von Peter Brandt
Die Geschichtswissenschaft der DDR gehört – eigentlich selbstverständlich – zur Gesamtgeschichte des Fachs in Deutschland. Die für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten bis 1989 charakteristische Beziehung wechselseitiger, wenn auch asymmetrischer Ausrichtung – ob konfrontativ oder kooperativ oder sei es in der für die 1970er und 80er Jahre vorherrschenden Kombination beider Aspekte – galt auch für die Historikergemeinden, ihre Organisations- und Äußerungsformen beiderseits der innerdeutschen Grenze.
Der Abgrenzungszwang gegenüber der bundesdeutschen Historiographie begünstigte seitens der DDR-Geschichtswissenschaft zwar einerseits eine ausgeprägte, politisch induzierte Dogmatisierung, wie sie für die 1950er und 60er Jahre zu konstatieren ist, auch im Vergleich mit einigen anderen Ländern des östlichen Blocks, schärfte aber auch das Bewusstsein für methodologisch-theoretische bzw. konzeptionelle Probleme, die eben nicht mit einigen »Klassiker«-Zitaten zu bewältigen waren. Fraglos fand in der zweiten Hälfte der Existenz der DDR eine Professionalisierung und Niveausteigerung der nach 1945 bzw. 1949 in vieler Hinsicht neu aufgebauten, marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft statt, auch wenn die systembedingten politischen Restriktionen der Forschung und des wissenschaftlichen Diskurses fortbestanden.
Den Historikern fiel dann sogar eine weitere wichtige Legitimationsaufgabe zu, indem sie für die Diskussion um »Erbe« und »Tradition« das notwendige Fundament schufen und wesentliche Beiträge dazu leisteten. Paradoxerweise machte es gerade der plötzliche Übergang von der Zwei-Staaten- zur Zwei-Nationen-Doktrin erforderlich, ein stärker ganzheitliches, auch die Leistungen früherer herrschender Klassen sowie ihrer Protagonisten aufnehmendes Geschichtsbild zu kreieren, das auch von denjenigen DDR-Bürgern angenommen werden konnte, die nicht Anhänger der SED waren. So war die Integration vieles Altvertrauten, besonders, wenn man es östlich der Elbe lokalisierte – stichwortartig seien nur Friedrich II. von Preußen und Luther (wegen seiner Stellung zum Bauernkrieg noch heikler) genannt – gleichsam der Ersatz für den Verlust der gesamtdeutschen Perspektive, die in der Ära Ulbricht mit der populären und zugleich simplifizierenden Stilisierung des dauernden Gegensatzes der »Krupps« und der »Krauses«, der Millionäre und der Millionen, aufrechterhalten worden war, so noch in der Präambel der 1968 neu beschlossenen (und 1974 angepassten) Verfassung der DDR.
Ernst Engelberg war mir aus meinem Geschichtsstudium an der Freien Universität Berlin (1968–1972) als Autor der beiden Lehrbücher Deutschland 1849–1871 (1959) und Deutschland 1871–1897 (1965) gut bekannt, später dann auch als Verfasser theoretisch-konzeptioneller Arbeiten, so des Aufsatzes über die Revolution von oben, den er 1974 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlichte. Auch wenn ich politisch eher mit sozialistischen Oppositionellen wie Robert Havemann und nicht mit der SED-Linie sympathisierte, war es für mich (auch in der Folgezeit) selbstverständlich, die Arbeiten der Historiker der DDR zur Kenntnis zu nehmen (auch wenn ich unbewusst manches ignoriert habe, das ich hätte einbeziehen sollen).
Meine spätere Engelberg-Euphorie, wenn ich das so nennen darf, war dann 1985 das Ergebnis der Lektüre des ersten Bandes der Bismarck-Biographie, dessen Erscheinen sowohl ein wissenschaftliches wie auch ein kulturpolitisches Großereignis war; sie erschien parallel in Ost- und in West-Berlin. Die beiden Bände der Bismarck-Biographie sind für mich bis heute ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, insbesondere im Hinblick auf die Verbindung von Personenbezogenem und Allgemeinhistorischem, von Einzelereignis und Strukturellem. Es gibt mehrere bemerkenswerte Bismarck-Biographien; Engelbergs opus magnum überragt sie alle. Es wurde deutlich, dass – zusammen mit dem erfolgreichem Bemühen um eine »schöne« sprachliche Form – erst die gründlichen methodologisch-theoretischen Studien seit den 1960er Jahren, statt zu hemmen, die Hervorbringung des Werkes ermöglicht hatten.
