Ein Gespräch mit dem Machiavelli-Biografen und Renaissance-Spezialisten Volker Reinhardt anlässlich des 500jährigen Jubiläums des Il Principe

Philippe Kellermann: Herr Reinhardt, Sie haben unlängst eine Machiavelli Biografie veröffentlicht und beschäftigen sich nun schon seit langen Jahren mit einer historischen Epoche, die gemeinhin unter dem Namen ›Renaissance‹ verhandelt wird. Worin besteht Ihrer Meinung nach die Faszination, die von dieser Epoche ausgeht?

Volker Reinhardt: Epochen werden erfunden, weil man sie braucht. Und man braucht sie, um sich selbst zu definieren, zu erhöhen, zu rechtfertigen. Die frühe Aufklärung erfindet das Mittelalter als finsteres Gegenbild seiner eigenen strahlenden Erscheinung. Bei der Erfindung der Renaissance geht es komplizierter zu. Hier konkurrieren Nationen um den Ruhm, die Moderne initiiert zu haben. Zuerst nimmt das der französische Historiker Michelet für Frankreich in Anspruch, bis J. Burckhardt die Renaissance seiner Meinung nach in ihr Entstehungsbiotop Italien heimholt.

Warum diese Erfindung? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfinden sich die Intellektuellen häufig als Zuspätgeborene: als nervös, dekadent, triebgestört, da im Ausleben ihrer natürlichen Instinkte eingeengt, in der Entfaltung ihrer Individualität behindert. So erfindet man als virtuelles Refugium zu dieser qualvollen Über-Zivilisation eine Zeit, in der Schönheit und Ruchlosigkeit, hohe Kultur und natürliche Brutalität zusammen bestanden, häufig in einer Brust. In dieser Blut-Gold-Renaissance nahm sich der Mensch, nicht nur der Mann, sondern auch die Frau, was ihn gelüstete, ohne lange nach Sitte und Anstand zu fragen, noch nicht geplagt von den Einsprüchen des Über-Ichs und kleinbürgerlicher Moralisten. Laut Burckhardt geschah diese Individualisierung als Befreiung von einzwängenden Normen in allen Schichten der Gesellschaft, doch wissen wir heute, dass in neun Zehnteln der damaligen Menschen die alten Wertvorstellungen und Lebensordnungen fortlebten. Sex and crime gehören zum Erfindungs-Mythos der Renaissance, und das erklärt fraglos ihre Attraktivität heute, man denke nur an die beiden Borgia-Fernsehstaffeln.

Die Renaissance fasziniert aber vor allem das 21. Jahrhundert, weil wir unsere eigenen Anfänge darin zu erkennen glauben. Dieser Abspiegelungseffekt wiederum ist auf die Macht der Bilder zurückzuführen. Die Macht der Bilder wird von den Mächtigen der Zeit neu entdeckt, reflektiert und eingesetzt. Mit anderen Worten: in der Renaissance vollzieht sich eine Medienrevolution, ähnlich wie heute. Zu diesen Medien zählen Bilder, die nach den Gesetzen der Zentralperspektive konstruiert sind und deshalb eine vorher unbekannte Wirklichkeitsnähe und Überzeugungsmacht besitzen, Statuen, die den Menschen freistehend dreidimensional und psychologisch nachvollziehbar zeigen, und Bauten, die durch ihre Monumentalität und Großartigkeit die menschliche Wahrnehmung fesseln und die Psyche beeindrucken. Zu den Medien gehört aber auch der gedruckte Text, sei es als Propagandaschrift, sei es als zeitgeschichtliche Abhandlung, beides mit neuer Massenverbreitung und Aktualität. Renaissance ist also ein Phänomen der Virtualität, der Bildlichkeit, des Images, das aber ebenso konsequent als politisches und soziales Instrument in die Realität übertragen und so geschichtsprägend wird. So betrachtet, ist die Renaissance die Zeit der Inszenierungen.

Ich glaube nicht, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten mehr oder weniger individuell sind. Sie leben ihre Individualität gemäß dem Zeitgeist jedoch unterschiedlich stark und eigenständig aus. Im Italien des 15. Jahrhunderts spielt die prestigeträchtige Selbstdarstellung der Familie und des Einzelnen eine viel größere Rolle als vorher. Die Paläste werden immer aufwendiger, ihr Schmuck wird immer eleganter gestaltet, der Kult der schönen Dinge, der Ästhetik des Alltags hält Einzug – parallel zu einer Abgrenzung der Oberschichten von den mittleren und unteren Lagen der Gesellschaft. Um es deutlich zu sagen: die Renaissance ist ein Neuformierungsprozess der Eliten, die die Gesellschaften der Zeit hierarchischer, stufenreicher, undemokratischer macht, ja Patrizier und Handwerker regelrecht voneinander entfremdet und damit republikanische Staatsideologie in Frage stellt. Darin liegt vielleicht die Faszination der Epoche bis heute – du bist, was du an angesagten Klamotten trägst, Siegeszeichen nach dem Kauf eines neuen iPhone, das verstehen die Jugendlichen von heute sehr gut.

Philippe Kellermann: Wie lässt sich hiervon ausgehend die Stellung bestimmen, die Machiavelli in Bezug auf seine Zeit einnimmt? Sie sprechen von ihm ja einerseits als »Ideologiekritiker« – und damit, so könnte man vermuten, Gegner jenes prächtigen Scheins –; und andererseits präsentieren sie ihn als einen Mythenbildner großen Stils, bzw. auch als jemanden, der seinen eigenen Mythen erlegen ist.

