von Herbert Ammon

Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Wolfgang Huber, ist fraglos einer der besten Kenner der Schriften des Märtyrer-Theologen Dietrich Bonhoeffer. Das vorliegende Buch ist als Porträt, sprich: als zeitlos gültiges Bild Bonhoeffers, nicht primär als Biografie konzipiert. Gleichwohl kommt die Biografie nicht zu kurz. Besonders ansprechend erscheint – neben dem zweiten Kapitel ›Bildungswege‹ – das vorletzte Kapitel ›Polyphonie des Lebens‹, in dem der Autor die Rolle der Musik im Leben Bonhoeffers behandelt. Aufgewachsen in kulturprotestantischem Milieu, in großer Familie mit einem agnostischen Vater und einer frommen Mutter, entschied sich Bonhoeffer bereits als Konfirmand für die Theologie.Trotz hoher Begabung und Perfektion als Pianist kam für den jungen Bonhoeffer eine Karriere als Musiker jedoch zu keiner Zeit in Frage.

Lebensgeschichte und Entfaltung seiner Theologie fallen bei Bonhoeffer zusammen. Sein Denken war geprägt von schwer auflösbaren Widersprüchen zwischen ›moderner‹, liberaler Fortschrittstheologie und – unter dem Eindruck der Luther-Renaissance nach dem I. Weltkrieg sowie des ›Römerbriefes‹ von Karl Barth (1919/1922) – neo-orthodoxen Begriffen von Gottes ›Offenbarung‹. Was Bonhoeffers kulturkritische Aussagen anbelangt, wie sie unübersehbar sein unvollendetes Hauptwerk Ethik durchziehen, so fehlt in Hubers Aufzählung von Lektüreeinflüssen der Name Oswald Spengler. Aus der Gegenwartsperspektive fällt er ein strenges Verdikt über Bonhoeffers frühe Aussagen als Vikar der Auslandsgemeinde in Barcelona (1928/29): »Das Ausmaß, in dem (er) ... sich mit solchen Überlegungen noch in den Ideen von 1914 verfängt, ist erschreckend.« (134)

Die politische, geistige – und moralische – Situation der Zeit nach 1933 wird erhellt durch Bonhoeffers abrupt beendete Karriere an der Berliner Universität, wo er seit 1929 lehrte. Sie resultierte aus einer Intrige Erich Seebergs, der Sohn von Bonhoeffers ›national‹ und republikfeindlich gesonnenem Doktorvater Reinhold Seeberg. Erich Seeberg, seinerzeit Dekan der Theologischen Fakultät an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, fungierte als der »wohl einflussreichste und intriganteste Kollaborateur des Hitler-Staates unter den protestantischen Universitätstheologen« (Thomas Kaufmann, zit. S.21) Sein Sohn Bengt Seeberg wiederum erklärte als Sprecher der theologischen Studentenschaft dem NS-Wissenschaftsminister Bernhard Rust, dass Bonhoeffers Rolle am Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde (heute poln. Zdroje) bei Stettin mit akademischer Lehrtätigkeit unvereinbar sei. Rust entzog Bonhoeffer im August 1936 die Lehrbefugnis.

Insofern das Konzept des Buches über die bloße Rekonstruktion der geistigen Prägungen und Denkbewegungen des Theologen Bonhoeffer hinausweist, ist der Leser gehalten, sich mit den auf die Gegenwart zielenden Aussagen des Theologen Huber auseinanderzusetzen. Ein solches Unterfangen stellt den Rezensenten vor ein Dilemma: Kritik an Hubers aktualisierenden Deutungen dürfte hauptsächlich in konservativen, heute meist als evangelikal bezeichneten Kreisen auf Beifall stoßen.

Dort findet die Bonhoeffer-Biografie des amerikanischen Journalisten Eric Metaxas – in deutscher Übersetzung bereits in sechster Auflage – rege Verbreitung. Eine solch schlichte Interpretation der Bonhoefferschen ›Ethik‹ ist indes ebenso unstatthaft wie die von progressiver Seite vielfach betriebene ahistorische Extrapolation von Bonhoeffers Aufzeichnungen und Briefen aus dem Gefängnis (unter dem Titel Widerstand und Ergebung erstmals herausgegeben 1951 von Eberhard Bethge), in denen Begriffe wie ›religionsloses Christentum‹ und ›Verzicht auf die Arbeitshypothese Gott‹ auftauchen. (Siehe dazu H.A.: https://www.academia.edu/17510695/Zum_biographischen_Umgang_mit_dem_Bild_Dietrich_Bonhoeffers)

