von Holger Czitrich-Stahl

Wenn Alexander Dobrindt (CSU) zum Jahresbeginn von einer bevorstehenden ›konservativen Revolution‹ schwadronierte, so bediente er mit diesem Terminus typische Denkbilder eines Diskurses, der ›1968‹ ausschließlich als ein Synonym für kulturellen Niedergang, Abwendung von der Leistungsgesellschaft, schlechte Manieren, Multikulti, Feminismus usw. thematisiert und negativ fixiert. Hierin wissen sich eingefleischte Traditionskonservative und deutschalternative Neocons einig. Der Deutungskampf um die ›Chiffre 1968‹ (Wolfgang Kraushaar) ist längst in vollem Gange, und momentan befinden sich die Gegner der Kulturrevolution von vor fünfzig Jahren in der Offensive.

So ist schon allein die Tatsache erfreulich, dass sich Heft 2018/2 von Arbeit – Bewegung – Geschichte mit dem Motto Zauber der Theorie der Ideengeschichte der Neuen Linken in Westdeutschland widmet. Dabei bleibt der Blickwinkel der Beiträge aber geöffnet für die internationalen Ankerpunkte von ›1968‹, die in Italien, Frakreich und Großbritannien, natürlich auch in den USA zu verorten waren. Letztere Einflussgröße, etwa über die Anti-Vietnam- oder die Bürgerrechtsbewegung oder den Befreiungskampf in Mittel- und Südamerika, bleibt leider jedoch weitestgehend unberührt. Die Zeitschrift selbst erfuhr in jüngerer Zeit sehr viel positiven Zuspruch: Sie ist seit 2018 im European Reference Index for the Humanities and Social Sciences (ERIH+) gelistet und wird damit für ihre stets transnationale thematische und methodologische Perspektive gewürdigt.

Insgesamt acht Beiträge befassen sich mit dem Wirken der Neuen Linken. David Bebnowski hebt in seinen einleitenden Bemerkungen denn auch zu Recht hervor, dass »der Mythos 1968 dekonstruiert werden muss durch den Blick auf die Zeiträume davor und danach«. (S. 11) Die als Neue Linke bezeichnete Bewegung begann viele Jahre vor 1968 und wirkte bis in die achtziger Jahre nach – letztlich bis zum Zusammenbruch des Staatssozialismus. Monika Boll beschäftigt sich mit der Rolle der Soziologie in der BRD zum Ende der 1950er Jahre. Insbesondere bekannte Soziologen wie Helmut Schelsky, Hellmuth Plessner, Ralf Dahrendorf und die beiden Koryphäen der ›Kritischen Theorie‹, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, stritten angesichts des noch zu bestimmenden Platzes ihrer Disziplin in der ›nachtotalitären Gesellschaft‹ heftig über die Frage der Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft und über Soziologie als stabilisierende bzw. als systemtranszendierende Kraft. Ausgehend von der Frankfurter Schule, aber auch von Denkern wie Wolfgang Abendroth und dem jungen Jürgen Habermas, drangen fortschrittliche Diskurse immer mehr in die studentischen Debatten ein und führten nicht nur zu einer Wiederbeschäftigung mit dem Marxismus, sondern bildeten auch »eine der Grundlagen der bald entstehenden Vorstellungen linker Szene und alternativer Lebensmodelle« (S. 22), wie sie sowohl in den Kommunen der ›68er‹ als auch in Landkommunen der siebziger und achtziger Jahre zum Ausdruck kamen. Theoriegeleitete Lebensgestaltung also machte den Zauber dieser Bewegung aus. Der besonderen Rolle Westberlins als Gedankenschmiede und politischem Experimentierfeld unter den Bedingungen des Kalten Krieges wendet sich David Bebnowski zu, zentriert um die Persönlichkeit des deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Franz L. Neumann, der die entstehende Politikwissenschaft an der 1947 gegründeten Freien Universität bis zu seinem Tod 1954 mitprägte. Re-Education und Demokratisierung zur Immunisierung gegen ›totalitäre‹ Versuchungen bildeten die Achse, auf der sich eine sozialistisch orientierte, aber sich sowohl vom Integrationismus der Sozialdemokratie als auch vom Autoritarismus der Kommunisten abgrenzende Politikwissenschaft entwickeln konnte, die in der Tradition der Deutschen Hochschule für Politik im »OSI« aufging , dem nach Otto Suhr, Wegbegleiter Neumanns und Ernst Fraenkels und Vorgänger Willy Brandts als Regierender Bürgermeister Westberlins, benannten bedeutenden Institut. Zeitschriften wie die »ProKla« oder »Das Argument« entstammten dem Wirkungsumfeld des OSI, ebenso bedeutende Theoretiker wie Johannes Agnoli, Elmar Altvater, Wolf-Dieter Narr, andere wie Ossip K. Flechtheim oder Hellmut Gollwitzer sind hinzuzurechnen. Die Neue Linke, gerade die spezifische Westberliner Ausprägung, wäre ohne diese – radikalen Positionen durchaus offen gegenüberstehende – Politikwissenschaft und ihren theoretischen Beitrag kaum zu denken.