Volker Reinhardt: Machiavelli ist in der Tat beides, Mythen-Zerstörer und Mythen-Aufrichter. In diesem Spannungsfeld bewegt sich sein ganzes Denken. Wie kein anderer Mensch der Frühen Neuzeit ist Machiavelli Demaskierer von Propaganda, Zertrümmerer kunstvoll aufgebauter Images, Hinterfrager des schönen Scheins. Das zeigt sich zum Beispiel in seiner Geschichte von Florenz, die er in den 1520er Jahren für einen Kardinal (und späteren Papst) der Familie Medici verfasste. Wie kein anderer erfasste er hellsichtig, dass die Medici durch die Kunst der zielgerichtet eingesetzten Propaganda, durch verherrlichende Bauten und Bilder, aber auch durch nicht minder virtuos komponierte Reden und Texte seit fast einhundert Jahren den Makel der Illegitimität abzustreifen versuchten und sich als vom Himmel gesandte Retter von Florenz darstellten. Diese Kunst der Verstellung gehört für Machiavelli zum Rüstzeug des klugen Politikers, ja, die Meisterschaft darin entscheidet über den politischen Erfolg und den Rang in der ewigen Ehrengalerie der großen Staatsmänner, doch ist die Beherrschung der entsprechenden Techniken nicht Selbstzweck, sondern einem höheren Ziel untergeordnet: der Konstruktion der vollendeten Republik. Mit anderen Worten: es gibt falsche und richtige, nützliche und schädliche Mythen. Der Mythos der Medici ist insofern fehlgeleitet, als er wie die seiner Errichtung zugrundeliegende Kunst des Fädenziehens hinter den Kulissen dem falschen Staat, nämlich einer klientelär verfugten Republik, zugutekommt. Daher ist seine Aufdeckung oberste Pflicht eines ehrenfesten Republikaners, als der sich Machiavelli zeit seines Lebens sah. Andere, der Verfugung des Staates dienende Mythen aber dürfen nicht nur nicht entlarvt, sondern müssen mit aller Kraft gestärkt werden. Das gilt für die Selbstprofilierung des perfekten Fürsten, dessen nobelste Aufgabe ja darin besteht, den gleitenden Übergang in die Republik, die überlegene Staatsform, zu gewährleisten. Seine Selbstdarstellung als allwissender, alle Register der psychologisch fundierten Staatskunst ziehender uomo virtuoso darf genauso wenig angetastet werden wie die Staatsreligion der Republik. Gerade sie ist heilsame Täuschung par excellence: die Bürger-Soldaten glauben an sie und werden dadurch zu Höchstleistungen motiviert. Sie als das nachzuweisen, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich eine politische Erfindung und ein politisches Instrument, würde ihre Funktion zerstören. Hier hat der Eingeweihte also exemplarisch zu schweigen. Im Grunde ist für Machiavelli jede Gesellschafts- und Staatsgründung auf Täuschung, letztlich Heuchelei gegründet, da der radikale Egoismus des Menschen aller ethischen Werte spottet. Umso dringlicher ist es, solche Werte zu erfinden und dann unbestritten in Kraft zu lassen. Und wie sehr Machiavelli, der augebootete und aus dem Amt gejagte Diplomat der untergegangenen Republik, für seine persönliche Überlebensökonomie Mythen benötigte, zeigt sein bis zum Ende ungebrochener Glaube an den Vorbildcharakter der altrömischen Republik. Allen Einwänden seines in dieser Hinsicht scharfsichtigeren Landsmannes Francesco Guicciardini zum Trotz liest er die römische Geschichte des Titus Livius, nicht wie Guicciardini als patriotische Legendensammlung, sondern durch und durch geschichtsgläubig.

Philippe Kellermann: Sie erwähnten Machiavellis Selbstverständnis, ein »ehrenfester Republikaner« zu sein: Inwiefern lässt sich der oftmals als amoralischer Techniker der Macht verschriene Machiavelli tatsächlich als Republikaner verstehen und wie begründet Machiavelli selbst seinen Republikanismus? Hat man beim Begriff ›Republikanismus‹ vielleicht auch zu Unrecht eine in erster Linie ethische Lebensform im Kopf, während bei Machiavelli die vollendete Republik, von der er träumt und für deren Schaffung er sich einsetzte, einfach die vollendete Form einer Art unbezwingbarer Machtmaschinerie darstellt?

Volker Reinhardt: Wiederum trifft beides zu: ›Republik‹ ist für Machiavelli eine politikethische Lebensform und zugleich die Staatsform, mit der man die Welt erobern kann –siehe das alte Rom, das für Machiavelli uneingeschränkte Vorbildfunktion hat. Diese am altrömischen Erfolgsmodell ausgerichtete Republik beruht auf einer Mischverfassung, welche die drei ›guten‹ Konstitutionen Monarchie, Aristokratie und Demokratie (wie schon bei Polybios im 2. Jh. v. Chr.) verquickt, auf der Dauerkonkurrenz zwischen »Großen« und »Volk«, auf der Einheit von Bürger und Legionär und vor allem auf dem unbegrenzten Zugriff des Staates auf den Einzelnen. Machiavellis expansive Republik ist sich selbst der höchste Zweck; von ihr kann das Individuum nichts fordern, muss sich selbst hingegen alles, notfalls das Leben, abverlangen lassen. Ziel des durch strenge Gesetze rigoros geregelten Lebens ist nicht die individuelle Glücksentfaltung, sondern der militärische Erfolg des Gemeinwesens. Republikanische Staatsräson heißt für Machiavelli daher, dass die Mächtigen in der dauernden Furcht vor Schauprozessen leben müssen, auch wenn sie in Wirklichkeit die bestehenden Verfassungs- und Rechtsverhältnisse gar nicht gefährden. Ihre Aburteilung trotz erwiesener Unschuld hat seiner Ansicht nach heilsame Abschreckungswirkungen und garantiert die Durchlässigkeit für Verdienst und Leistung. Diese konsequente Meritokratie garantiert die geregelte Rivalität zwischen oben und unten, »Patriziern« und »Plebejern« und überwindet so innerhalb der politischen Führungsschicht die Unterschiede des Standes und der Geburt. Dieser Dauer-Wettkampf muss sich stets haarscharf unterhalb der Grenze zum Bürgerkrieg bewegen. Überschritten wird dieses Limit nur deshalb nicht, weil die dadurch erzeugten Energien in Krieg nach außen umgesetzt werden; ohne Krieg würde dieses kunstvoll tumultuös erhaltene System implodieren. Machiavelli, der Republikaner, ist daher der größte Lobredner des Krieges, dessen Erfolgsregeln er in seinem Traktat über die Kriegskunst ausführlich zu fixieren versucht – sie laufen in vieler Hinsicht auf eine damals unbekannte Totalität hinaus: Ziel ist nicht der strategische Erfolg, sondern die völlige Vernichtung des Gegners, bei der alle Mittel erlaubt sind, auch seine politische Auslöschung. Zu diesem Zweck darf Machiavellis Republik ganze Völkerschaften deportieren und die überwundenen Eliten liquidieren. Im Inneren der perfekten Republik hält eine rückhaltlos verinnerlichte Staatsreligion die Bürger opferbereit und anspruchslos; sie müssen arm, der Staat hingegen muss reich sein.