Meine Sympathie für den großen deutschen Historiker Ernst Engelberg wuchs noch, als ich – zuerst in dem am 22. September 1985 im Fernsehen ausgestrahlten Interview mit Günter Gaus – feststellte, dass er offenbar die »deutsche Frage« nicht für erledigt hielt. In verklausulierter Form und unter Vermeidung demonstrativer Illoyalität distanzierte er sich von der Honecker-Linie, betonte vielmehr die Bedeutung, die das Nationale, auch im gesamtdeutschen Verständnis, seit seiner Jugend für ihn gehabt hatte und immer noch habe. Bei seinem Eintritt in die KPD 1928 »war die Verbindung von Patriotismus und Internationalismus selbstverständlich« (Engelberg 2013:170) gewesen. Das war nicht nur eine emotionale, generationsbedingte Haltung: auch geschichtswissenschaftlich-konzeptionell beharrte er bis zum Schluss auf der Bedeutung des nationalen Faktors für das Verständnis der letzten Jahrhunderte wie der Gegenwart. Anders als heutzutage in weiten Teilen der Historiographie wie der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik sah Engelberg in der Entstehung, der Unabhängigkeit bzw. der staatlichen Einigung der großen Nationen Europas, »mit Ausnahme Polens« (Engelberg 2013:146), keine pathologische Begleiterscheinung der Moderne, sondern in Übereinstimmung mit Jean Jaurès ein konstruktives und Jahrzehnte lang Frieden stiftendes Prinzip. Da ich mich im westlichen Teil Deutschlands darum bemühte, das Nationale als eine gewiss »weiche« Kategorie, aber jedenfalls außerhalb individueller Wünsche existierende soziale und mentale Gegebenheit nicht abzuwerten, es vielmehr unvoreingenommen-rational zu erforschen und, darüber hinaus, politisch in einen progressiven Sinnzusammenhang zu integrieren, registrierte ich aufmerksam diesbezügliche Stellungnahmen aus der DDR.
Als Ernst Engelberg und ich uns völlig unabhängig voneinander auf eine Umfrage der ZEIT anlässlich der staatlichen Vereinigung unter deutschen Intellektuellen nahezu identisch zu den gewünschten Staatssymbolen (Name, Flagge, Hymne, Nationalfeiertag) äußerten, luden mich die Engelbergs, und das war meine erste leibhaftige Begegnung, zu einem ausführlichen Meinungsaustausch in ihre Treptower Wohnung ein. Später lernte ich dann auch Achim Engelberg kennen.
Das Marx’sche (und Engel’sche) bzw. marxistische (und marxistisch-leninistische) Geschichtsverständnis hat an die Aufklärungshistoriographie, die klassische deutsche Philosophie, namentlich die Hegel’sche Dialektik, und den Historismus mit seiner methodischen und handwerklichen Systematisierung der Quellenkritik angeknüpft. Die Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung verstanden ihre Analysen vor allem als Schlüssel zum Verständnis des bürgerlichen Zeitalters und gleichzeitig als Teil einer politischen Praxis, in der dieses Zeitalter überwunden werden sollte. Die wissenschaftliche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer inneren Widersprüche diente der Erkenntnis derjenigen Bedingungen, unter denen eine neue egalitäre und freie Gesellschaftsordnung (»Sozialismus« bzw. »Kommunismus«) errichtet werden könnte, wobei der eigentliche Sinn in der Emanzipation des Individuums lag – über die Befreiung des Kollektivs.
