt Piɬsudskis Beschreibung des Parteienalltags im Sejm aus: »Der Wettbewerb der Parteien«, so in einem Interview (24. Okt. 1930), »hatte bei uns vom ersten Augenblick des staatlichen Daseins einen so sonderbaren und abschüssigen Weg eingeschlagen und dabei so viel Lüge und Schurkerei im Gefolge gehabt, daß sofort etwas entstand, was ich die cloaca maxima nannte.« Auch auf diese ›dunklen Aspekte‹ der Parteiendemokratie nimmt Templins analytische Darstellung keine falschen Rücksichten, er zeigt, wie sich diese Legionärskritik am politischen Netzwerk der Parteien auf »die Tage im Mai« (345-350) zubewegt, d.h. auf den Militärcoup 1926. Gerade in Krisenzeiten hat Piɬsudski »alle ›cäsaristisch-revoluzionären‹ Vermutungen« enttäuscht, die womöglich noch aus seiner Jugendzeit als »Genosse Wiktor« (132-150) virulent sein könnten.
In der Biografie wird, schon programmatisch im Vorwort, immer wieder die Litauizität ihres Helden beschrieben, umso befremdlicher ist es, dass hier nicht einmal der Name eines engen Freundes Piɬsudskis erwähnt wird, der doch schließlich mit einer Militäraktion gegen Litauens Hauptstadt Vilnjus (12. Okt. 1920) die Stadt und ihre Umgebung als Wilna (auf der Karte S. 436/37) dem Staatsgebiet des Neuen Polen eingliederte: General Lucian Zeligowski (1865-1947). Auch bleiben einige politische Gewalttaten unerwähnt, obwohl sie doch die Einheit der Republik – Piɬsudskis Lebenswerk – zu gefährden geeignet waren: zum einen die Ermordung des Aussenpolitikers Tadeusz Holówko (August 1931 in Galizien durch zwei ukrainische Untergrundkämpfer) und die Ermordung des polnischen Innenministers Bronisɬaw Pieracki (15. Juni 1934, in 3, ul. Foksal, Warschau durch den Ukrainer Maciejko, der sich aber seiner Strafe entziehen konnte). Auch das Schicksal des General Wɬodzimierz Zagórski (geb.1882), der nach einjähriger Gefängnisstrafe (nach dem Maiputsch 1926) aus Wilna entlassen wurde und sich in Warschau beim Marschall melden sollte, aber seither spurlos verschwunden blieb, wäre einer politischen Aufklärung wert gewesen.
Allerdings weiß Templin einen bei ihm tiefsitzenden polnischen Humor sichtbar zu machen, als er die irritierenden Entscheidungen des alten Marschalls für seine militärische Nachfolge skizziert: Einen seiner fähigsten alten Legionärskameraden Kazimierz Sosnkowski (1885-1969) versetzt er ebenso in die ›zweite Reihe‹ wie den konservativen oppositionellen General Wɬadysɬaw Sikorski (1881-1943). Ins Amt kommt der subalterne Edward Rydz-Šmigly (1886-1941), »eine Parodie des wirklichen Marschalls« (404), der dann bloß noch über die Konkursmasse der Zweiten Republik zu bestimmen hatte.
Templins Biografie ist ein zu weiterführender Lektüre einladendes Vergnügen, ein lehrreiches Buch, das uns wieder neugierig macht auf künftige Begegnungen mit der polnischen Kultur und Geschichte.