Fazit: so nah dem 21. Jahrhundert Machiavellis Ideen von fairem Wettbewerb und Aufstieg durch Leistung zu stehen scheinen, so unüberwindbar ist in anderer Hinsicht die Kluft zu einer pluralistischen Demokratie.

Philippe Kellermann: Meinem Eindruck nach erinnert Machiavelli hier in gewisser Weise an Hegel, der ja nicht nur selbst Machiavelli-Leser gewesen ist, sondern auch in seiner Rechtsphilosophie eine scheinbar ganz ähnliche Dynamik beschreibt, diese aber aus der (modernen) bürgerlichen Gesellschaft herleitet. Krieg wird auch hier als Mittel zur Überwindung der sich einstellenden Dekadenz bestimmt, die Hingabe an den Staat als dem »sittlichen Ganzen« gefordert und die Unabwendbarkeit kolonial-imperialer Expansion aufgrund der inneren Widersprüche dieser Gesellschaft festgehalten. Nun wird Hegel als einer der ersten Theoretiker des modernen Staates diskutiert, so dass sich die Frage stellt, welches Verhältnis zwischen Machiavellis Auffassung vom ›Staat‹ (sofern man diesen Begriff auf die Epoche Machiavellis anwenden möchte) und dem modernen Staat besteht? Machiavelli, nicht nur der »letzte Römer«, sondern zugleich auch der »erste Jakobiner«?

Volker Reinhardt: Wiederum ja und nein. Der Unterschied besteht in der Tat in dem, was der Staat um 1500 und um 1800 ist und für die zu dieser Zeit von ihm schreibenden Autoren bedeuten kann. Hier hat der von Burckhardt erzeugte Mythos von der »Tyrannis« der Renaissance als erster faktisch funktionierender Machtstaat und Laboratorium der Moderne falsche Vorstellungen hervorgerufen. Die Republik Florenz etwa hat eine Staats-Ideologie und eine staatstragende Schicht, doch ansonsten kaum etwas, was im Sinne Hegels den Staat ausmacht. Die Zusammensetzung der ›Staatsregierung‹ wird alle zwei Monate neu bestimmt, der Kompetenzen-Wirrwarr ist schlechthin chaotisch, im ›Staatsgebiet‹ selbst ist eine Fülle lokaler Autonomien und Sonderrechte gewahrt, es gibt kein stehendes Heer, eine rechtliche und institutionelle ›Staatswerdung‹ steht somit in den allerersten Anfängen. Im übrigen Europa sieht es kaum anders aus. ›Nationale‹ Monarchien wie in Frankreich und in Spanien vermögen zwar größere Armeen aufzubieten, doch von einer wesentlich größeren ›Staatsgewalt‹ kann auch dort kaum die Rede sein, dazu sind die Territorien zu sehr fiskalischer und administrativer Flickenteppich. Gerade deshalb muss Machiavelli den starken Staat voraus- oder besser: zurückdenken, nämlich vom alten Rom ins moderne Italien versetzen. Dementsprechend schemenhaft, aus antiken Versatzstücken zusammengeklaubt ist sein Bild vom Inneren der perfekten Republik. Machiavelli denkt den Staat nicht konkret, von seinen Institutionen und Instanzenzügen her, sondern als eine Maschinerie zur Umerziehung des Menschen – im Gegensatz zu seinen intellektuell ebenbürtigen Zeitgenossen Guicciardini und Vettori, die den Staat von der sozialen Schichtung, von seinen gesellschaftlichen Antagonismen, Ordnungs- und Repressionsfunktionen her verstehen und daher sehr praxisorientiert mit Ämtern und Behörden ausstatten. Für Machiavelli ist der »Geist«, anders ausgedrückt: der Grad der Indoktrinierung und Disziplinierung im Staat ausschlaggebend, und diese Prägewirkung wird seiner Ansicht nach durch die richtige Staatsreligion, die List der Mischverfassung und die Abschreckungswirkung von politischen Prozessen und blutigen (Tier-)Opfern etc. erreicht. Dass zwischen diesen abstrakten Voraussetzungen und den erhofften Effekten so etwas wie Bürokratie steht, scheint er nicht zu bemerken. So kann man ihm als Vorausdenker des damals utopischen starken Staats so etwas wie imaginative Naivität oder, für Moralisten passender, Unschuld attestieren. Trotzdem weisen einzelne Elemente seines Staatsideals auf den Jakobinismus der Jahre 1793 und 1794 voraus, und das ist kein Zufall. Robespierres Staatsphilosoph Rousseau ist in seinem Contrat social stark von Machiavelli beeinflusst, reicht diese Ideen also weiter. Und die deutschen Philosophen und Militärtheoretiker (wie Clausewitz) um 1800 waren von Machiavellis Idee fasziniert, dass in Politik und Krieg die Gesinnung ausschlaggebend ist, filterten aus seinem Werk also militanten Idealismus.

Philippe Kellermann: Anders als es das verbreitete Bild vom »Fürstenknecht« oder dem Freund der Mächtigen nahelegt, machen Sie in Ihrer Machiavelli-Biografie an mehreren Stellen darauf aufmerksam, dass Machiavellis vehementes Plädieren für die Schaffung einer Volksmiliz, Furcht auf Seiten der Führungsschichten hervorgerufen hat. War für Machiavelli die Miliz nicht nur Garant der staatlichen Unabhängigkeit (von den Söldnerheeren), sondern auch Mittel zur Einbeziehung und damit Disziplinierung der Bevölkerung, trauten die oberen Schichten diesem Projekt nicht über den Weg und sahen hier lediglich eine für sie bedrohliche Bewaffnung breiter Schichten. Zeigt sich nicht hier, dass Machiavelli – anders als Vettori und Guicciardini – einen sehr guten Blick für die (mögliche) Integrationsleistung des Staates, sprich: die System stabilisierende Funktion staatlicher Institutionen hatte?

