von Holger Czitrich-Stahl
Philipp Kufferath legte 2017 eine umfangreiche und mit dem Christian-Gottlob-Heine-Preis der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen für die beste geisteswissenschaftliche Dissertation prämierte Biographie des Linkssozialisten, Intellektuellen, sozialdemokratischen Programmatikers und Funktionärs sowie radikaldemokratischen Vordenkers Peter von Oertzen vor, die eine sehr gelungene Synthese aus Biographik, Sozialwissenschaften, Psychologie, Wissenschaftsgeschichte und Politikwissenschaften darstellt.
Wie es im Klappentext etwas bescheiden heißt, analysiert die Studie »auf breiter Quellengrundlage von Oertzens spannungsreichen Lebensweg und verortet ihn innerhalb politischer Netzwerke und intellektueller Bezugswelten. Auf diese Weise ergeben sich ungewöhnliche Einblicke in die Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert«. Der Autor, Philipp Kufferath (geb. 1980), studierte Geschichte, Soziologie, Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie Philosophie in Berlin und Göttingen und arbeitet u.a. als geschäftsführender Herausgeber des Archivs für Sozialgeschichte und bei der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Die im Klappentext erwähnten politischen Netzwerke und intellektuellen Bezugswelten von Oertzens allerdings haben es in sich. Mit einem geflügelten Wort des Barons von Münchhausen kokettierend umschrieb von Oertzen seinen intellektuell-politischen Reifungsprozess wie folgt: »Ich habe meine moralisch-soziale Person gewissermaßen politisch-wissenschaftlich selber konstruiert, mich also sozusagen am eigenen Schopfe hochgezogen und in der Schwebe gehalten«, wie er es Oskar Negt, einem intellektuellen Weggefährten 1994 schrieb (S.9). Und so, in ständiger Auseinandersetzung mit den Zeitläuften, ihrer Reflexion und den diese beeinflussenden Denkansätzen, widerspiegelt sein Leben einen komplexen Prozess der Beeinflussung und Durchdringung in Zeit, Raum und Politik, »der aufgrund der Breite und Vielfalt schwindelig machen kann«, wie Kufferath einleitend auf sympathische Weise einräumt (S.10). Von Oertzen sei eine vielschichtige Persönlichkeit gewesen, die im Wandel der Zeiten und Diskurse immer neue Identitätsfacetten ausgebildet habe. Ihr müsse sich ein Biograph nicht nur mit großem Respekt, sondern auch mit politischem Feingefühl, komplexem methodischem Handwerkszeug und dem Bewusstsein vielleicht noch nicht hinreichender Lebenserfahrung nähern. Den schmalen Grat zwischen Hagiographie einerseits und holzschnittartiger Reduktion auf eine Teilbiographie andererseits hat Kufferath durchaus meisterlich bewältigt.
Wer also war Peter von Oertzen? Sein Lebensweg und und seine politisch-geistige Entwicklung zeichnen die großen politischen und kulturellen Brüche zwischen dem Ende der Weimarer Republik, dem Hitlerreich und dem ›Erwachsenwerden‹ der Bundesrepublik Deutschland nach. Dass sich seine Persönlichkeit im Kontext eines nationalkonservativen, preußisch geprägten Elternhauses vollzog, den Nationalsozialismus und den Krieg zunächst bejahend in sich aufnahm, um dann nach der Befreiung vom Faschismus den Platz an der Seite der Arbeiterbewegung zu suchen, rekonstruiert Kufferath im ersten Kapitel seiner Arbeit (S. 55-171). Der am 2. September 1924 in Frankfurt am Main Geborene wuchs in Berlin auf, zunächst im Arbeiterbezirk Neukölln, später im mondänen Charlottenburg; die Eltern hatten sich getrennt. Ein weiterer Umzug führte nach Wilmersdorf in die Nähe des Kurfürstendammes. In Wilmersdorf lebten im Schnitt 13,5 Prozent jüdische Berliner, in ›Kudamm-Nähe‹ sogar rund 25 Prozent, deren Deportation dem zeitweiligen HJ-Mitglied und seit Ende 1941 Soldaten kaum verborgen geblieben sein dürfte. Als Soldat wurde von Oertzen zwei Mal verwundet und erfuhr überdies vom Tod seines Vaters im Juli 1944. Im Lazarett erlebte er das Kriegsende, die bedingungslose Kapitualtion und den Untergang des Hitlerreiches und der Ideale, an die er lange geglaubt hatte.
Doch der Bruch mit den Stereotypen seiner politischen Sozialisation aus dem Faschismus vollzog sich schrittweise, nicht abrupt. So sympathisierte von Oertzen, der Preußenspross, 1945 zunächst mit der CDU und hielt Distanz zu den Arbeiterparteien SPD und KPD, dabei erprobte er erstmals sein rhetorisches Geschick (S. 90). Seit November 1946 studierte er an der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen, erste verfasste Texte aus dieser Zeit lassen eine Hinwendung zum Sozialismus bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit jungkonservativem Gedankengut des ›Tat-Kreises‹ der Weimarer Republik erkennen. Am 4. November 1946, dem Datum seiner Immatrikulation in Göttingen, trat von Oertzen der SPD bei, deren Mitglied er bis 2005 blieb, und schloss sich der ›Sozialistischen Studentengruppe‹ an, die seinerzeit einen ethischen Sozialismus propagierte und unter dem Dach des SDS wirkte. Schon bald brachte er es zu ihrem Vorsitzenden (S. 109). Vieles ist aus dem Nachlass von Oertzens geschöpft, also aus Entwürfen, Briefen und Texten, ergänzt um die entsprechenden Sekundärquellen, die eine einordnende Erörterung erst möglich machen.
