von Felicitas Söhner
Erinnern an ›1968‹. Kämpfe um die Deutungsmacht in Deutschland und Frankreich
Was war ›1968‹? Um diese Frage und die Geschichte der Entwicklung einer politisierten Generation ist bereits viel geschrieben, gesprochen und diskutiert worden. Silja Behre, Historikerin an der Universität Bielefeld und Lektorin des DAAD in Paris, fragt in ihrer Dissertationsschrift, wie die bis heute populären Interpretationen und Schlussfolgerungen um die 68er-Bewegung und die ihr zugeschriebenen Auswirkungen im medialen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs in Frankreich und der Bundesrepublik entwickelt und geführt wurden.
Der vorliegende Band, ist im Rahmen des Teilprojekts 1968 – Ein Kommunikationsereignis? des SFB 584 Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte entstanden. Die Autorin untersucht in synchroner, diachroner und transnationaler Perspektive die kollektiven Erinnerungsprozesse einer sozialen Bewegung nach ihrem Zerfall, die Erinnerung eines nicht mehr existierenden Kollektivs. Dazu blickt Behre hinter die Kulissen der Konkurrenzen um das ›wahre 1968‹ und analysiert die politischen Kämpfe um die Erinnerung einer sozialen Bewegung in deutsch-französischer Perspektive. (10). Zu Beginn stehen die Fragen: Was war die Utopie der 68er-Bewegung und kann es nach der Erfahrung des Zerfalls der Protestbewegung einen neuen Aufbruch geben? Was war der politische Charakter der 68er-Bewegung? An welchen politischen Leitideen orientierten sich ihre Akteure? Wer ist legitim, Interpretationen der 68er-Bewegung vorzulegen? (23) - also: Wie erinnert eine soziale Bewegung, die zerfallen ist?
Um diesen Desideraten nachzugehen, analysiert die Autorin die symbolischen Auseinandersetzungen um die 68er-Bewegung als Erinnerungskämpfe der 68er-Bewegung. Ausgehend von einem Zusammenhang zwischen der Struktur des einstigen Kollektivs in ihrem zeitlichen Verlauf – Formierungs-, Mobilisierungs- und Zerfallsphase – und den späteren Deutungskämpfen um die 68er-Bewegung strukturiert Behre die Antworten anhand von drei Konfigurationen: die Auseinandersetzung um das Politische der 68er-Bewegung zehn Jahre nach dem Ende der Proteste (Kapitel II), der Kampf um die Wahrnehmungskategorie ›Generation‹ (Kapitel III) und die forschungspolitischen Historisierungsstrategien im Wettkampf um die Vergangenheitsverwaltung der 68er-Bewegung (Kapitel IV, V und VI).
Unter dem Titel Politische Möglichkeitsräume nach dem Ende der 68er-Bewegung werden die konkurrierenden politischen Ordnungsentwürfe der ehemaligen Protestträger zehn Jahre nach Ende der 68-Bewegung untersucht. Behre stellt zentrale Trägergruppen der französischen und deutschen Protestbewegung vor und führt die Entwicklung des Netzwerkes nach dessen Zerfall weiter. Dazu differenziert sie die Rolle des ›Erlebens‹ von der Rolle der ›Erkenntnis‹: Die auf der formalen und inhaltlichen Ebene der individuellen Erinnerungen deutlich werdende Entgrenzung des Politikbegriffs führte zur Pluralisierung einer teleologischen Geschichte zu vielen, kontingenten Geschichten. Das subjektzentrierte Politikverständnis valorisiert das Erleben gegenüber der Rationalität der Erkenntnis. (108) Diese Pole werden für Behre mit der Konstruktion der Kategorie 68er-Generation noch deutlicher (174).