Volker Reinhardt: Machiavelli wünschte sich in der Tat ein Bürger-Heer, wie es in den italienischen Stadtrepubliken seit dem Ende des 13. Jahrhunderts nicht mehr existierte. Doch ob er wirklich so weit gegangen wäre, seinen Vorschlag, die florentinischen Handwerker und Ladenbesitzer zu bewaffnen, in die Tat umzusetzen, muss offen bleiben, da diese Idee wie auch für ihn vorhersehbar am Veto der Regierenden scheitern musste. Machiavelli war sich nämlich sehr wohl bewusst, dass Gesetze auf den jeweiligen Zustand eines Staates und seiner Gesellschaft abgestimmt sein müssen. Diese politische und mentale Verfasstheit von Florenz aber beurteilte er negativ – wie sollte es nach der langen Degenerationsphase unter den Medici, während derer die Begriffe ›Volk‹ und ›Freiheit‹ ihren ursprünglichen Sinn verloren, ja geradezu ins Gegenteil pervertiert worden waren, auch anders sein? Mit anderen Worten: Florenz war für die Einführung einer Bürgermiliz nach diesen Maßstäben kaum reif, ein solcher Versuch wäre also ein riskantes Experiment gewesen. Gerade die römische Geschichte zeigte für Machiavelli eindrucksvoll, welch ausgeklügelter Gesetze und welch intensiver und kultureller Prägungen eine Gesellschaft bedurfte, um durch die Bewaffnung ihrer Bürger nicht in permanente Selbstzerfleischung abzustürzen, sondern auf diese Weise zur Eroberung der Welt voranzuschreiten. Auch im alten Rom dauerte es laut Machiavelli ziemlich lange, bis die innere Reibung in Expansion umgesetzt werden konnte; zuvor drohte das römische System durch die ungelösten Spannungen zwischen Patriziern und Plebejern mehrfach zu implodieren. Dass Florenz trotzdem den römischen Weg gehen und Schritt für Schritt zum Milizsystem nach dem Vorbild der damaligen Eidgenossenschaft übergehen musste, stand für ihn außer Frage, ebenso, dass diese neue Wehrverfassung wohltätige Wirkungen auf die politischen Verhältnisse zeitigen würde, und zwar in Richtung Meritokratie und Gleichheit vor dem Gesetz. Doch wie dieser Übergang bewältigt werden sollte, blieb auch für Machiavelli offen. Seine Versuche, eine Miliz aus den ländlichen Untertanen der Republik Florenz zu formen, galten, wie ihm bewusst sein musste, letztlich dem falschen Objekt, denn wie sollten abhängige und von der Metropole fiskalisch ausgebeutete Landbewohner Patriotismus entwickeln? In der Stadt Florenz wiederum wäre eine längere Übergangszeit vonnöten gewesen. Diese mentale Trainingsphase wäre nur unter einer starken, quasi fürstlichen Herrschaft zu verwirklichen. Diese Aufgabe hatte Machiavelli in seinen Memoranden der 1520er Jahre den Medici zugedacht, deren Aussterben damals bevorzustehen schien; als letzten Dienst an Florenz sollten sie die Voraussetzungen für eine erneuerte Republik schaffen, in der dann wohl auch eine Bürgermiliz vorgesehen war. Doch die Medici hatten bekanntlich andere, dynastische Pläne. Fazit: wie so oft bei Machiavelli führt kein gangbarer Weg vom deprimierenden Ist- in den strahlenden Soll-Zustand. Gewiss ist das Bürgerheer als ein Instrument der soziomentalen Disziplinierung und der politischen Egalisierung gedacht, doch setzt es diese Zustände bei seiner Einführung bereits im Wesentlichen voraus. Die real existierenden ökonomischen, politischen, sozialen, mentalen Verhältnisse standen diesen Plänen unüberwindlich entgegen. Machiavelli konnte es nicht einmal wagen, für seine ländlichen Kompanien Offiziere aus demselben Dorf zu rekrutieren; anderenfalls war zu befürchten, dass seine stolze Streitmacht lokale Fehden austrug, statt sich gegen die Feinde von Florenz zu wenden. Mit anderen Worten: es gab den Staat nicht, der die Bürgerarmee im Sinne Machiavellis hervorbringen und zweckgerichtet einsetzen konnte, und es hat ihn auch weder in der Vergangenheit (erst recht nicht in der römischen Republik) noch später gegeben. 1506 war nicht 1793, und auch 1793 gab es die Vendée.

Philippe Kellermann: Sie haben auf eine zentrale Problematik hingewiesen, die sich dem Republikaner Machiavelli stellte, nämlich: Wie zurück oder überhaupt erst hin zu einer vollkommenen Republik, wenn der Ist-Zustand einem solchen Projekt nicht gerade förderlich ist. Nun hat es 1527 – nach Vertreibung der Medici – in Florenz einen kurz andauernden Versuch gegeben, die Republik wieder zu begründen. Wie sehen Sie Machiavellis Position zu diesem Versuch und spielten Machiavellis Ideen eine Rolle für die Akteure desselben, zum Beispiel für Donato Giannotti?