Ausgehend von der »Arbeit« als der zentralen Kategorie zum Verständnis menschlicher Gesellschaften, wird der historische Prozess in der Marx’schen Theorie vom Widerspruch zwischen Produktivkräften (menschlicher Arbeitskraft bzw. menschlichen Fertigkeiten und materiellen Produktionsmitteln) und Produktionsverhältnissen (sozialen Organisations- und Herrschaftsformen, Rechts- und Eigentumsverhältnissen) bestimmt, wobei es zu gesellschaftlichen Krisen und zu politisch-sozialen Umwälzungen kommt, wenn Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse miteinander in Kollision geraten. Dass die sozialökonomische »Basis« in der gegebenen konkreten Gesellschaftsformation (gekennzeichnet durch die Vorherrschaft einer bestimmten Produktionsweise) »in letzter Instanz« den mit ihr in dialektischer Wechselbeziehung verbundenen politisch-kulturellen »Überbau« dominiert, bedeutet nicht, dass die historische Entwicklung im Selbstlauf vonstatten geht. Dies geschieht vielmehr durch das Handeln lebendiger menschlicher Kräfte, namentlich der als »Klassen« bezeichneten, gemäß der Stellung im Produktionsprozess unterschiedenen sozialen Großgruppen, auf deren unterschiedliche bzw. gegensätzliche Interessen und deren Ringen letztlich das Handeln der historischen Akteure zurückzuführen ist. Die Menschen machen ihre Geschichte zwar selbst, aber unter vorgegebenen Umständen.
Soziale Herrschaft beruht seit der Entstehung von Klassengesellschaften auf der Einziehung des im Hinblick auf die Versorgung der Produzenten von diesen erzeugten Überschusses, des gesellschaftlichen Mehrprodukts, durch die Oberklasse. Die immanenten Entwicklungstendenzen des auf der Aneignung des von der Masse der besitzlosen Arbeiter hervorgebrachten »Mehrwerts« durch die Kapitaleigner (Akkumulationszwang und Krisenhaftigkeit, soziale Polarisierung und Kapitalkonzentration, tendenzieller Fall der Profitrate) wirken späterhin in Richtung der Ablösung des Kapitalismus und bereiten diese vor; vollzogen werden könne er aber nur von der Klasse der Lohnarbeiter in bewusster Aktion.
Obwohl sich Marx und Engels (letzterer war übrigens der leidenschaftlichere und m. E. auch der bessere Historiker) – entsprechend dem Forschungsstand der Zeit – intensiv mit geschichtlichen Themen von der Urgeschichte bis zur Gegenwart beschäftigten und in ihrer Lehre – ganz im Geist des Historismus – nachdrücklich die Historizität der menschlichen Praxis betonten, ging es ihnen im Grunde stets um Kapitalismuskritik und den proletarischen Emanzipationskampf. Wissenschaftliche Objektivität bestand für sie im Bemühen, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung und deren Gesetze zu erkennen und die Analyse unter Vernachlässigung aller persönlichen Sympathie, sine ira et studio, durchzuführen.
Natürlich wirft diese äußerst knappe Skizze viele, sogar prinzipielle Fragen auf, auch und gerade für Historiker und Gesellschaftswissenschaftler, die sich in der Tradition des historischen Materialismus sehen. Sicher ist heute, dass die von Stalin und in seinem Gefolge vorgenommene dogmatische Kodifizierung des »Histomat«, in angeblich untrennbarer Verbindung mit einem »Diamat«, zu einer vermeintlich naturgeschichtlichen Legitimationswissenschaft zum Ruhme eines menschenvernichtenden Herrschaftssystems, eine Verballhornung des Ansatzes von Marx und Engels ist.
Zur Diskussion stehen nicht nur Fragen, die das materialistische Geschichtsverständnis grundsätzlich berühren: die nach der Abfolge der Gesellschaftsformationen, darin eingeschlossen die nach der »asiatischen Produktionsweise« (ist es wirklich vertretbar, wie Engelberg vom »arabischen« sowie »chinesischen Feudalismus« zu sprechen? (Engelberg 2013:35)); nach dem »Staatskollektivismus« als »einer neuen – vom Marxismus nicht vorausgesehenen – Variante der Klassengesellschaft« (Engelberg 2013:156), auch die nach seinem sozialen Wesen und Untergang; das Verständnis des Kapitalismus nach 1945 (mit historisch einmaliger Prosperität und Wohlstandszuwachs in den Metropolen) sowie dessen Umgestaltung in den letzten drei Jahrzehnten. All das ist für die politische Praxis unmittelbar relevant.