In Biographisierung der Bewegung rekonstruiert die Verfasserin den Konstruktionsprozess der Wahrnehmungskategorie ›Generation‹ in deutsch-französischer Perspektive. Als zu prüfenden Aspekt begreift Behre die Frage, inwieweit Zeitwahrnehmung und Politikverständnis verknüpft werden. (139) In diesem Zusammenhang zeigt sie, wie die Auseinandersetzung um den Begriff ›Generation‹ die Zuschreibung für ehemalige Träger der 68er-Bewegung prägte und Sprecherhierarchien strukturierte: Waren jene, die von einer im Kontext der 68er-Bewegung sich formierenden Generation sprachen also diese ›letzten Jungen‹, nach denen nichts mehr kommen konnte, weil sie die Zukunft abgeschafft hatten...? (139) Für die deutsche Perspektive spezifisch bemerkt Behre, dass die NS-Zeit bzw. der Zweite Weltkrieg als generationelle Fixpunkte verstanden wurden, von denen aus eine ›erste Nachkriegsgeneration‹ verortet wurde. (120)
Die Autorin nimmt die Debatten um die legitime Methode der Historisierung als Strategien der ›Vergangenheitsverwaltung‹ am Beispiel dreier Konferenzen in den Blick. Sie nähert sie sich diesem Aspekt im Zusammenhang einer universitären Tagung in Lyon (1986) und einem sich in diesem Umfeld formierenden intellektuellen Netzwerk der ›Vergangenheitsverwaltung‹ und seiner Deutungen, die bei einigen Zeitzeugen und Protagonisten der 68er-Bewegung auf Widerspruch trafen anhand zweier Initiativen der Vergangenheitsverwaltung, den Kongressen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Berlin (1985) und Frankfurt a.M. (1986). Behre beschreibt, dass auf diesen Veranstaltungen Mitglieder des 1970 aufgelösten SDS aufeinandertrafen als Individuen eines Kollektivs, das nicht mehr existierte (217). Anhand der Kongressorganisation und -kommunikation untersucht sie die In- und Exklusionsmechanismen eines bereits zerfallenen Kollektivs und geht der Frage nach, wie Erinnerung einer aufgelösten Gruppe stattfindet. (217) Über die auf den Kongressen geführten Diskussionen um die 68er-Bewegung zeigt Behre die Revision zentraler Prämissen einer intellektuellen Neuen Linken, die weit über das Themenfeld der Konferenzen hinausgeht und als Teil der Auseinandersetzungen im intellektuellen Feld der Bundesrepublik in den Achtzigerjahren verstanden werden kann.
In der abschließenden Zusammenfassung der Ergebnisse und Thesen zu den Erinnerungskämpfen der 68er-Bewegung werden die drei Ebenen der Analyse – Zeitwahrnehmung, kognitive Orientierung, Sprecherrollen – zusammengeführt, um die Ergebnisse und Thesen dieser Studie darzulegen. (357) Die Verfasserin konstatiert, dass die Beziehung zwischen der 68er-Bewegung und den Erinnerungskämpfen um 1968 weder als linear und kausal, noch allein gebrochen durch den fortschreitenden zeitlichen Abstand zu denken seien. (357) Vielmehr bemerkt sie, dass die Beziehung zwischen Protestbewegung und Interpretationskämpfen ein dynamischer Prozess, ein beständiger symbolischer Kampf um die Bedeutung der Proteste war und ist. (357) Gleichzeitig stellt Behre fest, dass die Wahrnehmungskämpfe der 68er-Bewegung nicht nur auf der Ebene ihrer Zeitwahrnehmung, sondern auch auf der Ebene der kognitiven Orientierungen zu einer Homogenisierung führten. (362) Der Leser erfährt, wie die Konkurrenzen um die Zeitwahrnehmung der Protestbewegung, um ihre kognitive Orientierung und um die Legitimation der Sprecherrollen die Erinnerungskämpfe der 68er-Bewegung seit den 70er-Jahren strukturierten. Die Analyse der in den 70er- und 80er-Jahren ausgetragenen Debatten gibt Aufschluss über die Erinnerungsmechanismen der 68er-Bewegung. (372)
Silja Behre zeichnet eine Geschichte der 68er-Bewegung als Geschichte ihrer Deutungskämpfe nach. In Anlehnung an Maurice Halbwachs zielt Behres Erinnerungskonstruktion darauf ab, in den Wahrnehmungskonkurrenzen nicht nur die Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit aufeinander (zu) beziehen, sondern zugleich immer auch die Zukunft zu definieren (Behre in Gilcher-Holtey 2013:53). Sie zeigt, dass die Erinnerungsgeschichte nicht allein in der Erzählung von Protagonisten und Renegaten aufgeht und auch nicht von sogenannten ›Erinnerungsunternehmern‹ als selbsterzählte diachrone Entwicklungsgeschichte verstanden werden kann. Vielmehr entwickelt die Untersuchung ein Bild in synchroner Perspektive ohne populäre Lesarten der Erinnerungsliteratur zu reproduzieren. Der vorliegende Band deckt Konstruktionsmechanismen sozialer Erinnerungsprozesse auf, die sich aus kollektiven Strukturen, in diesem Fall der Gruppe der 68er, ergeben. Damit liefert die Autorin einen wertvollen zeithistorischen Beitrag nicht nur zur Erforschung der 68er-Bewegung und eröffnet dem Leser einen Einblick in die deutsch-französische Mentalitätsgeschichte der 1960er bis 1980er Jahre.