Volker Reinhardt: Machiavelli stirbt fünf Wochen nach der zweiten Vertreibung der Medici und damit zu früh, um seine Position gegenüber der neuen Republik abzustecken. Von der anderen Seite her waren die Verhältnisse offenbar geklärt: Machiavelli zieht bei der Wahl zum Chef der Zweiten Kanzlei, also seinem alten Amt, gegen einen weitgehend unbekannten Kandidaten den Kürzeren. Das zeigt, dass er am Ende seines Lebens zwischen allen Stühlen saß, also einen unbequemen, doch in seinen Augen ehrenhaften Ort besetzte, den er mit der sarkastischen Kritik in seinen Komödien und anderen späten Texten systematisch angepeilt hatte. Wie sich seine Haltung zum neuen Regime später entwickelt hätte, darüber lässt sich naturgemäß nur spekulieren. Motive der Abstoßung stellten sich in der Folgezeit reichlich ein: So erstand der 1498 verbrannte Prophet Savonarola als Ideengeber und Übervater der Republik wieder auf, was nun wahrlich nicht im Sinne Machiavellis war. Andererseits erhielt Florenz, das Christus formell zum Staatsoberhaupt wählte, dadurch eine Staatsreligion, die genau die Funktion erfüllte, die ihr nach Machiavelli zukam: Sie motivierte die Florentiner zu einem endzeitlich überhöhten Kampf gegen das überlegene spanische Belagerungsheer, und zwar mit der Parole: Gott will es, Gott schützt uns! Einen so langandauernden und heroisch-verzweifelten Widerstand hätte Machiavelli seinen Mitbürgern wohl kaum zugetraut. Auch die Notstandsmaßnahmen gegen die Reichen und zuvor Einflussreichen hatte er zuvor in seinen Diskursen über Titus Livius gerechtfertigt; zudem war der Große Rat wieder eingeführt worden, den Machiavelli als Basisorgan von »Großen« und »Volk« ebenfalls auf der Rechnung hatte. Vielleicht hätte sich der religiöse Agnostiker Machiavelli also aus taktischen Gründen mit einem Staatswesen angefreundet, das die Wiederkehr Christi auf Erden vorbereiten wollte, zuzutrauen wäre es ihm allemal. Doch das sind, wie gesagt, bestenfalls Hypothesen. Stärkere Anstöße für die republikanische Ideenwelt eines Giannotti, die auf eine modern anmutende Teilung der Gewalten hinausläuft und insgesamt viel stärker an den florentinischen Verhältnissen ausgerichtet ist als die republikanischen Utopien Machiavellis, sehe ich nicht.

Philippe Kellermann: Mehrmals haben Sie auf die Bedeutung der Religion für Machiavelli hingewiesen. Machiavelli habe eine instrumentelle Beziehung zu dieser gehabt; sie solle als Staatsreligion die Stärke des Gemeinwesens verbürgen und diene als Disziplinierungsinstrument, um die Bevölkerung zur Staatsloyalität anzuhalten. Eine enge Verquickung von Religion und Politik finden wir auch in den Auseinandersetzungen der zeitgleich stattfindenden Reformationsbewegungen, vor allem auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Sie selbst haben in einem Buch über Calvin dessen Regime in Genf unter der Überschrift »Tyrannei der Tugend« diskutiert. Wie würden Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen jener calvinistisch-reformatorischen Tugendpolitik und derjenigen Machiavellis bestimmen?

Volker Reinhardt: Damit tut sich ein vielschichtiger, kaum je vorgenommener Vergleich auf. Bei der reinen Sicht auf den Menschen stechen weitreichende Ähnlichkeiten hervor. Beide, Calvin wie Machiavelli, betonen die zerstörerische Kraft des menschlichen Egoismus, die alles beherrschende Selbsttäuschung des Menschen und die Notwendigkeit, diese destruktiven Kräfte so weit wie möglich einzudämmen. Konsequenterweise sind beide Republikaner, da Macht nur durch checks and balances kontrolliert und eingeschränkt werden kann. Selbst das konkurrenzträchtige Zusammen- und Widerspiel von einflussreichen und weniger mächtigen Schichten bzw. Persönlichkeiten ist bei beiden Autoren vorgesehen. Dass der Mensch nicht so bleiben kann, wie er ist, sondern von Grund auf umerzogen, im Grunde überhaupt erst zum Menschen gemacht werden muss, wäre ohne Frage die wichtigste gemeinsame Schnittmenge im Denken des Reformators und des Politikdenkers. Selbst beim Ursprung des Bösen lassen sich letzte Parallelen feststellen. Für Calvin resultiert es wie bei allen christlichen Theologen aus dem Aufstand gegen Gottes Gebot im Paradies, doch im Gegensatz zu Luther, Zwingli und natürlich den katholischen Theologen ist für ihn der menschliche Wille im Paradies bereits nicht mehr frei, sondern prädestiniert, so dass die Erbsünde bereits aus Gottes unerforschlichem Ratschluss entspringt, also rein innerweltlich betrachtet für den menschlichen Verstand unbegreiflich bleibt. In Machiavellis – immer auch satirisch eingefärbten – Gedichten zu theologischen und philosophischen Themen ist es schlicht eine missgünstige Gottheit, die den Menschen ambizione und avarizia, Ehrgeiz und Geiz, in die Brust versenkt; der Ursprung des Bösen ist also unbekannt, und Machiavelli hat sich – fast schon wie Marx im Kommentar zu Feuerbach – auch nicht für diese Herkunft, sondern allein dafür interessiert, wie man mit diesen unveränderlichen Eigenschaften des Menschen praktisch umgehen, das heißt, einen starken Staat konstruieren kann. Doch sind natürlich nicht minder große Differenzen zwischen Machiavelli und Calvin in Rechnung zu stellen. Für Calvin ist die rigorose Sozialdisziplinierung nicht Selbstzweck, sondern permanentes Gotteslob in einer Zeit, die sich dem Ende zuneigt, während diese Anstrengungen bei Machiavelli ausschließlich politisch und militärisch motiviert und instrumentalisiert sind. Darüber hinaus muss der Politiker für ihn zugleich Mythen-Erhalter und Mythen-Durchschauer sein, darf also selbst nicht an die staatlich verordneten Dogmen glauben, um sie virtuos beherrschen zu können. Zudem ist Machiavellis Umgang mit der Sexualmoral in jeder Hinsicht locker – was in Genf mit dem Tode bestraft wird, nämlich Ehebruch, ist in seinen Komödien eine Art Kriegsersatz und damit staatsbürgerliche Ertüchtigungsschule. Und erst recht glaubt Machiavelli nicht an die Erlösungsfähigkeit des Menschen, weder innerweltlich noch transzendent. Im Gegenteil: Dispense für begangene Verbrechen sind die politische Todsünde schlechthin, so dass für ihn die christliche Religion mit dem Prinzip der Sündenvergebung Korruption gleichkommt.