Hier kann es nur angedeutet werden. Es ist aber wichtig, weil sich Ernst Engelberg zeit seines Lebens in diesen geistigen Bahnen bewegte, seine wissenschaftliche, marxistisch inspirierte Tätigkeit im weiteren Sinn auch politisch verstand und um im engeren Sinn politische, gegen Ende der DDR-Periode zunehmend kritische Wortmeldungen ergänzte, soweit es die Verhältnisse bzw. seine Stellung in ihnen aus seiner Sicht erlaubten. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das hier abgedruckte, in einem Freundeszirkel entstandene Papier aus den frühen 1980er Jahren, das in seiner Betonung der globalen Gefährdungen und der menschheitlichen Fragen auch im Hinblick auf breite politische Allianzen und die offene, gegenüber Ost wie West kritische Debatte, auf parallele Impulse aus der westdeutschen Umwelt- und Friedensbewegung zu reagieren scheint.
Ernst Engelberg war ein Aufklärer durch und durch und zugleich dem Erbe des Denkens der klassischen deutschen Philosophie verpflichtet. In seinen theoretisch-konzeptionellen Schriften wie in seinen empirisch-historischen Arbeiten vermag er zu zeigen, wie die zentralen Kategorien des historischen Materialismus und die dialektische Auffassung der Geschichte im Wesentlichen Erkenntnis fördernd sind und nicht als doktrinäres Wortgeklingel abgetan werden können.
Wenn er die sozialökonomische Gesellschaftsformation ins Zentrum stellt, dann geht es ihm nicht um die Reduktion des geistig Bewussten auf einen ökonomischen, materiellen »Faktor«, sondern wie schon Marx »um die Aufhebung jener Separation und Isolation, die mit der Bewusstseins- und Ideenabstraktion verfügt ist, oder positiv: um eine integrative Zusammenschau von Bewusstsein und Leben (= bewusster Lebensfähigkeit)« (Fleischer 1994:209). Es sei Marx und Engels darum gegangen, »in der Gesellschaft alles, auch den Staat, um die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens kreisen« zu lassen (Engelberg 2013:24). In diesem Sinne gelte das Primat des Ökonomischen, nicht im Sinne einer kurzschlüssigen und direkten, dabei abstrakten Rückführung von allem und jedem auf wirtschaftliche Zwänge und Interessen.
Einen zentralen Platz im Engelbergs Geschichtsdenken nimmt die Revolution in der Weltgeschichte ein, namentlich in der Geschichte Europas, und das Wechsel-Verhältnis von Revolution und Evolution. Wie schon die marxistischen Klassiker unterscheidet der Autor technisch-wissenschaftliche, soziale, politische, militärische, geistige usw. Umwälzungen von teilweise sehr langer Dauer; deren Zusammenwirken er »totale Revolution« nennt. Bekanntlich gingen in der DDR wichtige Impulse für die theoretische Durchdringung und die empirische Erforschung des weltgeschichtlichen Phänomens der Revolution(en), neben der von Ernst Engelberg geleiteten Berliner Forschungsstelle vom Leipziger Kreis um Walter Markov und Manfred Kossok aus.
Nun kann man durchaus fragen, ob die Benutzung ein- und desselben, sei es auch spezifizierten Begriffs für so unterschiedliche historische Erscheinungen wie den sich über Jahrtausende hinziehenden Übergang zu sesshaften Ackerbaukulturen im Neolithikum, die Industrialisierung (bzw. den industriellen Durchbruch) seit dem mittleren 18. Jahrhundert und die gewaltsamen Staatsumstürze in Frankreich (seit 1789), Russland (seit 1917) usw. zweckmäßig und sinnvoll ist. Für Engelberg ist wesentlich nicht allein die Beschleunigung des Wandels, sondern auch die Zuordnung zu einer internationalen revolutionären Epoche, die durch die Notwendigkeit bestimmt ist, die Produktionsverhältnisse im Hinblick auf die Rebellion der Produktivkräfte, welche zu jenen in einen Gegensatz geraten sind, neu zu ordnen. Dabei können auch Fraktionen oder Protagonisten der herrschenden Klassen eine »revolutionäre«, der (grundlegenden, nicht nur kosmetischen) Anpassung an die epochalen Erfordernisse dienende Funktion erfüllen.
