von Johannes Pflug

Am 1. Dezember letzten Jahres verkündete der amerikanische Präsident Barack Obama, dass er im Jahr 2010 die US-Truppen in Afghanistan um weitere 30.000 Soldaten aufstocken und dann 2011 mit dem Abzug beginnen werde. Im Jahr 2012 finden die Präsidentschaftswahlen in den USA statt. Niemand kann ernsthaft glauben, dass Obama seinen Wahlkampf erfolgreich führen kann, während seine Truppen in Afghanistan in schwere Kämpfe verwickelt sind. Die amerikanischen Truppen werden bis Ende 2011 die meisten Provinzen in Afghanistan von den Taliban befreit haben - auf jeden Fall aber den Eindruck erwecken, die Taliban in Afghanistan seien besiegt. Dies ist die analoge Anwendung der Strategie von General Petraeus im Irak. Somit verbleiben zwei Jahre zur inneren Stabilisierung Afghanistans. Sollte diese Stabilisierung bis dahin nicht gelungen sein, werden die Taliban entweder in wenigen Wochen erneut Afghanistan beherrschen oder es wird wieder ein jahrelanger Bürgerkrieg in Afghanistan beginnen. Präsident Karzai sagt, Afghanistan sei im Jahre 2014 in der Lage für seine eigene Sicherheit zu sorgen.

Kein sofortiger Truppenabzug

Ein sofortiger Truppenabzug wäre ein Verrat und ein erbärmliches "Im-Stich-Lassen" der Kinder, Frauen, engagierten Menschen und zivilen Organisationen, denen wir in den vergangenen Jahren Mut gemacht haben, die Schule zu beenden, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen und sich für ihre Zukunft und die ihrer Kinder einzusetzen. Die Linkspartei ruft auf ihren Parteitagen immer wieder: "Hoch die internationale Solidarität!" Ein sofortiger Rückzug ist jedoch keine internationale Solidarität! Glauben die Linken wirklich, dass sich die Taliban und Warlords damit einfach zufrieden geben, wenn ihnen die Bauern erklären, dass sie jetzt kein Opium mehr, sondern Reis anbauen wollen? Nein, sie werden es nur akzeptieren, wenn die Bauern beschützt werden. Ebenso gilt es, die Mädchen zu beschützen, wenn sie die Schule besuchen.
Übrigens lassen sich die Taliban auch nicht durch Ostermärsche oder Lichterketten beeindrucken. Natürlich ist es nicht unsere Aufgabe, auf ewig in Afghanistan zu bleiben. Aber einen überlegten, durchdachten Rückzug sind wir denen schuldig, die sich auf uns verlassen haben. Um es deutlicher zu sagen: Nicht Präsident Karzai sind wir verpflichtet, aber den vielen Frauen und engagierten Abgeordneten aus Afghanistan, die uns regelmäßig in Berlin besuchen, um für eine gute Zukunft ihres Landes zu kämpfen.
Im Jahr 2001, nach den schrecklichen Anschlägen des 11. Septembers, sind wir nach Afghanistan gegangen, um Osama bin Laden zu fassen und die terroristischen Strukturen von Al Qaida zu zerstören. Dies ist auch teilweise gelungen. Al Qaida hat sich zu einer global agierenden (Internet)Organisation mit weltumspannenden Stützpunkten und dezentral operierenden Sympathisanten-Strukturen verändert. Langfristiges Ziel unseres jetzigen ISAF-Engagements auf Grundlage der UN-Resolutionen 1368 und 1373 bleibt jedoch, die Sicherheit der afghanischen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen zu garantieren, damit diese den Aufbau des Landes vorantreiben können. Dies ist bis dato leider nur teilweise gelungen. Der zivile Aufbau geht nur schleppend voran; eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung mit funktionsfähigen staatlichen Institutionen herzustellen, ist bisher nur in Ansätzen gelungen. Auch selbstständige handlungsfähige afghanische Sicherheitskräfte gibt es bis jetzt noch nicht in ausreichendem Maße - auch weil die von der internationalen Gemeinschaft gemachten Zusagen nicht eingehalten wurden, ebenso wenig wie die deutschen Versprechungen.