Philippe Kellermann: Sie haben zu Anfang unseres Gesprächs davon gesprochen, dass die Renaissance als »ein Neuformierungsprozess der Eliten« zu verstehen sei, »die die Gesellschaften der Zeit hierarchischer, stufenreicher, undemokratischer« gemacht habe. Machiavellis Republikanismus könnte demnach als ein Versuch gedeutet werden, diesen Prozess aufzuhalten und nicht – wie beispielsweise später Thomas Hobbes – zu affirmieren. Ähnlich ließen sich die Kämpfe, jene »Revolution des gemeinen Mannes« (Peter Blickle) der Jahre 1523-25, die, in Verbindung mit der Reformation gegen fürstliche und klerikale Machtansprüche geführt wurden, interpretieren. Beiden gemeinsam wäre überdies ein Bezug auf die Schweiz, die sowohl Machiavelli als vorbildlich betrachtete, und der auch die Aufständischen im südwestdeutschen Raum mit ihrem Spruch »Wir wollen sein wie Schweizer« ihren Tribut zollten. Was meinen Sie dazu und könnten Sie vielleicht noch ein paar Worte zur Rolle der Schweiz in dieser Zeit sagen?

Volker Reinhardt: Das Wort ›demokratisch‹ ist für das 16. Jahrhundert sehr problematisch. Wir wissen heute, dass es den ›gemeinen Mann‹ mit einheitlichen Zielen und in einer gemeinsamen Kampffront nicht gegeben hat. Gerade der deutsche Bauernkrieg von 1525 zeigt, wie unterschiedlich, ja gegensätzlich die Interessen und Ziele reicher und kleiner Bauern, Landarbeiter und städtischer Handwerker waren. Der ›gemeine Mann‹ ist eine reine Kampfparole, mit der Angst oder Hoffnung geschürt werden soll. Und demokratische Staatsvorstellungen wie im 20. oder 21. Jahrhundert gibt es erst recht nicht; es geht darum, welche Zünfte, Gewerbe etc. Anteil an der Politik haben sollen und welche nicht. Auch Machiavelli ist, so betrachtet, kein lupenreiner ›Demokrat‹, was schon seine Vorliebe für die römische Mischverfassung zeigte, in der das aristokratische Element des Senats ja die herausragende Rolle spielte. Zudem denkt Machiavelli nicht in soziologischen Kategorien, nicht in Klassen oder Schichten, sondern verwendet stattdessen wie die meisten Zeitgenossen sehr vage Begriffe wie »Große« und »Volk«. Allerdings zeigt seine Darstellung der Ciompi-Revolution von 1378, in der die rechtlosen Textilarbeiter von Florenz die zivilrechtliche und politische Gleichstellung zu erkämpfen versuchten, auch keinerlei ›Klassenstandpunkt‹ (wie sollte er diesen in Anbetracht seines tatsächlichen sozialen Standorts im gesellschaftlichen Niemandsland von Florenz auch haben?). Stattdessen analysiert er – durch eine erfundene Revolutionsrede eines historisch bezeugten Revolutionsführers – mit einzigartigem Scharfblick und ebensolcher Nüchternheit, wie ungleiche Gesellschaften gestützt und gestürzt werden: gestützt durch die Ideologie des »höheren Menschentums« der Reichen und Mächtigen, kräftig untermauert von Justiz, Kirche und Kunst, gestürzt durch die Einsicht in diese Vernebelungspraktiken und die Erkenntnis, dass sich die Herrschaftsverhältnisse umkehren, sobald die erfolgreichen Ciompi in die Paläste der Patrizier einziehen und die Mechanismen der Propaganda für sich nutzen. Die Frage ist allerdings, ob Machiavelli einen solchen Umsturz von unten anstrebt; dass er ihn nicht mit der Moral der Herrschenden ablehnt, sondern als ein interessantes Gedankenexperiment betrachtet, ist sicher. Doch die einseitige Dominanz einer einzigen sozialen Schicht, sei es der Adel in Venedig oder das Patriziat im Florenz der Medici, ist für Machiavelli von Übel, weil sie Stillstand bedeutet: mental, politisch und militärisch. Machiavelli denkt in Antagonismen und den Staat als geregelten Kampfplatz rivalisierender Gruppierungen. Dabei hat das »Volk«, wahrscheinlich bis einschließlich der untersten Schichten, einen Platz und seine Rolle, doch eben nicht allein, sondern in stetiger Auseinandersetzung mit einflussreicheren Schichten. Machiavelli will den Staat im Inneren so konfliktträchtig wie möglich, um die dabei erzeugte Energie nach außen in Expansion umzusetzen. Diese Idee von der Politik als Kampfplatz der unterschiedlichsten Interessen hat seine Zeitgenossen mehr als alles andere, stärker noch als die Ablösung der Politik von der traditionellen Moral, befremdet. ›Demokratisch‹ im heutigen Sinn kann man diese Vorstellung nicht nennen, doch ist dieser extreme Pluralismus, allerdings in befriedeter Form, Grundlage heutiger Demokratie-Vorstellungen. Machiavelli glaubt, in der Eidgenossenschaft der Jahre 1513 und 1514 das einzige Gemeinwesen zu erkennen, dass die Grundprinzipien des alten Rom umsetzt: keine mächtigen Klientelverbände, die jede Republik zersetzen, stattdessen Bürgermiliz, Staatsreligion, Luxusfeindlichkeit, Ferne zur humanistischen Elitenkultur, und als Summe des Ganzen Staatsergebenheit und Expansionsfähigkeit. Allerdings demontiert er diesen selbst erzeugten Mythos nach der Niederlage der Schweizer bei Marignano gegen Frankreich im September 1515 beträchtlich. Eine tiefenscharfe Wahrnehmung der damaligen Bundesgeflechte zwischen Stadt- und Landorten und der daraus resultierenden Spannungen liegt diesem Bild der Schweiz jedoch nicht zugrunde. Machiavelli braucht die Schweiz als Beweis dafür, dass die römischen Erfolgsregeln in der Gegenwart tauglich, also von ewiger Gültigkeit sind. Mythos ist die Schweiz auch für die aufständischen Bauern: als ein Hort von Gleichheit und Gerechtigkeit. In Wirklichkeit sind – mit Ausnahme der ländlichen Orte in der Innerschweiz – die Landgebiete von der allein herrschenden Stadt, sei es Zürich, sei es Bern, abhängig; diese entsendet ihre Vögte als Herrschaftsträger in die Dörfer. Allerdings müssen die Städte, bei aller Betonung ihrer Machtvollkommenheit, den Minimalkonsens mit der ›Landschaft‹ suchen, allein schon deshalb, weil dort zehnmal mehr Menschen leben und eine militärische Auseinandersetzung im Gegensatz zum fürstlichen Süddeutschland nicht gewonnen werden könnte. So hält Bern wenig später in seinem Landgebiet sogar Befragungen darüber ab, ob man die Reformation einführen soll oder nicht. Allerdings ist die Entscheidung darüber in der Stadt längst getroffen, das ›demokratische‹ Prozedere daher im Wesentlichen eine Beschwichtigungsgeste.