Schon früh zeigt sich in den Quellen, dass den Intellektuellen in der SPD in den Parteigliederungen ein spürbares anti-intellektuelles Misstrauen entgegenschlug, dem ein eher handfestes und geselliges Organisationsverständnis der traditionellen Arbeiterpartei entsprach. Erst die enttäuschten Erwartungen der SPD bei den ersten freien Wahlen in der BRD ließen die Erkenntnis reifen, dass die Partei mehr denn je auf Kader aus dem Wissenschaftsbetrieb und junge Menschen angewiesen sei, die ein eigenes Vorfeld zu entwickeln und Mitglieder zu rekrutieren in der Lage wären. Angesichts der schon damals spürbaren, allerdings auf einem anderen Niveau anzusiedelnden strukturellen Krise beschloss daher der Bezirk Hannover eine Art ›Jugend-Quote‹, der zufolge jedem Vorstand auf jeder Parteiebene ab Januar 1950 mindestens zwei Mitglieder angehören, die nicht über dreißig Jahre alt sind (S. 144). Damit war stets die typisch sozialdemokratische ›Kärrnerarbeit‹ aufs Engste verbunden. Doch der nunmehr Freigeist Peter von Oertzen sympathisierte angesichts der nach der doppelten Staatsgründung in der BRD einsetzenden Debatte um einen ›Wehrbeitrag‹ schnell mit der auch in Göttingen aktiven pazifistischen ›Ohne-mich-Bewegung‹, die seine Linksentwicklung spürbar forcierte (S.144ff).
Nach und nach wurde Peter von Oertzen zu einem Repräsentanten der Parteilinken der SPD. Auf dem Godesberger Parteitag von 1959, an dem er als einer von wenigen exponierten Delegierten teilnahm, gelang es ihm nicht, einen Gegenentwurf zum Godesberger Programm in die Debatte einzubringen, nachdem er den Alternativentwurf Wolfgang Abendroths in Teilen verworfen hatte. Dennoch blieb er auch nach dem Rauswurf der SDS-Fördergesellschaft um Wolfgang Abendroth aus der SPD einer der wenigen Orientierungsfiguren linker Programmatik in der SPD, sein Marxismusverständnis integrierte Elemente rätedemokratischer, syndikalistischer und reformsozialistischer Positionen und trug auf diese Weise nicht wenig zur Profilierung der inhaltlichen Strömungen der Jungsozialisten, insbesondere der Reformisten und der Anti-Revisionisten in den späten 60er und den 70er Jahren bei. An programmatischen SPD-Diskussionen wie dem ›Orientierungsrahmen 1975-1985‹ und dem Berliner Programm von 1989, das deutlich seine damals ökosozialistisch-radikaldemokatische Handschrift trug, wirkte er federführend mit. Insofern gehört sein Wirken zum linkssozialistisch-marxistischen Erbe der SPD, das sie leider heute gern vergessen möchte.
Unvergessen bleiben allerdings auch seine partielle Unduldsamkeit gegenüber dem Marxismus der ›Juso-Linken‹ und den Positionen Abendroths, wie in den Debatten um die ›Herforder Thesen von Marxisten in der SPD‹ von 1979ff deutlich wurde, wenngleich er deren Existenzberechtigung innerhalb der Sozialdemokratie respektierte, was auch den Autor dieser Besprechung betraf. Gleichzeitig hatte er als Kultusminister in Niedersachsen von 1970-1974 nicht immer ein glückliches Händchen als Reformer der Schulen und Universitäten, wenngleich der Druck von konservativer Seite beträchtlich blieb. Und so blieb, auch das erwähnt Kufferath, seine Haltung in Sachen Berufsverbote ambivalent. Einerseits hielt er die DKP und ihre Vorfeldorganisationen wie den MSB Spartakus oder die SDAJ für SED-abhängig, andererseits unterhielt er rege Kontakte zu trotzkistischen und syndikalistischen Repräsentanten und zum SHB, der ebenfalls die ›Stamokap-Theorie‹ vertrat. Im Endeffekt aber machte auch sein Ministerium keine löbliche Ausnahme von der Berufsverbotspraxis, wie Kufferath durchblicken lässt.
Hier nun müssen weitere biographische Details unterbleiben. 2005 verließ von Oertzen aus Protest gegen die Agenda-Politik die SPD und stieß vorübergehend zur WASG, deren Vereinigung mit der PDS zur Linkspartei er aber nicht mitging. Er blieb ein widersprüchlicher und zugleich anregender Geist, mal radikaler Demokrat, dann vehementer Linkssozialist, trotzdem immer ein Sozialdemokrat seiner Zeitläufte. Viele ihrer Brüche finden sich in seiner Biographie wieder. Philipp Kufferath konnte uns einiges darüber mitteilen, auch im kritischen Sinne. Und in diesem Kontext sollten wir von Oertzen im Gedächtnis behalten.