Bundistin, Resistance-Kämpferin und Aktivistin des Pariser SKIF
von Kay Schweigmann-Greve
Am 18. Mai 2013 starb im Alter von 97 Jahren in Palm-Beach, Florida, Zirl Steingart an den Folgen eines Autounfalls. Geboren im Zarenreich und politisch sozialisiert im »Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund«, der größten jüdisch-sozialistischen Partei Polens in der Zwischenkriegszeit, war sie seit ihrer Emigration nach Frankreich in der dortigen Jugendbewegung ihrer Partei und später im Widerstand gegen Nazideutschland aktiv. Sie war eine der letzten jüdischen Widerstandskämpferinnen der französischen Resistance.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligte sie sich am Neuaufbau einer jüdisch-sozialistischen Jugendbewegung und engagierte sich in der Betreuung von jüdischen Holocaustwaisen, die durch die Widerstandsbewegung gerettet wurden. In den folgenden Jahrzehnten lebte sie in Australien sowie den USA und wurde eine bekannte Journalistin, deren Beiträge in der jiddischen Presse weltweit, insbesondere dem sozialistischen Forwerts in New York, veröffentlicht wurden.
Zirl Steingart wurde im 11. März 1916 in Białystok geboren (biographische Daten, soweit nicht gesondert ausgewiesen, in: Schulmann/Weber 1987: 91 f.) und besuchte die polnische Volksschule, anschließend die Ginsburgs-Handelsschule (Cahan 1986: 524). Seit ihrer Jugend war sie im Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund – der jüdisch-linkssozialdemokratischen Partei im Polen der Zwischenkriegszeit – und der bundistischen Kinderorganisation SKIF (= jiddisch: Sotsialistisher Kinder Farband) aktiv. 1933 emigrierte sie nach Paris, wo sie an der Gründung und dem Aufbau einer eigenen SKIF Organisation beteiligt war. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich ging sie mit ihrer Jugendbewegung in den Untergrund; von dort organisierte sie das Untertauchen und Verstecken jüdischer Kinder vor der Deportation. Im August 1944 versteckte sie sich mit ihrem Mann und sieben Freunden vom SKIF in einer illegalen Wohnung in Lyon (Steingart 1994: 28-30).
In einem Beitrag für die bundistische Zeitung Unser Tsait, die in New York erschien, berichtete sie 50 Jahre später über ihre Erlebnisse kurz vor der Befreiung Ende August 1944: Sobald sie die Kunde von einem Aufstand in Villeurbanne, einer am östlichen Stadtrand von Lyon gelegenen Industriestadt, erreichte, begab sich die Gruppe dorthin. Henri Steingart, Charl Shulz und Marcel Bartman, die alle im Untergrund in und um Lyon lebten, bildeten die Führung der bundistischen Kampfgruppe, die mehrheitlich aus früheren SKIFisten der Zeit vor dem Krieg bestand. Ein ernstes Problem stellte die Kontaktaufnahme zur örtlichen französischen Leitung des Aufstandes unter den Bedingungen des Belagerungszustandes dar. »Nicole [Mandelmilch, eine sechzehnjährige SKIFistin; Anm. d. Autors] und ich gingen zunächst hinunter auf die Straße in Richtung Villeurbanne um Kontakt mit den Führern des Aufstandes zu knüpfen. Wir schlichen von Straße zu Straße, von Haus zu Haus, an jeder Ecke stand ein Deutscher mit einem Maschinengewehr. An einem Ort lagen Leichen, die Deutschen hatten sie massakriert. Es gelang uns schließlich Villeurbanne zu erreichen, ohne eine deutsche Kugel abzubekommen« (Steingart 1994: 29).