Philippe Kellermann: Dieses Jahr feiert Machiavellis berühmt-berüchtigtes Buch über den Fürsten – Il Principe – seinen 500. Geburtstag. In einem passend zum Jubiläum erschienenen Kommentar heißt es, dass in der heutigen Machiavelli-Literatur nur noch selten Il Principe im Zentrum stehe. Tatsächlich wird – wie ja auch unser Gespräch zeigt – mittlerweile dem Republikaner Machiavelli, wie er u.a. in den Discorsi hervortritt, viel Interesse entgegengebracht. Nun hat Machiavelli aber ein noch breiteres, vielfältigeres Werk hinterlassen. Sie hatten Machiavellis Komödien angesprochen, in der der Ehebruch als »eine Art Kriegsersatz und damit staatsbürgerliche Ertüchtigungsschule« behandelt wird. Vielleicht könnten Sie noch etwas zu diesem ›anderen‹ Machiavelli, dem Dichter und Verfasser von Schauspielen sagen. Die Person Machiavelli scheint jedenfalls nicht so leicht fassbar zu sein, wie es sowohl das Bild des Fürstenknechtes, als auch das des unbestechlichen Republikaners, nahelegen. Und steckt nicht in Machiavelli – trotz aller Polemik gegen die aus seiner Sicht dekadenten Humanisten – ein gutes Stück humanistischer Renaissancekultur?

Volker Reinhardt: Machiavelli deckt in der Tat ein breites literarisches Gattungsspektrum ab: von der politischen Abhandlung über historische Texte bis hin zu Lehrgedichten und Komödien; selbst eine Reflexion über Sprache und ein Aufruf zur moralischen Besserung stammen aus seiner Feder. Das alles sind Hauptgattungen der studia humanitatis, der humanistischen Textgattungen, wie sie einige Jahrzehnte vor Machiavellis Geburt zu einem regelrechten Kanon zusammengefasst wurden. Doch das ist der äußere, der formale Rahmen, den Machiavelli ganz anders füllt. Der Appell zur Buße etwa ist eine grandiose Parodie auf die Savonarola-Anhänger. Die Sprachbeobachtung flickt Dante, dem Idol der Literaten, am Zeug. Die »Biographie« des Luccheser Stadtherrn und Generals Castruccio Castracani ist in entscheidenden Passagen frei erfunden, weicht also bewusst von der historischen Vorlage ab. In seiner Geschichte von Florenz wird entgegen den Tatsachen dreist (und natürlich mit ätzendem Sarkasmus) behauptet, dass in der Schlacht von Anghiari zwischen Florenz und Mailand nach stundenlangem Kampf nur eine einzige Person zu Schaden gekommen sei, und zwar nicht durch Feindeinwirkung, sondern aufgrund mangelhafter Reitkünste – und so weiter. Machiavelli höhlt die hohen humanistischen Genres von innen aus und gibt sie der Lächerlichkeit preis. Das gilt auch für das Verhältnis zum Auftraggeber: In der von Kardinal Giulio de’ Medici bestellten Geschichte von Florenz schreibt Machiavelli, dass die Medici im Wesentlichen auf dem falschen Weg an die Macht gelangt sind, nämlich dadurch, dass sie sich ihre Mitbürger gekauft haben – so etwas untergrub die vertrauensvolle Kooperation zwischen dem Mächtigen und dem Literaten, wie sie die Humanisten pflegten und verherrlichten. Vor allem aber sind alle Textgattungen durch ein gemeinsames Leitmotiv, Politik und Krieg, verklammert. Der Kampf um ›Liebe‹ wird in seinen Komödien mit den Strategien und der Sprache des Militärs ausgetragen. Und im allegorischen Gedicht Der goldene Esel, im Übrigen eine ziemlich respektlose Dante-Parodie, geht es ebenfalls um Sex und Politik, die Geschwister-Tätigkeiten, die Machiavelli als einzige wirklich am Herzen lagen. Zur ›Renaissance‹ gehört Machiavelli natürlich trotzdem, doch verkörpert er mit seiner Ablehnung des Christentums, seiner religiösen Agnostik, seinem Lob der wehrhaft-vorzivilisierten Eidgenossenschaft und seinem Drang nach Demaskierung einen sehr seltenen Typus, den es mit wenigen Exemplaren eigentlich nur in Florenz gab.

Philippe Kellermann: Lässt sich eine Begründung dafür finden, warum es diesen »sehr seltenen Typus eigentlich nur in Florenz gab«? Und könnten Sie noch etwas zu jener »kritischen Florentiner Schule« sagen, ein Begriff, den Sie womöglich in Anspielung auf die Frankfurter Kritische Theorie geprägt haben? Was verbindet so unterschiedliche Personen – zu allen haben Sie ja Monografien veröffentlicht – wie den trotzigen Republikaner Machiavelli mit dem zurückhaltenden Guicciardini und dem zum Medici-Chefberater aufgestiegenen Vettori?