Vor dem Hintergrund der deutschen und europäischen Katastrophe stand Bonhoeffers Denken im Horizont der Sinnfragen des 20. Jahrhunderts. In den Manuskripten der ›Ethik‹ formulierte er unleugbar konservative Gedanken zum großen Nietzsche-Thema des Nihilismus. Die Wurzeln der alles durchdringenden ›abendländischen Gottlosigkeit‹ erkannte er in der Französischen Revolution, in der Dialektik von ›befreiter Ratio‹, Erklärung der Menschenrechte und modernem Nationalismus. An derlei Stellen der ›Ethik‹ – etwa zu Bonhoeffers Ablehnung der Abtreibung – weist Hubers Interpretation Lücken auf. Auch fehlt jeglicher Hinweis auf das – auch von dem niederländischen Ökumeniker Willem Visser’t Hooft bezeugte – patriotische Motiv im Denken und Handeln Bonhoeffers. Dem Widerstandskämpfer Bonhoeffer ging es um »ein schönes, echtes und – frommes Deutschland«, wie er es in einem Geburtstagsbrief an Christoph Bethge (18. Juni 1942) schrieb.

Differenziert behandelt Huber – im Gegensatz zu radikal-pazifistischen Ausdeutungen Bonhoeffers – dessen bei Auslandsaufenthalten in New York und London sowie im ökumenischen Dialog mit seinen ausländischen Freunden, namentlich Reinhold Niebuhr sowie Bischof George Bell, entwickelte Position zum Thema ›christlicher Pazifismus‹ (Kapitel 6). Die Seligpreisung der ›Friedfertigen‹ (eirenopoioi, Matt.5,9) in der Bergpredigt ziele auf gewaltfreie Friedensstiftung, was indes nicht prinzipiell jeglichen – id est defensiven – Waffengebrauch ausschließe. (130-133)

Im Kapitel ›Verantwortungsethik‹ stellt Huber Bonhoeffers Ausführungen in seinem Hauptwerk Ethik in die »Mitte« zwischen Max Weber, der seinen Bestimmungen von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik selbst nur »provisorischen Charakter« zugemessen habe, und Hans Jonas, dem in Technik- und Fortschrittskritik radikalen Verantwortungsethiker. (217) Bonhoeffer verbinde den Weberschen Begriff ›Verantwortung‹ mit Luthers Auffassung vom Beruf. (ibid.) Sodann erscheint Bonhoeffer mit seinem eigenwilligen Begriff des »natürlichen Lebens« und der – gegen das NS-Regime gerichteten – Verteidigung des »Rechts auf das leibliche Leben und die Rechte des geistigen Lebens« (226f.) als derjenige, der »die evangelische Theologie darauf vor(bereitete), einen eigenständigen Zugang zu den Menschenrechten zu entwickeln.« (225). Huber wendet sich gegen die »mit einem individualistischen oder gar egozentrischen Menschenbild« verknüpfte Reduktion der Menschenrechte auf bloße Individualrechte. (227) So begründet diese Exegese der Menschenrechtsthematik sein mag, so fehlt an dieser Stelle der erläuternde Hinweis auf Bonhoeffers Ablehnung des in Terror mündenden Menschenrechtspathos der Französischen Revolution.

Nicht von ungefähr schließt Bischof Huber sein Buch mit »dem geistlichen Gedicht des 20. Jahrhunderts« (298), das Bonhoeffer, nach dem Fehlschlag des 20. Juli 1944 illusionslos einsitzend und ständigen Verhören ausgesetzt, im Gestapo-Gefängnis im Prinz-Albrecht-Palais (heute ›Topographie des Terrors‹), seinem Weihnachtsbrief an die Verlobte Maria von Wedemeyer beilegte. In »Von guten Mächten« spricht der Dichter, vor Augen den »schweren Kelch, den bittern«, unangefochten von dem ewigen Gott.

Schlüssig sind Hubers Explikationen zu Bonhoeffers Reflexionen über das ›Ende der Religion‹ sowie die ›mündig gewordene Welt‹, wenn er schreibt:

»Der Rede von der mündig gewordenen Welt oder dem mündig gewordenen Menschen liegt ein Deutungsschema zugrunde, das die Neuzeit von einer Dynamik des Fortschrittsglaubens geprägt sieht, ohne dessen Dialektik zu beachten.« (246)

Problematisch – da reines Postulat – werden die Ausführungen, wo er den Blick auf Bonhoeffers Christologie richtet. Für Bonhoeffer sei

»das Freiheitsbewusstsein des mündigen Menschen, auch wenn es sich religionslos artikuliert, der Inanspruchnahme durch Christus näher als ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, selbst wenn es religiös daherkommt«. (247)

Die Crux dieser Ausdeutung der auf Christus zentrierten Bonhoefferschen Theologie liegt in dem Faktum, dass sie letztlich nur für christlich-religiös gestimmte Gemüter verbindlich sein kann. Für die vorherrschende, vom realen Atheismus beziehungsweise Agnostizismus oder von Indifferenz geprägte Gemütslage ›moderner‹ Menschen – man denke an die Freizeitgesellschaft oder den Großteil unseres politischen Personals – dürften derlei Aussagen ohne Belang sein. Was parallel zum anhaltenden Exodus aus den Kirchen realiter stattfindet, ist die gerade auch von kirchlicher Seite betriebene religiöse Aufladung komplexer wissenschaftlicher und politischer Themen – von der für 2050 angekündigten Klimaapokalypse bis zur Migrationsproblematik.