Einen der konzeptionellen Schlüsseltexte der damaligen Ära nimmt Michael Hewener unter die Lupe. Johannes Agnolis Die Transformation der Demokratie schlug hohe Wellen in der akademischen wie politischen Diskussion. Agnoli kritisierte in seinem Aufsatz, dass unter dem Mantel des »sozialen Friedens«, des Pluralismus und der moderaten Formen des gesellschaftlichen Konfliktaustragens letztlich Herrschaft stabilisiert, Klassenantagonismen verdeckt und die Massen entpolitisiert würden. Hewener setzt sich nicht zuletzt mit dem posthum von Kraushaar u. a. gegen Agnoli erhobenen Vorwurf auseinander, seine Positionen trügen einen von Carl Schmitt oder Vilfredo Pareto geprägten »faschistischen Kern«, und weist dies entschieden zurück. Dass Agnolis Diagnosen auf marxistisch-operaistischer Basis auch heute noch verwendbar sind, stellt Hewener abschließend fest, denn »die gegenwärtige pluralistische Fassung der Einheitspartei, die in ihrer neoliberalen Ausrichtung von CSU, FDP, Grünen, SPD bis zu dem regierungswilligen Flügel der Linkspartei reicht, [hat] an Integrationskraft verloren […], sodass rechtsradikale Kräfte an Stärke gewinnen.« (S. 53)

Nach dem Beitrag von Felix Kollritsch zur Geschichte des Verhältnisses des SDS zur SPD, am Beispiel der Zeitschriften »Neue Kritik« und »Unser Standpunkt« dargestellt und schon die 50er Jahre einbeziehend, folgt der Aufsatz von Anina Falasca zum Tunix-Kongress von 1978 in Westberlin und zur theoretischen Neuorientierung der nichtorthodoxen Linken in Richtung Alternativbewegung. Jana König schlägt einen beeindruckenden Bogen, wenn sie am Beispiel des ›Deutschen Herbstes‹ von 1977 und des Einheitsprozesses in Deutschland von 1989/90 die Bedeutung von Theorie in Zeiten massiver Krisen der Linken untersucht. Die Verschränkung von Theorie, politischer Praxis und subjektiv-emotionalem Erfahren, zumal in Krisenzeiten, charakterisiert sie mit dem Begriff ›Weltaneignung‹ und widerspricht damit einem gängigen Klischee von entweder ›verkopften‹ und weltabgewandten Theoretikern einerseits und theoriefeindlichen Praktikern andererseits als scheinbarer Dichotomie linker Existenz. Dieser Beitrag gehört zu den dichtesten dieses Heftes und ist auch auf der Webseite der Zeitschrift zu lesen (http://www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de/?p=728).

Den Schwerpunkt beschließt der Beitrag Robert Wolffs zum Konzept Stadtguerilla. Hier diente der RAF, aber auch den Westberliner ›Revolutionären Zellen‹, die Theorie von Guerillakampf und Revolution als Zauber über die Realität und drapierte den voluntaristischen Wunsch z. B. nach Gewaltanwendung.

Neben diesem Schwerpunkt beinhaltet Heft 2018/2 noch zwei Beiträge aus der Revolutionsperiode von 1917ff. Hier geht es um wilde Streiks und staatliche Arbeitsplanung in den USA 1917/18 (Robert Ovetz) sowie um den antibolschewistischen Arbeiteraufstand in Izevsk (Dimitrij Olegovic Curakov). Außerdem befasst sich Kay Schweigmann-Greve mit der SJD- Die Falken und ihrer theoretischen Positionierung als Linkssozialisten in Affinität zur jugoslawischen Variante des Sozialismus sowie mit den engen, auch persönlichen Beziehungen nach Jugoslawien. Selbst für aus der Sozialdemokratie stammende Linkssozialisten (wie mich) liest man zwar durchaus einiges Bekanntes, insgesamt aber liegt hier noch breit erschließbares Brachland vor uns.

Neben einem Bericht über die ITH-Konferenz ArbeiterInnenbewegung, ungleiche Entwicklung und Migration in Europa am 27. Oktober 2017 in Berlin können sich die Leserinnen und Leser noch über 19 Besprechungen informieren.