Die Positionen der SPD

Seit der Tanklaster-Katastrophe in Kunduz im September 2009 und der Diskussion um die Verantwortlichkeit von Oberst Klein wird verstärkt um eine neue - auf zivilen Aufbau konzentrierte - Afghanistan-Strategie gestritten. Auch die USA beteiligen sich trotz Truppenverstärkung daran. Frank-Walter Steinmeiers 10-Punkte-Plan vom September 2009 hat erstmals Ansätze vorgelegt, bei denen ein möglicher Abzugskorridor mit einem intensiven Einsatz der zivilen Mittel verknüpft wird. Mitte Januar haben dann der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier ein gemeinsames Positionspapier vorgelegt.
Darin wird deutlich, dass sich die SPD, als ehemalige Regierungspartei, ihrer Verantwortung für die deutschen Soldatinnen und Soldaten nicht entzieht. Wir fordern u.a. eine deutliche Verstärkung bei der Ausbildung der afghanischen Polizei und Armee sowie die Erhöhung der zivilen Hilfen. Zusätzliche Kampftruppen lehnen wir ab. Gleichzeitig verlangen wir einen konkreten Zeitplan für die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte, Distrikt für Distrikt.
Besonders wichtig ist uns dabei, dass die Bundeswehr - selbstverständlich in enger Abstimmung mit unseren internationalen Partnern - eine konkrete Abzugsperspektive bekommt. Neben diesen militärischen Aspekten wollen wir die zivilen Hilfen stärken. Nach unseren Vorschlägen soll es eine Verdopplung der Mittel für den zivilen Wiederaufbau geben. Besonders wichtig ist der SPD dabei, dass endlich quantitative, qualitative und zeitliche Kriterien entwickelt werden, anhand derer man die Fortschritte und die Entwicklung in Afghanistan tatsächlich messen kann. Ziele, die konkret benannt sind, lassen sich einfacher erreichen.
Dieses Positionspapier von Gabriel und Steinmeier war die Arbeitsgrundlage der SPD-Afghanistan-Konferenz im Willy-Brandt-Haus eine Woche vor der internationalen Londoner Konferenz. Es wurde dort von den vielen hundert Anwesenden sehr positiv aufgenommen. Auf dieser Basis hat die Parteispitze einen Diskussionsprozess in Gang gesetzt. Mitglieder und Interessierte sind ausdrücklich aufgefordert, sich mit ihren Vorschlägen und Anregungen einzubringen.

Die Position der Bundesregierung

Kurz vor London hat die Bundesregierung dann endlich ihr eigenes Afghanistan-Konzept vorgestellt. Dabei hat sie vordergründig die SPD kritisiert und gleichzeitig sozialdemokratische Positionen übernommen. So wird die Ausbildung der afghanischen Soldaten und Polizisten verstärkt, die Mittel für den zivilen Wiederaufbau werden auf 430 Millionen Euro verdoppelt. Auch eine Abzugsperspektive nennt Bundeskanzlerin Merkel: In stabilen Provinzen soll schon Ende dieses Jahres mit einem Rückzug der deutschen Truppen begonnen werden.
Die CDU/CSU-FDP-Koalition hat ebenfalls die Ansicht der SPD übernommen, keine zusätzlichen Kampftruppen zu entsenden. Ganz im Gegenteil, die offensiven Kräfte, die bereits in Afghanistan sind, sollen zugunsten von mehr Ausbildung im bestehenden Kontingent von 4500 Soldaten umgeschichtet werden. Dies wird jedoch mit einer Aufstockung von 500 Soldaten verbunden, die zur Ausbildung eingesetzt werden sollen; hinzu kommen 350 Soldaten als Flexibilisierungsreserve. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie genau erläutert, wie diese Zahl der 850 Soldatinnen und Soldaten zustande kommt.

Die London-Konferenz am 28. Januar 2010

Mit der Londoner Konferenz Ende Januar hat die internationale Gemeinschaft nun den Grundstein für eine neue Strategie in Afghanistan gelegt. Außenminister Westerwelle bezeichnete sie gar als "Wendepunkt" des deutschen Afghanistan-Engagements . Im Mittelpunkt steht dabei die Eigenverantwortung der Afghanen: Die dortige Regierung soll mehr in die Pflicht genommen werden. Durch die Aufstockung der zivilen Mittel, aber auch über eine Verbesserung bei der Ausbildung der afghanischen Polizisten und Soldaten, soll es zu einer möglichst schnellen Übernahme der Verantwortung durch die Afghanen kommen. Gleichzeitig hat sich die afghanische Regierung zu einer guten Regierungsführung verpflichtet.

