Die Gefahren des Friedens. Zur Krise des Gesundheitswesens im Deutschland der Nachkriegszeit
von Felicitas Söhner
Der vorliegende Band entstand im Rahmen des Projekts »The reconstruction of the public health system in Germany up to 1949« am Birkbeck College der University of London. In einer vergleichenden Studie analysiert Jessica Reinisch das Ausmaß, in dem Charakter und Umfang der öffentlichen Gesundheitsarbeit in den jeweiligen Zonen von administrativen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren geprägt wurden. Die Zeithistorikerin untersucht wie die Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs Fragen öffentlicher Gesundheit behandelten und wie sich deren Konzepte im Laufe der Zeit veränderten.
In vergleichender Perspektive werden Fragen des Wiederaufbaus der deutschen Gesundheitsversorgung in den deutschen Besatzungszonen behandelt. Reinisch betrachtet die alliierte Politik vor dem Hintergrund einer ehemals feindlich eingestellten Bevölkerung. Sie analysiert Begründungsmuster der deutschen Ärzteschaft für eine durch den Krieg erschütterte Identität, Glaubwürdigkeit und Legitimität. Im Buch zeigt sie, wie der Stellenwert, den die Alliierten der öffentlichen Gesundheitsvorsorge beimaßen, sich nach Kriegsende wandelte und dass diese als unverzichtbare Voraussetzung verstanden wurde, um den Wiederaufbau der deutschen Gesellschaft zu gewährleisten.
Während Teil I des Bandes Alliierte und Deutsche (Kapitel 2 bis 4) darstellt, wie sich Besatzer und einige Einflussgrößen der Ärzteschaft zukünftigen beruflichen Aufgaben zuwandten, befasst sich Teil II Kompromisse und Konfrontationen (1945 – 1949) (Kapitel 5 bis 8) mit den Entwicklungen des Sektors ›öffentliche Gesundheit‹ in allen vier Besatzungszonen.
Reinisch betrachtet Aspekte der öffentlichen Gesundheit in ihren historischen und historiographischen Kontext. Das erste Kapitel macht deutlich, dass die Ankunft der vier Besatzungsarmeen als entscheidender Moment der deutschen Geschichte verstanden werden kann und die alliierten Konzepte für Nachkriegsdeutschland nähere Betrachtung verdienen.
Die Autorin befasst sich mit den offiziellen alliierten Plänen, die zum Teil während des Krieges zur Gesundheitspolitik eines Nachkriegsdeutschlands gemacht wurden. Geprägt von dem Glauben an einen typisch dominanten und totalitären deutschen Nationalcharakter, sollte Deutschland als besiegte und eroberte Nation behandelt werden. Neben der Rolle des Konzepts eines ›nationalen Charakters‹ in der alliierten Politik ist die Frage der Haltung der Besatzungsmächte zur Zusammenarbeit mit deutschen Remigranten zentral.
Das folgende Kapitel konzentriert sich auf die Gruppe deutscher Ärzte und Gesundheitsbeamten, die das Land nie verlassen hatten. Reinisch analysiert wie deren Vertreter die Ereignisse der NS-Zeit reflektierten und sich gegenüber Alliierten und zurückkehrenden Landsleuten verhielten. Im Fokus der Untersuchung steht die Viersektorenstadt Berlin als Sitz des Alliierten Kontrollrats (ACC) und Hauptstadt der Sowjetzone. Die Verfasserin bemerkt eine tiefe Spaltung der deutsch-deutschen Ärzteschaft, die sich im politischen Kontext der ersten Nachkriegsjahre zunehmend verstärkt habe: »Perhaps nowhere were these divisions as visible as in a contrast of the two very different health offices presented here: Sauerbruch, Gohrbandt, and Redeker on the other side and Zetkin, Konitzer, and Klesse on the other.« (146)
Der zweite Teil des Bandes betrachtet den Umgang mit Spannungen im Zusammenhang von Entnazifizierung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Hier geht die Autorin ein auf die Auswirkungen einer massiv zerstörten Infrastruktur und einer kaum mehr funktionierenden deutschen Verwaltung. Im Zentrum steht die zentrale Rolle gesundheitspolitischer Fragen für den deutschen Wiederaufbau und die erstrebte Gesellschaftsreform. Der Leser erhält einen Vergleich der britischen, amerikanischen, sowjetischen und französischen Programme. Reinisch beschreibt den Wandel von Zielvorgaben weg von einer kurzfristigen Beteiligten alliierter Behörden hin zur Unterstützung und Entnazifizierung des deutschen Gesundheitssystems. In diesem Zusammenhang stellt die Autorin wesentliche Unterschiede der alliierten Konzepte dar rund um die vier D’s in der Deutschlandpolitik: demilitarisation, decentralisation, denazification, democratisation.
Der vorliegende Band bietet auf breiter Quellenbasis einen interessanten Vergleich der Situation der öffentlichen Gesundheitsvorsorge in allen vier deutschen Besatzungszonen bis 1949. Der Leser erhält einen Eindruck politischer und wirtschaftlicher Kriterien, die für Erfolg oder Misserfolg der Besatzungspolitik bestimmend sein konnten. Reinisch bietet einen gut recherchierten Einblick, in die Strategien von Gesundheitspolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und zeigt, wie sich sozialpolitische Konzepte in Folge politischer, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen wandelten. In diesem Zusammenhang beschreibt der Band eine führende politische und wirtschaftskräftige Position der USA im Vergleich zu weniger starken Möglichkeiten der anderen Besatzungsmächte. Reinisch analysiert schlüssig und gekonnt die Einbettung öffentlicher Gesundheitsversorgung in ein weitreichendes Feld gesellschaftlicher und politischer Fragen.
Der Autorin gelingt es interdisziplinäre Aspekte der öffentlichen Gesundheit in erweitertem perspektivischem Rahmen zu betrachten. Sie zeigt die zentrale Rolle des Gesundheitswesens in der Besatzungspolitik aller vier Siegermächte. Zusammenfassend lässt sich schließen, dass Reinischs Band sich auszeichnet sowohl durch den innovativen Blick auf spannende sozialpolitische Fragen. Nicht nur deswegen findet der Leser in The Perils of Peace eine Bereicherung für das Verständnis der Besatzungszeit und der Rolle von Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts.