von Holger Czitrich-Stahl
Clara Zetkin (1857-1933) war mit ihrer Freundin Rosa Luxemburg zusammen eine entschiedene Kämpferin für Frieden, Frauenrechte und soziale Emanzipation in der deutschen Sozialdemokratie, zugleich die wohl bedeutendste Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung ihrer Zeit. Trotz ihrer historisch durchaus hochrangigen Bedeutung für die Arbeiter- und die Frauenbewegung der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik ist seit dem Ende der DDR weder eine vollständige Werkausgabe noch eine ergänzte Biographie oder eine Edition ihrer schriftlichen Zeugnisse aufgelegt worden. Marga Voigt ist es daher ein dringendes Anliegen gewesen, rund 100 Jahre nach der europäischen Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges eine Edition der »Kriegsbriefe« Clara Zetkins zusammen zu stellen und herauszugeben.
Dabei wurde sie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt. Die Herausgeberin wirkt seit vielen Jahren führend an der Weitergabe der historischen Erinnerung an das Wirken jener großen Sozialistin Clara Zetkin mit, die sowohl als Verantwortliche der sozialistischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit, als Sekretärin der Sozialistischen Frauen-Internationale, als aktive Kriegsgegnerin, als Politikerin der KPD sowie als Mahnerin vor dem Faschismus unsere Aufmerksamkeit nach wie vor verdient hat. Auf Clara Zetkins Initiative auf dem sozialistischen Frauenkongress in Kopenhagen 1910 geht der jährlich am 8. März begangene ›Internationale Frauentag‹ bzw. ›Weltfrauentag‹ zurück.
Der Sozialdemokratie trat Clara Zetkin 1878 bei. 1889 formulierte sie ihre Position, dass der Frauenunterdrückung in der modernen kapitalistischen Gesellschaft durch den Einsatz für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau auch vom Mann zu begegnen ist; längst wird ja auch heute noch nicht gleicher Lohn für gleiche Arbeit bezahlt. Ab 1891 gab sie Die Gleichheit heraus. Zum marxistischen Flügel und zu den Kriegsgegnern gehörend, schloss sich Clara Zetkin 1917 der USPD an, nachdem sie vorher bereits zur ›Spartakusgruppe‹ zu zählen war. Im März 1919 trat sie der zur Jahreswende gegründeten KPD bei und repräsentierte diese seit 1920 im Deutschen Reichstag. Dessen Alterspräsidentin wurde Clara Zetkin nach den Juliwahlen von 1932. In ihrer Eröffnungsrede warnte sie vor den Nationalsozialisten, die zur stärksten Partei im Parlament geworden waren, und forderte die Arbeiterbewegung, also Gewerkschaften, SPD und KPD, zur Einheit gegen die drohende Errichtung einer Nazidiktatur auf. Ihr war bewusst, dass Hitler die Völker in den Krieg treiben würde. Nach der Machtübertragung an Hitler ging Clara Zetkin ins Exil. Am 20. Juni 1933 starb sie in der Nähe von Moskau, wo sie an der Kremlmauer bestattet wurde. In den Kriegsjahren 1914-1918 lebte sie in Stuttgart-Wilhelmshöhe.
Insgesamt versammelt die Edition 199 Briefe, Postkarten und Entwürfe, von denen 152 hier erstmals publizistisch an die Öffentlichkeit gelangen. Ergänzt werden sie durch elf Dokumente, die für das Verständnis des in den Blick genommenen Wirkens Clara Zetkins während des Ersten Weltkriegs von großen Bedeutung sind. Dabei sind die Editionskapitel insgesamt nach den einzelnen Jahren geordnet und umfassen nebst der zugeordneten Dokumente 430 Seiten. Der Anhang wiederum erstreckt sich über rund 75 Seiten und enthält gesonderte Beiträge von Karl Kautsky, Franz Mehring, Juli Martow, Rudolf Breitscheid, Heinrich Ströbel, Wilhelm Düwell, Edwin Hörnle und noch einmal Kautsky, die allesamt zum politischen Rahmen gehören, in dem sich die Gedanken Clara Zetkins bewegen.
