von Ulrich Schödlbauer

Es ist die Politik, Dummkopf.

Präambel

  1. Es gibt Verantwortungspolitiker und Machtpolitiker.

  2. Verantwortungspolitiker: fälschlich Machtpolitiker genannt, weil der verantwortliche Umgang mit der Macht Vertrautheit mit ihren Mechanismen voraussetzt.

  3. Ideenpolitiker: Machtpolitiker mit Immunsystem. Die – ›objektiv‹ – festgeschriebene Idee erzeugt und rechtfertigt maximales Machtverlangen zum Zweck ihrer Realisierung.

  4. Für reine Machtpolitiker kommt die Idee später: Ups!

Macht

  1. Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg an die Macht zeigst, wird er ihn gehen.

  2. Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg zeigst, seine Macht zu erweitern, wird er ihn gehen.

  3. Wenn du einem Machtpolitiker einen Weg zeigst, ein System, das seine Macht einschränkt, auszuhebeln, wird er es tun.

  4. Wenn du ihm dann einen Weg zeigst, das Ungesetzliche legal aussehen zu lassen, wird er ihn den Weg des gesetzlichen Fortschritts nennen und für unumgänglich erklären.

  5. Erkläre einem Machtpolitiker, der ›an der Macht ist‹, wie man mit Hilfe der Naturgesetze einen übergesetzlichen Notstand herbeiredet und begründet: Er wird dir ein Forschungsinstitut verschaffen und dich zu seinem Ratgeber wählen.

  6. Macht rät sich selbst. Daher haben Ratgeber der Macht nicht die Aufgabe, Rat zu geben, sondern übergeordnete und unwiderlegbare Gründe für andernorts längst beschlossene Schritte herbeizuschaffen.

  7. Ein Machtpolitiker, sofern er sein Handwerk versteht, hat die Möglichkeit, auf Gewinn oder Verlust der öffentlichen Ordnung zu spielen. Gewinnt die öffentliche Ordnung, kassiert er die Machtrendite, verliert sie, holt er sich damit das Mandat, sie stärker zu ›strukturieren‹.

  8. Wägt man beides gegeneinander ab, so zeigt sich: Im zweiten Fall wächst die persönliche Macht schneller.

  9. Ein Beratungsgremium aus ehrenwerten Bürgern wird nötig, wenn angesichts bevorstehender Maßnahmen die ›guten Bürger‹ Verständnisschwierigkeiten bekommen. Seine Aufgabe besteht darin, so lange zu beraten, bis sich als Kompromiss einstellt, was vorher auf Parteitagen oder in Koalitionsausschüssen oder in vertraulichen Zirkeln beschlossen wurde. Den wirklichen Kompromiss schließt die Macht mit der Macht. Das Gremium macht den Kompromiss werthaltig.

Notstand

  1. Es gibt den gesetzlichen Notstand und den ungesetzlichen.

  2. Die förmliche oder informelle Ausrufung eines Notstandes ohne Not erzeugt den ungesetzlichen Notstand von oben.

  3. Ein Notstand kommt selten allein. Hat er die Regeln, nach denen das Gemeinwesen funktioniert, an einer Stelle ausgehebelt, so sinkt das ganze Regelgebäude peu à peu in sich zusammen, weil eins am anderen hängt.

  4. Der totale Notstand kommt auf leisen Sohlen. Er kommt als Reparatur, er beseitigt das System schrittweise unter der Vorgabe, es zu retten.

  5. Notstand ohne Not verlangt nach der Tyrannei der Werte.

  6. Das vollkommen geregelte Gemeinwesen beruht auf Werten – sie sind in seine Fundamente eingegangen und in ihnen aufgehoben. Die legitime Macht bewegt sich in den Grenzen der Legalität und die Gesetzgebung ist identisch mit der kohärenten Fortbildung des Rechts. Im Notstand hingegen legitimieren Werte singuläre Regierungsakte, das heißt Willkür. Man beruft sich auf sie, als handle es sich um höhere Wesen.

  7. Notstand hat viele Konsequenzen. Sie alle entspringen einer einzigen: Er stattet gewisse Menschen mit der Macht aus, die Freiheit der anderen nach Gutdünken zu beschneiden. Diese Menschen sagen nicht: »Ich will«, sondern sie sagen: »Der Notstand gebietet es.« Sie gehorchen also einem Gebieter, der mit ihrer Stimme spricht.