Zirl Steingart wird das Verbindungsglied zwischen dem befreiten Villeurbanne und dem noch deutsch besetzten Lyon. Besonders erinnert sie sich an den 25. August: »Ich gelangte nach Villeurbanne. Dort musste ich bereits die Armbinde der Widerstandskämpfer umbinden, um als eine der ihrigen erkannt zu werden. Es ist einfach nicht möglich, die Kampfstimmung in Worte zu fassen, den Enthusiasmus der französischen Fahnen, die aus den Fenstern flattern. Auf allen Straßen Barrikaden. Die Bewohner des Viertels schlossen sich den Reihen des Widerstandes an. Auch in unsere bundistische Kampfgruppe traten junge Franzosen ein. Wir teilten mit ihnen unsere Waffen. Eine junge Französin führte eine Kampfgruppe. Sie nahm Rache für ihren erschossenen Mann und alle Umgebrachten. Ein deutscher Panzer, der am Tag zuvor erobert worden war, stand mitten auf dem Theater-Platz. Dort begegnete ich endlich meinen jungen Genossen, alle waren enthusiastisch, wir lachten und weinten gleichzeitig. Salomon Buch bewachte gefangene Deutsche. Charl Shulz drängte ungeduldig weiterzukämpfen. Er begleitete mich aus der befreiten Zone in der Hoffnung, dass wir uns bald im befreiten Lyon träfen. Der Weg zurück fiel mir sehr schwer. Es war bereits Abend, die Stadt war noch stärker von den Deutschen bewacht. Es gelang mir, mich auf Umwegen zu unserer Wohnung durchzuschlagen, obwohl die Sperrstunde bereits erreicht und es verboten war, sich auf der Straße aufzuhalten…
Am Morgen des 26. August brachen einige Gruppen aus Villeurbanne auf in Richtung Vénissieux, um auch diesen Ort einzunehmen. Unsere Kämpfer besetzten eine Fabrik und richteten ihr Hauptquartier dort ein. Hernri ging mit einem Genossen um Lebensmittel für die Kämpfer zu requirieren, Charl Shulz war mit einer Spähpatroulie unterwegs um die Gegend zu erkunden. Sie trafen auf eine große deutsche Abteilung. ›Feuer!‹, befahl Charl. Ein Schusswechsel begann, ein ungleicher Kampf. Die Deutschen waren mit Maschinengewehren und Handgranaten bewaffnet und hatten Panzer. Charl Schulz traf eine Kugel im Kopf. Die Deutschen hängten den Toten an einem Baum auf um die Bevölkerung abzuschrecken. Marcel Bartman wurde leicht am Fuß verwundet.« (Steingart 1994: 30).
Der deutschen Besatzung gelang es, die Fabrik zurückzuerobern, die Kämpfer mussten sich unter Verlusten nach Villeurbanne zurückziehen. »Die Deutschen haben auch danach die befreite Gegend um Villeurbanne angegriffen, viele Zivilisten erschossen und Häuser angezündet. Frühmorgens, als ich mich mit Denise Vorbereitungen traf, um nach Villeurbanne zu gehen, sah ich den Ort in Flammen und das Artilleriefeuer von dort hörte man in der ganzen Stadt. Und dort waren alle, die uns nahestanden. Als erster erreichte Salomon Buch unser Haus, ›Alle sind dort umgekommen!‹ erklärte er uns. Er erzählte, wie er Henri an der Fabrik getroffen und ihn gewarnt habe, dort hineinzugehen. Henri folgte ihm nicht und ging in die Fabrik um Verwundete zu retten. Eine ganze Nacht saßen wir dort auf dem Lager, das wir für ihn auf den Dielen aufgeschlagen hatten. Denis (seine Schwester) und ich konnten ihn nicht beruhigen. Wir mussten dabei vorsichtig sein, damit uns die Nachbarn nicht hörten und nicht entdeckten, dass sich in der Wohnung noch Menschen befinden. Abgesehen davon wie Denise und ich uns fühlten und der arme Vater von Nicole.
Einige Tage später ging ich von Krankenhaus zu Krankenhaus und suchte zwischen den Verwundeten und Toten. Ich hoffte dort jemanden von den unseren zu finden. Die französischen Krankenschwestern führten mich in ein Zimmer, in dem verwundete Widerstandskämpfer lagen. Sie taten so, als handele es sich um Taubstumme [Lyon war noch deutsch besetzt; Anm. des Autors]. Ich erkannte niemanden. Als ich schon fast die Hoffnung verloren hatte, Freunde unter den überlebenden zu finden, tauchten nach und nach mein Mann Henri, Marcel Bartman, Moishele Rotnemer, Nicole, Susi, Ivet und andere in unserer Wohnung auf. Aber in welchem Zustand! Die Deutschen hatten sie in der ganzen Gegend gesucht und französische Bauern hatten sie versteckt. Viele jedoch fehlten, unter ihnen unser teurer, unvergessener Charl Shulz im blühenden Alter von einundzwanzig Jahren. [ …] Acht Tage später kam die amerikanische Armee und befreite Lyon. Der Aufstand in Villeurbanne war eine große Hilfe, da wir den Rückzug des deutschen Militärs empfindlich gestört hatten. Die Bevölkerung begrüßte die amerikanischen Befreier mit großer Freude und mit Blumen. Leider konnten wir uns nicht in vollem Maße freuen, wir hatten in den letzten Tagen der Befreiung zu viel durchgemacht.« (Steingart 1994: 31)
Nach Kriegsende war Zirl Steingart aktiv am Wideraufbau des Pariser SKIF beteiligt und vertrat die Organisation im Rahmen der neugegründeten IFM-SEI (International Falcon Movement – Socialist Educational International). So weist z.B. das Protokoll der Konferenz der Kinderfreundeorganisationen vom 21./22. September 1946 in Zürich »Steingart, Cécile und Zylbert, Georges« als Vertreter des französischen SKIF aus. Gemeinsam mit ihrem Mann und weiteren überlebenden Bundisten organisierte sie ein Heim in Trägerschaft des SKIF, in dem jüdische Kinder, deren Eltern im Holocaust ermordet worden waren, aufwuchsen. Es existiert ein Brief Zirl Steingarts vom 31. April 1946 an das Jüdische Arbeiterkomitee in Amerika, in dem es um Unterstützung bei der Anschaffung von Material (die Liste der Gegenstände, die dem Brief beigefügt war, ist leider nicht erhalten) für die Arbeit des SKIF im Wert von 3.000 Dollar ging.