Die Kriegsbriefe des Jahres 1914 werden mit dem 2. August durch eine Nachricht Clara Zetkins an die russische Frauenrechtlerin und Revolutionärin Alexandra Kollontai eröffnet, in der sie ihre Befürchtung äußert, dass die geplante sozialistische Frauenkonferenz mitsamt einer großen Friedensdemonstrationen nun dem Kriegsausbruch zum Opfer fallen dürfte. Schließlich hatte Kaiser Wilhelm II. am 1.August die Mobilmachung befohlen und Russland den Krieg erklärt, womit die Kettenreaktion hin zum Weltkrieg durch den Eintritt des Deutschen Reiches beschleunigt wurde. Sie schrieb dazu an Kollontai und gleichlautend an die niederländische Sozialistin Heleen Ankersmit: »Wir müssen uns zunächst darauf beschränken, eine jede in unserem eigenen Land unseren Ideen unerschütterlich weiter zu dienen und gerade dadurch an der Wiederherstellung des Friedens zu arbeiten, dessen die Völker so dringend bedürfen.« (S.15) Gleichzeitig informierte sie ihre Korrespondenzpartnerinnen über die unmittelbaren Auswirkung des Kriegsrechts: »Heute morgen um fünf Uhr wurde ich aus dem Schlaf geklingelt. Es fand die erste große Haussuchung statt.« (S. 16) Ihre Kontakte zu in Stuttgart lebenden Exil-Bolschewiki dürfte diese Polizeiaktion veranlasst haben, mutmaßte Zetkin entsprechend.
Am Schicksalstag der deutschen Sozialdemokratie, dem 4. August 1914, stimmte die Reichstagsfraktion nach heftiger Debatte unter Wahrung des Fraktionszwanges der Bewilligung der Kriegskredite zu. Rosa Luxemburg versandte deshalb einen Protestbrief an rund 300 Adressaten des linken Flügels und schlug als Zeichen des Protests gegen die Entscheidung des 4. August den demonstrativen Parteiaustritt vor. Damit setzte sie sich auch nicht gegen Clara Zetkin durch, die am 5. August an Rosa Luxemburg und Franz Mehring schrieb, dass der Schritt des Austritts »unseren eigenen Flügel vollständig sprengen (würde)«. (S. 17) Aufgewühlt schrieb sie weiter: »Sobald der Krieg vorüber ist, bin ich bereit, mit Euch eine entschiedene Kampfansage an die Partei vorzunehmen oder aber aus ihr auszutreten unter eingehender Begründung. Das wird dann Beachtung und Nachfolge finden und politisch wirken.« (S. 18) Als am 2. Dezember 1914 mit Karl Liebknecht erstmals ein Sozialdemokrat im Reichstag offen gegen die Bewilligung der zweiten Kriegskredite votierte, fügte sich die insgesamt schon gewachsene Minderheit der Fraktion nach der internen Abstimmungsniederlage ein weiteres Mal der Fraktionsdisziplin. Clara Zetkin kommentierte dieses Verhalten in einem Brief an den Schweizer Linkssozialisten Robert Grimm: »Nun wird die Hetze gegen Karl L[iebknecht] einsetzen. Ich hoffe, die Internationale wird einstimmig ehren, was die engbrüstige Fraktionsdisziplin verdammt.« (S. 64) Doch dauerte es noch ein ganzes Jahr, bis die Minderheit offen im Reichstag auftrat. In der Zwischenzeit regte sich Clara Zetkin, indem sie im Rahmen ihrer Kontakte in der Sozialistischen Frauen-Internationale für eine konsequente Antikriegspolitik warb. Einen wichtigen Zwischenschritt auf dem Weg dahin markierte die Sozialistische Frauenkonferenz, die vom 26. bis 28. März 1915 in Bern stattfand. Dort wurde das bekannte Friedensmanifest verabschiedet, dass die sozialistischen Parteien zu einer machtvollen Friedensaktion aufforderte und einen sofortigen Verständigungsfrieden einklagte. (S. 209-211) Für dieses Manifest und die erste Nummer der ›Internationale‹ warb Clara Zetkin auch beim oppositionellen Bremer Reichstagsabgeordneten Alfred Henke, dem sie zu überlegen nahelegte, »wieviel 1000 Exemplare Sie benötigen«. (S. 156) Dieser Brief befand sich bislang nur in Henkes Nachlass im Archiv der sozialen Demokratie und gehört zu den 152 Erstveröffentlichungen des Bandes.
