Was ist ›deutsch‹? Diese Frage treibt mich bis heute um. Neulich sah ich in der Buchhandlung am S-Bahnhof Friedrichstraße ein Buch, ich kaufte es und begann gleich zu lesen. Sehr spannend und gut geschrieben. Doch bald regten sich in mir Unwohlsein und ein Gefühl der Missbilligung, ja auch Kränkung. Waren bzw. sind wir Deutschen so? Das Buch hätte einen anderen Untertitel verdient: ›Eine Skandalchronik der Deutschen aus der Sicht von Dichtern und Denkern‹!

Den ›Deutschen‹ oder ›das Deutsche‹ stellt Fried unter ›Generalverdacht‹. Grell scheint die ›deutsche Sonderwegsthese‹ auf. Fried will das mit einer tour d’horizon durch die deutsche Geschichte belegen, orientiert an Poetik und Prosa deutscher ›Dichter und Denker‹. Von Walther von der Vogelweide bis zu Wolf Biermann, von Goethe, Schiller, Lessing, Kant bis zu Christa Wolf und Reiner Kunze. Er hat eine politische Agenda, sie bestimmt sein Erkenntnisinteresse und die selektive Auswahl der Dichter und Denker Stimmen. Er präsentiert ihre meist kritischen bis bösartigen Bemerkungen mit sehr gelehrten und beeindruckend detailreichen Exkursen. Geschichte wird zum Argument im politischen Diskurs. Das ist in Ordnung so, man muss es nur erkennen.

Nach 358 Seiten Lektüre gewinne ich folgenden Eindruck:
Erstens, der ›Deutsche‹ und ›das Deutsche‹ formen sich seit Jahrhunderten nur als ständig fließendes ›mixtum compositum‹ durch Zuwanderung, Einwanderung, Überlappung und Vermischung von zum Teil antagonistischen Kulturen. Es gibt einen permanenten ›Import‹ von Ideen. Da, wo die Deutschen diese aufgesaugt, integriert und zu einer eigenständigen Aneignung und Identität zusammenzufügen sich bemüht haben, bestand sogleich die Gefahr von Triumphalismus, völkischer Überhebung und nationalem Taumel.

Zweitens, ausweislich der Aussagen der Dichter und Denker ist ›der Deutsche‹ grob, ein Trunkenbold, ständig zu Händeln aufgelegt, trotzig, arrogant, stolz, hochmütig, zu völkischem Denken, Militarismus, Nationalismus und Imperialismus neigend, bis zur völligen Perversion aller menschlichen Werte im Nationalsozialismus. Er ist zwar auch lernfähig (Aufklärung), häufiger aber offenbar ungebildet, »strohdumm« (Adenauer), zugleich sentimental mit Minderwertigkeitskomplexen, selbstverliebt, egoistisch, krankhaft traditionsbewusst, ja »von gestern« (Goethe), biedermeierlich, ängstlich, feige, lethargisch, und apathisch. In unserer Gegenwart werden die dunklen Schatten der Vergangenheit wiederbelebt durch Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung, die ›Neue-Rechte‹ (Pegida sowie verwandte Gruppen und Parteien) und Gewaltbereitschaft.

Frieds Heilmittel gegen diese düstere Sammlung negativer Einstellungen und letztlich menschenfeindlichem Verhalten der Deutschen ist seine politische Agenda. Unter Berufung auf die ›Klassiker‹ und andere ›aufgeklärte‹ Geister empfiehlt er uns ›Weltoffenheit‹, ›Universalismus‹ und ›Kosmopolitismus‹. ›Deutsche Werte‹ sind passé, ja es gab sie nie. »Wir sollten anerkennen, dass wir den ›anderen‹, den ›Fremden‹, den vielen Kulturvölkern dieser Erde seit jeher gleichen, ja ihnen uns selbst verdanken. Lasst uns zu dieser Ein- und Aussicht ›aufbrechen‹ (...) zu transnationaler, multikultureller weltoffener Gemeinschaft.« (S.357). Und er empfiehlt »eine vielschichtige Ethik menschlicher Gemeinschaft und Einheit jenseits aller deutschtümelnden, jenseits aller national beengenden und fremdenfeindlichen Kultur. Dafür erhoben die großen deutschen Poeten und Philosophen das Wort. Warum sollten wir von Iranern oder Arabern, aus der reichen muslimischen Kultur und dem Islam nichts mehr lernen können?« (S. 357) Genau hier, wo die eigentlich brisanten politischen Fragen beginnen, wird Fried einsilbig und speist uns mit Schlagworten ab, was er gerade den ›Deutschtümelnden‹ zum Vorwurf gemacht hat. Die deutsche Geschichte ist weder ein unendliches Jammertal mit dem Nationalsozialismus als Supergau noch eine Kette lichter Erkenntnisse und Menschenfreundlichkeit.

Was Fried bei den Deutschen fand, das finden wir in anderen Nationen auch. In verschiedenen Ausprägungen und in unterschiedlichen historischen Kontexten. Er macht es sich sehr einfach, uns einen ideologischen ›Multikulturalismus‹ anzudienen, dessen Scheitern in Europa seit Jahrzehnten sichtbar ist. Was ›Weltoffenheit‹ auch bedeuten kann, das lehrt die illegale Masseneinwanderung vom September 2015. Und ich glaube nicht, dass wir von ›den Iranern‹ und ›dem Islam‹ gegenwärtig etwas lernen können. Von totalitären Ideologien der Ungleichheit und religiösen Doktrinen mit zum Teil menschenverachtenden Geboten und Verboten, lässt sich in einem säkularen, pluralistischen, demokratischen Rechtsstaat nichts lernen.

Wir Deutschen haben in einem langen und sehr schmerzhaften Lernprozess eine funktionierende Demokratie entwickelt – bei allen Fehlern und gegenwärtigen Verwerfungen, die Anlass zu großer Sorge geben. Wir haben universalistische Ideen (Menschenrechte) ›importiert‹ und sie uns zu eigen gemacht. Patriotismus ist nicht ›out‹ und die Sicherung von Grenzen ein Gebot des Überlebens. Unser gesellschaftliches und kulturelles Leben zeigt eine ungeheure Weltoffenheit und einen beeindruckenden Pluralismus. Die Bewahrung von Einheit und Freiheit bleiben immer unmittelbare politische Aufgaben. Wie uns dabei unsere geschichtlichen Traditionen helfen können, das bleibt eine dauernde Aufgabe: »Was du ererbt von deinen Vätern hast,/ Erwirb es, um es zu besitzen. / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last. / Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.« (Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Nacht, Faust mit sich allein).

Weil wir uns darum bemühen, müssen wir nicht der von Fried propagierten Selbstverachtung folgen.

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