In den ersten Jahren nach der Befreiung existierte der SKIF in Polen, Belgien und Paris. Zirl Steingart spielte hier eine wichtige Rolle, da ihre persönlichen Kontakte wesentlich die Verbindungen zwischen den Gruppen der versprengten Überlebenden aufrechterhielten (Schweigmann-Greve 2011: 151). Bereits im Sommer 1946 nahm sie als Sekretärin des Pariser SKIF auf Einladung der britischen Woodcraft Folk mit gut hundert französischen SKIFisten an dem IFM-Camp in Brigthon teil (Mitteilung von Rose Zilberg in einem Brief vom 27.10.2009 an den Autor). In einem Circular-Letter der IFM aus dem Jahre 1948 (IISG Amsterdam, IFM-Bestand, erste Mappe (Konvolut)) berichtet Cécile Steingart kurz von der Arbeit des französischen SKIF; sie erwähnt dort das Gedenken an den Warschauer Ghettoaufstand und die umgekommenen Kämpfer. In einem Bericht über die Tätigkeit des SKIF in Frankreich und Belgien vom 24. März 1949 (Mouvement Populaire de l’Enfance v. 24.3.1949: bes. S. 2) werden immer wieder die schlechte seelische Verfassung und die Hoffnungslosigkeit der jüdischen Kinder angesprochen, die schwer traumatisiert den Holocaust überlebt hatten. Aufgabe des SKIF sei es, zu versuchen, ihnen ein wenig von ihrer Kindlichkeit zurückzugeben. Zirl Steingart spielte bei dieser Arbeit eine wesentliche Rolle.
1951 wanderte sie nach Montreal aus, wo sie bis 1960 lebte und als Leiterin der jüdischen Abraham-Reisen-Schule unterrichtete. Dann ließ sie sich in New York nieder, wo sie ab 1964 für den jiddischen Forwerts – eine seit 1897 bestehende sozialistische Zeitung in jiddischer Sprache – schrieb, seit 1967 als ständige Mitarbeiterin. Ihre Themen dort reichten von Politik, Gleichberechtigung der Geschlechter, Kultur und ›Frauenthemen‹ bis zu einer eigenen Rubrik »Gesund essen« und einer Kolumne über Mode. Auch Reisebeschreibungen veröffentlichte sie dort (Cahan 1986). Zirl Steingart schrieb auch für andere jiddische Zeitungen weltweit, für die Pariser Unser Stime, für Forois in Mexiko, neben der New Yorker Unser Tsait auch für Weker sowie für die Tel Aviver Lebensfragen. Sie war Mitglied der Führungsgremien des »Bund« in New York; ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Florida (Luden 2013:15).
Anm. der Redaktion: Alle Übersetzungen ins Deutsche wurden vom Autor angefertigt.
Der Beitrag erscheint demnächst auch in: Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugendbewegung.
Literatur:
Berl Cahan, Leksikon fun idish-shraibers, New York 1986.
Elias Schulman/Simon Weber, Leḳsiḳon fun forṿertsshraiber zinṭ 1897, New York 1987.
Kay Schweigmann-Greve, Sotzialistisher Kinder Farband (SKIF). Die Kinderorganisation des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes seit 1945, in: Aus Religion und Zeitgeschichte, ZRGG 63, 2 (2011).
Zirl Steingart, Bundishe kempfer in oifshtand fun Villeurbanne, frankreikh, in: Undser Tzait, New York 1994.
Izchak Luden, Chawerte Zirl Steingart (1916-2013) in Lebensfragen, Mai-Juni-Juli 2013, Tel Aviv 2013.