  8. Der Notstand, so betrachtet, ist ein Abstraktum. Keiner kennt ihn, keiner hat ihn gesehen, er wird geglaubt.

  9. Wie jeder Glauben hat auch dieser die Tendenz abzuflauen.

  10. Um dem Glauben auf die Sprünge zu helfen, müssen Sprachregelungen eingeführt werden, deren Aufgabe darin besteht, jedes Übel, das den Einzelnen trifft, dem Notstand unterzuordnen, der das unbedingte Handeln der Wenigen legitimiert. Daher müssen sie ›glaubhaft‹ sein, das heißt, die Grenze nicht zu überschreiten, an der sich Entrüstung in Gelächter entlädt – also nicht »Krieg ist Frieden«, sondern »Krieg verteidigt Frieden«, nicht »Wirklich ist, was gefällt«, sondern »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit« und dergleichen mehr.

Medien

  1. Liberale Medien pflegen die Distanz zur Macht. Notmedien bekämpfen diese Distanz, wo immer sie sich blicken lässt.

  2. Ein Auftrag für Medien im Notstand besteht darin, Sprachregelungen durchzusetzen und machtkonforme Lesarten der Ereignisse mit einer Werte-Aura zu versehen.

  3. Ein anderer Auftrag für Medien im Notstand besteht darin, den Feind zu markieren.

  4. Viele Medienmacher gehen davon aus, die Menschen müssten ihnen vertrauen. Weit gefehlt – die Menschen vertrauen den Medien nicht, sie glauben oder glauben ihnen nicht. Das ist etwas anderes. Überwiegt der Unglauben, dann ging nicht das Vertrauen ins Medium verloren, sondern die Verlässlichkeit der Information.

  5. Medien, die geglaubt werden müssen, verfallen dem allgemeinen Unglauben, Medien, die geglaubt werden sollen, der allgemeinen Verachtung.

  6. Medien, die ihr Publikum maßregeln, erregen Hass. Dahinter steht ein Akt der Selbstsinngebung: Die primäre Aufgabe besteht fortan nicht mehr darin zu informieren, sondern den Hass zu bekämpfen.

  7. Hat der Hass auf die Medien sich einmal der Auflagen – und Klickzahlen – bemächtigt, befinden sie sich in der Falle. Entweder sie leben vom Hass oder sie sterben an ihm. Tertium non datur.

  8. Die Entprofessionalisierung ›Medienschaffender‹ wird kenntlich, sobald sie anfangen, Angriffe auf ihr Medium oder auf ihre Autoren-Imago persönlich zu nehmen. Sie fürchten sich und beginnen zurückzuhassen.

  9. Hass ist ein Primäraffekt. Verbiete ihn und du hast ihn am Hals. Bekämpfe ihn und du hast zu tun.

  10. In Friedenszeiten nennt man Medien, die das patriotische Surplus der Gesellschaft bekämpfen, regierungshörig, in Kriegszeiten Verräter. In Zeiten des informationellen Notstandes befindet sich stets ein Teil der Gesellschaft im Frieden, ein anderer im Krieg.

  11. Das Geschäft der Notmedien ist die Dämonisierung der Welt.

Häresie

  1. Glauben und Unglauben sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer Glauben erzwingen will, nährt den Unglauben, wer ihn verordnet, mehrt das ungeordnete Denken.

  2. Glaubensherrschaft erzeugt Häretiker. Bei diesem Personenkreis handelt es sich nicht um Ungläubige, sondern um Glaubensfanatiker. Sie sind davon überzeugt, dass die aktuell Regierenden nicht das Richtige tun, um dem Notstand wahrhaft gerecht zu werden. Von der Regierung verlangen sie mehr Restriktionen des gesellschaftlichen Lebens, in der Praxis tyrannisieren sie ihre ohnehin mehr als billig geplagten Mitmenschen durch unsinnige Parolen und einschüchternde Aktionen.

  3. Gelangen Häretiker an die Macht, zerfallen sie gewöhnlich in zwei Fraktionen. Die eine will die Früchte der Macht genießen, die andere die Umwandlung des Systems vorantreiben. Der versteckt und offen geführte Machtkampf zwischen diesen beiden Gruppen bestimmt das politische und gesellschaftliche Leben des Landes.

  4. Verschwindet eine Fraktion, spaltet sich die überlebende auf gleiche Weise und immer so fort.

  5. In Gemeinwesen, die von Häretikern regiert werden, spielt sich das Leben der Normalen zwischen Hoffen und Verzweiflung ab. Die Gläubigen hoffen auf ein Ende des Notstandes, sobald der finale Zustand der großen Veränderung erreicht ist. Die Ungläubigen hoffen auf ein Ende der Häretiker-Herrschaft. Verzweiflung lässt die Gläubigen verstummen und treibt die Ungläubigen auf die Barrikaden.

  6. Die Häretiker-Herrschaft steht als Drohung über der Herrschaft als bloßer Machtausübung und lässt es so aussehen, als sei es letztere, welche die Bevölkerung ›vor Schlimmerem‹ bewahrt.