Re-Integrationsprogramm für Ex-Taliban-Kämpfer

Neu hingegen ist jedoch der Anstoß eines Re-Integration-Programmes für gemäßigte Taliban. Hier wird es einen Fonds geben, in den die internationale Gemeinschaft einzahlt, um sogenannten "gemäßigten" Taliban-Kämpfern eine bessere wirtschaftliche Perspektive zu bieten. Dies ist eine Idee von unserem ehemaligen Parteivorsitzenden Kurt Beck aus dem Jahr 2007 - dafür wurde er noch von den jetzigen Regierungsparteien verhöhnt.
Viele Mitglieder der Taliban haben sich aus finanziellen Nöten diesen angeschlossen - sie arbeiten vornehmlich nicht aus ideologischen Gründen mit. So zahlen die Taliban ihren Kämpfern das Acht- bis Zehnfache dessen, was z.B. ein afghanischer Polizist verdient. Für diese Menschen ist das "Aussteiger-Programm" gedacht. Dass der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt das Programm als "Taliban-Abwrackprämie" bezeichnet, passt in den gesamtpolitischen Eindruck, den die CSU mit ihrem Parteivorsitzenden Horst Seehofer zurzeit hinterlässt.
Natürlich ist es schwierig, solche Aussteiger zu identifizieren. Grundlage für einen solchen "Taliban-Ausstieg" muss das eindeutige Bekenntnis zu der afghanischen Verfassung sein. Vor diesem Hintergrund kann dieses Programm mit den anderen zivilen Hilfsgeldern verhindern, dass junge Männer sich überhaupt erst aus wirtschaftlicher Not den Taliban anschließen.

Eine Perspektive für Afghanistan?

Ein weiteres Ziel des ISAF-Einsatzes, die Garantie von innerer und regionaler Sicherheit, ist noch nicht erreicht. Aber wir müssen die beiden nächsten Jahre dazu nutzen. 3500 Schulen sind errichtet worden, ca. sechs Millionen Kinder haben Zugang zu Bildung, 35% davon sind Mädchen. Rund 80% der afghanischen Bevölkerung bekommen wieder eine medizinische Grundversorgung.
Die wichtigste Verkehrsroute, die Ring Road, konnte auf einer Strecke von ca. 2000 km wieder befahrbar gemacht werden. Hinzu kommen viele tausend Kilometer ländlicher Straßen, die wiederhergestellt wurden.
Dies ist ein wichtiger Beitrag zum Aufbau der Infrastruktur, ohne diese ist wirtschaftlicher Aufschwung nicht möglich. Der Hauptkampf in den nächsten Monaten muss der Korruption gelten. Auch ist die afghanische Zentralregierung bislang nicht in der Lage, die Bevölkerung mit staatlichen Dienstleistungen überall im Land zu versorgen. Ebenso fehlt es an ausgebildetem Fachpersonal. Oftmals vertrauen die Menschen ihrer Regierung nicht - die Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen waren nicht unbedingt dazu geeignet, das Ansehen der Zentralregierung bei der afghanischen Bevölkerung zu erhöhen. Auch deshalb können wir die afghanische Bevölkerung jetzt nicht im Stich lassen.
Eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung Afghanistans spielen die Staaten in der Region; dazu gehören vor allem China, Indien, der Iran, die zentralasiatischen Staaten und natürlich Pakistan. Ohne eine Einbeziehung dieser Länder wird eine dauerhafte Stabilisierung der gesamten Region kaum möglich sein.
Wenn Afghanistan zum "failed state" wird, droht auch in Pakistan die Machtübernahme durch radikale Islamisten. Dann ist die Gefahr groß, dass die Islamisten die Verfügungsgewalt über die pakistanischen Atomwaffen bekämen. Dies ist eine schreckliche Vorstellung. Indien wird dem niemals tatenlos zusehen - ein neuer Krieg würde drohen.

Der eigene Weg

Bei allen Problemen muss uns jedoch auch eines klar sein: Der Aufbau einer Demokratie nach westlichem Vorbild in Afghanistan ist nicht möglich und war auch nie unser Ziel. Dazu hat dieser Vielvölkerstaat eine ganz andere Geschichte und Traditionen. Es ist aber das Interesse der internationalen Völkergemeinschaft, dass Afghanistan nicht wieder Basis für Terroristen wird, sondern die Menschen dort endlich in Frieden leben können. Wie sagte Helmut Schmidt: Es muss alles dafür getan werden, dass Afghanistan sich nicht zu einer "Tragödie im klassisch-griechischen Sinne" entwickelt. Die Sanduhr von London läuft.


Johannes Pflug, Duisburger SPD-Bundestagsabgeordneter, ist  seit Dezember 2009 Vorsitzender der Afghanistan/Pakistan-Task- Force  der SPD-Bundestagsfraktion.

 

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