Natürlich hatte Engelberg aufgrund seiner eigenen Forschungen dabei vor allem die von den ersten Einwirkungen der Französischen Revolution in den 1790er Jahren bis zur kleindeutschen Reichsgründung reichenden Epoche der bürgerlichen Revolution in Europa im Auge, die in Deutschland im Anfangsstadium (durch die rheinbündischen sowie preußischen Reformen) und am Ende (durch Bismarcks Umsturz des mitteleuropäischen Status quo) hauptsächlich als »Revolution von oben« erfolgte. Auch in den Phasen der vom Autor zu Recht relativierten »Restauration« (1820er Jahre) und »Reaktion« (1850er Jahre) ging der Grundprozess weiter. Engelberg beharrt dabei nicht nur auf den Staaten und Nationen übergreifenden wechselseitigen Einflüssen, sondern ebenso auf der Bedeutung und Unverzichtbarkeit populärer Elemente (der »Volksmassen«) im Prozess: Ohne die Drohung durch irgendeine relevante Bewegung von unten keine Revolution von oben. Alle diese Zusammenhänge hat der Autor im ersten Band seiner Bismarck-Biographie minutiös erzählt, allgemeinverständlich analysiert und so plausibel gemacht.
Neben dem 19. Jahrhundert gilt Engelbergs Aufmerksamkeit dem, was die Historiker der DDR als »frühbürgerliche Revolution« des 16. Jahrhunderts charakterisierten (einschließlich der spätmittelalterlichen Vorgeschichte), also der Periode der Entstehung eines kapitalistischen Weltmarkts, der beschleunigten Ausbildung des Handelskapitals, von Manufaktur und Verlag im gewerblichen Bereich sowie der zunehmenden Kommerzialisierung der Landwirtschaft in den fortgeschrittenen Regionen Europas, während Deutschland mit dem lutherischen religiösen Aufstand des Gewissens, dem großen Bauernkrieg und mit der bürgerschaftlichen Reformation in den Städten das Zentrum des Geschehens war, ehe der Schwerpunkt des Protestantismus sich unter der Fahne des Calvinismus in die Schweiz verlagerte und dann auch zum ideologischen Rüstzeug der niederländischen Unabhängigkeitsrevolution wurde. An eine Engel’sche Denkfigur anknüpfend, wird die »frühbürgerliche Revolution« von Engelberg als erster Akt des welthistorischen Aufstiegs der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse verstanden, deren zweiter Akt die englische Revolution des 17. Jahrhunderts und deren dritter, entscheidender Akt die Französische Revolution des späten 18. Jahrhunderts, die »Leitrevolution« für die damit eingeleitete Epoche, gewesen sei.
Nach alledem versteht es sich fast von selbst, dass Ernst Engelberg mit Konzepten nichts anfangen konnte, die die Möglichkeit jeder objektiven geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis leugnen und die von Historikern dargestellte Geschichte als reines Konstrukt begreifen, er vielmehr das realistische Ziel darin erblickte, »einen möglichst hohen Grad von Übereinstimmung der Erkenntnisse (der Resultate der Erkenntnisfähigkeit) mit dem Erkenntnisobjekt zu erstreben, d. h. einen möglichst hohen Wahrheitsgehalt« (Engelberg 2013:177). Ohne Voraussetzung der objektiv-realen Existenz ihres Gegenstands verliert die Geschichtswissenschaft in der Tat ihren sicheren Boden und wird in letzter Konsequenz sinnlos.
In einer Zeit, da die neoliberale Bewusstseins(konter)revolution nicht allein sozialistische, sondern alle sozialkritisch und ethisch bestimmten Ideen marginalisiert hat, da andererseits Angehörige einer jungen, von den Frontstellungen der Vergangenheit unbelasteten Generation wieder beginnen, Interesse an radikaler Gesellschaftskritik und deren wissenschaftlicher Fundierung zu entwickeln, möge auch das Werk eines der bedeutendsten marxistischen Historiker deutscher Zunge wieder die Aufmerksamkeit finden, die ihm gebührt.
Auch in: Achim Engelberg (Hg.) mit einer Einführung von Peter Brandt, Ernst Engelberg. Wie bewegt sich, was uns bewegt? Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2013, S. 13-21.
Literatur:
Achim Engelberg (Hg.) mit einer Einführung von Peter Brandt, Ernst Engelberg. Wie bewegt sich, was uns bewegt? Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, Stuttgart 2013.
Helmut Fleischer, Marxismus: Sieg der Ideologie über die Ideologiekritik, in: ders. (Hg.), Der Marxismus in seinem Zeitalter, Leipzig 1994, S. 201-232.