Da die Korrespondenzen natürlich unter den Bedingungen des Belagerungszustandes und der Überwachung organisiert werden mussten, findet sich in manchem Schreiben ein Hinweis auf Chiffrierungen von Informationen oder Personen an der Polizei oder der Zensur vorbei. So erhielt Robert Grimm den Hinweis zu einem möglichen Verbindungsmann: »Wenn Sie keine sichere Verbindung haben, so telegraphieren Sie mir: meine Frau noch krank. Ich schicke dann einen zuverlässigen Genossen.« (S. 170) Und auch die Parteispaltung im März 1916, als 20 Abgeordnete um Hugo Haase, Georg Ledebour, Wilhelm Dittmann etc. aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen wurden und die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG) gründeten, findet in den Briefen ihren Widerhall. So forderte Clara Zetkin am 24. März und am 4. April 1916 Dittmann auf, im Reichstag zur polizeilichen wie zur innerparteilichen Zensur gegen Die Gleichheit zu protestieren. Am 25. Mai 1916 trug Dittmann in einer scharfen Rede gegen die Militärdiktatur diese Maßregelungen in das Parlament. Am 18. Mai 1917 wurde Clara Zetkin schließlich durch den Parteivorstand der SPD als Herausgeberin von Die Gleichheit entlassen, worüber sie brieflich Hugo Haase und die Wiener Sozialistin Adelheid Popp unterrichtete (S. 317-320)
Neben der sozialistischen Politikerin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin scheint in ihren Briefen auch immer wieder die persönliche Seite Clara Zetkins durch. So finden sich z.B. Geburtstagsgrüße an Marie Geck (S. 174) sowie warmherzige Worte für Luise Kautsky (S. 363) in den Briefzeugnissen, vor allem auch ihre Anteilnahme an dem Leid Rosa Luxemburgs nach dem Tod ihres Freundes Hannes Diefenbach. Sie selbst überbrachte ihr diese Nachricht nach gemeinsamer Abwägung mit Mathilde Jacob (S. 355-356), ob man Rosa dieses Furchtbare nicht ersparen solle. Wenige Tage später musste sie Amalie Westmeyer kondolieren, die ihren Mann, den Linkssozialisten Fritz Westmeyer, an der Westfront verloren hatte. Auf diese Weise spiegeln die Briefe Clara Zetkins all die grausamen, mit dem Ersten Weltkrieg verbundenen Entwicklungen und Verluste von Freunden und Genossen wider.
Ab dem Herbst des Jahres 1918 geben die Briefe ein beredtes Zeugnis von der sich vollziehenden Entfremdung zwischen Clara Zetkin und der USPD, besonders im Hinblick auf die Einschätzung des Entwicklungsganges der Revolution in Russland. Damit wird quasi auf persönlicher Ebene das psychologische Umfeld der Trennung des Spartakusbundes von der USPD und des Gründungsprozesses der KPD ausgeleuchtet. Wie Jörn Schütrumpf in seinem das Verhältnis der DDR-Geschichtspolitik zu Clara Zetkin erläuternden Beitrag ausführt, sah sie in einigen Entscheidungen der Bolschewiki genügend Anlass zum Widerspruch. Dass sie im Frühjahr 1919 dennoch zur KPD stieß, verdankt sich Schütrumpfs Bemerkungen zufolge vor allem der Zögerlichkeit der USPD in jener Phase der deutschen Revolution. Viele dieser Weichenstellungen und Weggabelungen zwischen 1914 und 1918 an schriftlichen Zeugnissen eindrucksvoll erhellt zu haben ist das Verdienst dieser Edition Marga Voigts. Vielleicht hätte der Titel eher ›Antikriegsbriefe‹ lauten können, denn ihre Briefe dokumentieren ja Clara Zetkins konsequente Antikriegshaltung. Alles in allem ist zu hoffen, dass diese Briefedition nun eine aktualisierte, den endlich ›gesamtdeutsch‹ verfügbaren Quellenbestand einbeziehende Biographie und um weitere Texteditionen des Schaffens bzw. um eine Werkgesamtausgabe anzustoßen vermag.