  7. Die Furcht vor der Übernahme der Macht durch Häretiker dient der Stabilisierung des als ›gemäßigt‹ geltenden Ausnahmeregimes, solange es Aussicht auf die Wiederherstellung der ›vollen bürgerlichen Freiheiten‹ nach dem Abflauen der Gefahr gewährt. Währenddessen arbeitet es daran, die eingeführten Maßnahmen als Garanten der Ordnung und damit der Freiheit in die gelebte Verfassung zu integrieren und ihnen damit Dauer zu verschaffen.

Gesinnung

  1. Sprechergruppen oder Parteien, welche die umfassende Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts verlangen, werden übersprochen: Der herrschende Glaube verlangt, sie als Gefahr für den Rechtsstaat auszusortieren und zu verabscheuen. Das kann ebenso an den Rändern geschehen wie in der Mitte: Das Freund-Feind-Schema macht ›inhaltliche Positionierung‹ weitgehend gegenstandslos.

  2. Die Ächtung trocknet die inkriminierten Gruppierungen gesellschaftlich aus und beschert ihnen in der Folge einen Zulauf dubioser, also rufverstärkender Elemente: self fulfilling prophecy.

  3. Öffentlich eingeforderter, keinem religiösen Dogma, sondern bloßen Sprachregelungen, die jederzeit wechseln können, verpflichteter Glaube heißt ›Gesinnung‹.

  4. Wenn Gesinnung im Wortsinn ›intrinsische Motivation‹ bedeutet, dann enthält die öffentliche Verwendung des Wortes einen inneren Widerspruch (oder eine Überschreibung): die geforderte Gesinnung ist auferlegt und verlangt vom Individuum Anpassung, also das Gegenteil von Gesinnung.

  5. Im Gesinnungsstaat gehören alle Güter virtuell der Regierung, die durch das Setzen von Präferenzen, materiellen Anreizen und Hürden und schließlich durch Verbote ihre Verfügbarkeit und Verteilung regelt. Das beschert der Überlebensfähigkeit der Gesellschaft einen gravierenden Nachteil: Je stärker die Regierung die planende Intelligenz im Regierungsapparat und seinen Beratergesellschaften konzentriert, desto kläglicher fallen die Spielräume der von den Gesellschaftsgliedern repräsentierten Intelligenz aus und umso willkürlicher werden die gefällten Entscheidungen.

  6. Ist der Gesinnungsstaat einmal etabliert, gerät früher oder später der institutionell geregelte Kampf um die Macht zur Farce, da jede zugelassene Alternative unter dem Gesinnungssdiktat steht und die nicht zugelassene, gleichgültig wie die Regeln lauten, einfach nicht zugelassen wird.

  7. Die Möglichkeit, aus diesem Circulus vitiosus auszuscheren, besteht, vorausgesetzt, die Wähler durchschauen irgendwann das Spiel, befreien sich vom Diktat der auferlegten Gesinnung und nehmen ihre genuinen, von der Verfassung garantierten Rechte wahr. Wo dies unterbleibt, ist der Weg in den Notstaat programmiert.

Notstaat

  1. Notstand schafft Not. Die Antwort der Machtbesessenen ist der Notstaat.

  2. Sobald Willkür festlegt, was not ist, unterbleibt das allgemein Notwendige durch einseitige, sprich verfehlte Allokation von Ressourcen. Ist die Notwendigkeit ein Phantasma, dann spricht man von Ressourcenvergeudung im großen Stil: Die Gesellschaft verarmt, der Staat verliert an Bedeutung und fällt auf das Niveau von Entwicklungsdiktaturen zurück.

  3. Der Abwärtssog erfasst die Institutionen des Wissens, weil sein Grund selbst für Wissenschaftler tabu ist. Wer immer ihn ausspricht, muss mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen. Der Prozess kommt praktisch unbemerkt in Gang, er vollzieht sich schleichend über lange Phasen der Akkommodation, in Krisenzeiten vollzieht er sich sprunghaft.

  4. Mit der Unfähigkeit zur Selbstreflexion verliert die Gesellschaft die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, mit der Unfähigkeit zur Selbstkorrektur vermindern sich ihre Überlebenschancen in einer prosperierenden Umwelt, mit sinkenden Überlebenschancen schwindet die Bindung der Bürger an ihren Staat, mit der Bindung schwindet das Interesse an seinen Institutionen.

  5. Am Ende dieser Entwicklung stehen Staat und Individuum einander als völlig fremde Instanzen gegenüber und ein Schnitt genügt, um das Band zu kappen, das sie pro forma noch miteinander verbindet.

  6. Das Ende kann lange dauern. Was danach kommt, weiß niemand.

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Historische Notiz: Alles, was den Deutschen widerfährt, gerät ihnen zum Menetekel.

 

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