Volker Reinhardt: Sie gehören erst einmal lebensgeschichtlich durch ihren Geburtsort Florenz und auch zeitlich zusammen – Machiavelli ist 1469, Vettori 1474 und Guicciardini 1483 geboren –, das heißt: auch wenn die beiden Letzteren aus den obersten Rängen des Patriziats stammen und Machiavelli aus diesem herausgefallen ist, teilen sie bestimmte Grunderfahrungen. Dazu gehört die hinter republikanischer Fassade verschleierte Herrschaft der Medici als intellektuelle und moralische Herausforderung, der mit den Begriffen der Antike nicht beizukommen war, und vor allem das Savonarola-Erlebnis. Für alle drei stand mehr oder weniger schnell fest, dass der selbsternannte Prophet Florenz getäuscht hatte, und damit wurde mehr erschüttert als der Glaube an einen Heilsbringer für Florenz. Im Falle Guicciardinis glaube ich beweisen zu können, dass damit das Christentum insgesamt verdächtig wird, und bei Vettori dürfte es ähnlich aussehen. Von Machiavelli wissen wir, dass er früh den römischen Epikur-Anhänger Lucretius Carus las, der Materialist und von der Sterblichkeit der menschlichen Seele überzeugt war. Zudem hatten alle drei mit den beiden Medici-Päpsten zu tun, Guicciardini und Vettori sogar in herausragender Funktion, und alle drei sahen aus eigener Anschauung, wie Religion zum Herrschaftsmittel instrumentalisiert wurde. Durch die daraus resultierende rein innerweltliche Betrachtung des Menschen wurden Überzeugungen hinfällig, die für die große Mehrheit der Zeitgenossen verbindlich blieben: dass Gott die Geschichte lenkt, dass es eine Nemesis in ihr gibt, dass Wunder geschehen etc. Der Begriff ›Schule‹ ist natürlich eine moderne Analogiebildung, doch dürften solche skeptisch-agnostischen Weltsichten zumindest bis in die nächste Generation (Della Casa, Varchi) weitergegeben worden sein. Hier lassen sich fraglos noch Entdeckungen machen.

Philippe Kellermann: Abschließend komme ich noch mal auf das diesjährige Jubiläum des Principe zu sprechen und die Faszination, auch den Abscheu, den diese Schrift, wie überhaupt die Figur Machiavelli über die Jahrhunderte ausgelöst hat. Machiavelli, so scheint es, steht für eine grundsätzliche Beunruhigung gegebener Normen und Befindlichkeiten. In diesem Sinn hat beispielsweise der Anarchist Bakunin einmal geschrieben, dass Machiavelli als »Begründer der politischen Wissenschaft überzeugend bewiesen« habe, dass »jeder Staat, ob monarchisch oder republikanisch nur durch die Gewalt« bestehen könne und »selbst nichts als systematische oder ständige Gewalt, offen oder versteckt« sei, kurzum: eine »ebenso beständige und systematische Vergewaltigung des menschlichen Rechts, der menschlichen Moral«. Und ist nicht auch die Person Machiavelli ein Skandal, insofern dieser, als Außenseiter und Emporkömmling, den Mächtigen seiner Zeit immer wieder seine Überlegenheit zu demonstrieren versuchte? Worin besteht Ihrer Meinung nach dieser »Skandal«, den Machiavelli nun über die Jahrhunderte immer wieder ausgelöst hat und bisweilen noch auslöst?

Volker Reinhardt: Für seine Auftraggeber und Vorgesetzten war die Position der überlegenen Einsicht, die Machiavelli als untergeordneter Diplomat an den Tag legte, ein Ärgernis – er solle berichten, doch nicht kommentieren und noch weniger anleiten, lauteten dann die Rückmeldungen. Und natürlich kam auch sein Anspruch, als erster das wahre Erbe der Antike, nämlich ihre politischen Erfolgsregeln, erschlossen zu haben, bei den Intellektuellen der Zeit nicht gut an. Stein des Anstoßes bis heute ist Machiavelli aber vor allem, weil er die Nebelwände der Beschönigung und damit der Verdrängung auflöst. In der politischen Praxis wurden die Techniken des Erfolgs, die Machiavelli als Axiom lehrt, seit langem befolgt, inklusive Verschwörungen und Grausamkeiten aller Art. Dass Politik und christliche Moral nicht zusammengehen können, sondern sich im Gegenteil gesetzmäßig widersprechen, war also durch eine nüchterne Betrachtung der Geschichte genügsam erwiesen. Doch zwischen einem handlungsleitenden Wissen der Mächtigen und dessen offener Darlegung ohne Bedauern und ohne Appell zur moralischen Umkehr liegen eben Welten. Wenn in der Renaissance – um Jacob Burckhardts für die Abgrenzung zum Mittelalter untaugliche Metapher zu paraphrasieren – also jemals ein Schleier fiel, dann hier. Für Rousseau wurde Machiavelli der Lehrmeister der revolutionären Völker, weil er sie das perfide Geheimwissen der Regierenden lehrte und damit deren Waffen gegen sie selbst kehrte. Doch der eigentliche Tabubruch besteht darin, die längst übliche Praxis der Politik ihrer Euphemismen zu entkleiden, zu Kausalketten zusammenzufügen und damit als unerbittliche Notwendigkeit zu rechtfertigen. Diese Offenheit widerspricht der Verlogenheit unserer Gegenwart diametral – Machiavelli würde im Zusammenhang mit zivilen Opfern militärischer Aktionen nicht von Kollateralschäden sprechen. Dahinter steht eine noch weitergehende Dauerprovokation: Machiavelli entkleidet den Staat der quasi metaphysischen Dimension, die er gerade in Deutschland im Denken der Gebildeten gewonnen hat. Sein Staat ist, wie gesagt, konfliktträchtig, ja geradezu tumultuös, auch nicht väterlicher Fürsorger, sondern zumindest vom Anspruch her total. Am unvereinbarsten mit dem Zeitgeist des 21. Jahrhunderts aber scheint mir sein Menschenbild – der Egoismus, den er uns zuschreibt, ist durch keine unsichtbare Hand in Gemeinnutz umzuwandeln.

Philippe Kellermann: Dann bedanke ich mich vielmals für dieses Gespräch.  


Anm. d. Redaktion:

Das Interview führte Philipe Kellermann (geb. 1980), Autor und Journalist aus Berlin mit Themenfeldern zu linker Geschichte.

Volker Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht. Eine Biographie. München: Beck Verlag, 2012. 400 Seiten. 24,95 Euro.

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