Huber schreibt aus biografisch-historischer Distanz zu Bonhoeffer. Er expliziert die in der ›Ethik‹ sowie in den erst recht fragmentarischen Gefängnisschriften enthaltenen, unaufgelösten theologisch-philosophischen Fragen in eigenständiger Dialektik, wenn er schreibt:

»Unabhängig von den Schwächen die in Bonhoeffers Doppelthese vom Ende der Religion und von der mündig gewordenen Welt enthalten sind, vollzieht er diese Selbstunterscheidung des Christentums von der Religion auf überzeugende Weise.« (253)

Er erläutert die eigene Position zur Idee des »religionslosen Christentums« mit seiner kritischen Wahrnehmung der neuerdings gegen die Säkularisierungsthese ins Spiel gebrachten »Wiederkehr der Religion«. Diese trage »die dreifache Gefahr der Fundamentalisierung, der Spiritualisierung und der Relativierung der Religion in sich.« (ibid.) Nüchtern benennt Huber die psychologischen, ideologischen und institutionellen Aspekte des Begriffs. Nichtsdestoweniger hält er am Gehalt des Begriffs fest: »Religion bleibt ein Teil unserer Lebenswirklichkeit und eine notwendige Gestalt des christlichen Glaubens.« (255)

Aktuell notwendige Überlegungen zu der Frage, wie dem Vordringen des voraufklärerischen, ›fundamentalistischen‹ , sich historischer Kritik versperrenden Islam samt orientalischer Traditionen zu begegnen sei, sind in Hubers Buch leider nicht zu finden. Stattdessen schreibt er in einer kritischen Darstellung von Bonhoeffers christologischer Interpretation der Bibel (eben auch des Alten Testaments, in heutiger Begrifflichkeit: die Hebräische Bibel) folgendes:

»Nach dem Holocaust sind Theologinnen und Theologen dazu verpflichtet, mit der Hebräischen Bibel, dem christlichen Alten Testament, in einer Weise umzugehen, die der zweifachen, im Blick auf deren muslimische Aneignung sogar dreifachen Wirkungsgeschichte dieser heiligen Schriften und ihrer damit verbundenen Mehrdeutigkeit Rechnung trägt.« (123)

Wie viele Imame sind tatsächlich bereit, eine solche Relativierung ihrer von dem Propheten verkündeten Offenbarung zu akzeptieren? Immerhin sprach der Autor als Bischof vor Jahren noch davon, ein Dialog mit dem Islam sei schwierig aufgrund dessen ungeklärten Verhältnisses zum Thema Gewalt.

Dass der von Huber betonte ökumenische Dreiklang ›Frieden, Bewahrung der Schöpfung, soziale Gerechtigkeit‹ angesichts der weltpolitischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts überzeugender, widerspruchsfreier Konzepte bedürfte, ist evident. Nur welche? Schon vor dem Mauerfall standen theologische Aussagen Bonhoeffers für unterschiedliche Positionen, beispielsweise in der Kritik von DDR-Bürgerrechtlern an der von dem Bonhoeffer-Schüler Albrecht Schönherr – aus politischem Realitätssinn? – proklamierten ›Kirche im Sozialismus‹.

So provokativ und schmerzlich es klingen mag: Die anders gelagerten Fragen des 21. Jahrhunderts sind mit dem Bezug auf Bonhoeffer kaum zu lösen.Zu seiner Zeit durchschaute Bonhoeffer im Nationalsozialismus die »Maskerade des Bösen«, das »in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint.« (Zit. 245). In der heutigen Welt ist die Erkenntnis und Überwindung des Bösen ungleich schwieriger geworden. Politischer Aktivismus befreit weder aus den Aporien noch schützt er vor der Banalität des Guten. Wie dereinst die Bibel im Säurebad der historischen Kritik, unterliegt auch Bonhoeffer der Historisierung. Um so dringlicher erscheinen – angesichts der ›Wiederkehr‹, genauer: der Persistenz und Beliebigkeit der Religion – befreiende Antworten auf existenzielle Fragen.

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