von Herbert Ammon

I

Mit Bitterkeit, keineswegs mit Ironie, vernehme ich die jüngste, von dem Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz Bischof Georg Bätzing, der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus und dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Erzpriester Radu Constantin Miron, in ökumenischer Gemeinschaft verfasste christliche Botschaft an die Bundesregierung. In einem Brief fordern sie die Bundesregierung auf, sich für eine ›qualifizierte und machtvolle Friedensmission der UN oder der EU‹ einzusetzen, um die ›in Berg-Karabach verbliebenen ethnischen Armenier‹, die ›der Willkür der aserbaidschanischen Regierung und des Militärs ausgesetzt‹ seien, vor weiterem Unglück zu bewahren. Die Kirchenleute ersuchen insbesondere Außenministerin Annalena Baerbock, ›wirksame Schritte zu ergreifen, um die aserbaidschanische Regierung zu einer gerechten und friedlichen Lösung des Konflikts zu bewegen‹.

Der Brief wurde bereits am 20. Oktober versandt, vier Wochen nachdem der aserbaidschanische Präsident Alijew – mit Billigung Putins und mit offener Unterstützung Erdogans – die armenische Enklave besetzt und der ›Republik Arzach‹ ein Ende bereitet hatte. Über ein paar Tage hin offenbarten Bilder – ein unendlicher Zug von Flüchtlingen auf der einzigen Verbindungsstraße zum armenischen Staatsgebiet – das jüngste Elend in der kaukasischen Bergregion. Danach okkupierten die Schreckensszenen aus Israel das Interesse der medialen Öffentlichkeit.

An dem Brief selbst ist wenig auszusetzen, außer dass er – wie schon so viele ähnliche Botschaften – die Realität verfehlt. Selbst unmittelbar nach dem Coup Alijews (siehe u.a. mein Beitrag) wäre er wirkungslos geblieben, da die westliche Staatengemeinschaft außer schönen Worten den Armeniern jegliche Hilfe versagte. Im Falle Berg Karabach wirkten machtpolitische Gegebenheiten, energiepolitische Zweckrationalität und völkerrechtliche Definitionen – der Begriff ›Selbstbestimmungsrecht‹ für das Volk von Berg Karabach stand auch für die westlichen Demokratien stets außer Frage – zusammen, wodurch das Schicksal der Armenier in ihrer uralten Kernregion Karabach besiegelt war.

Der Appell der Kirchenleute kommt nicht nur zu spät, er geht ins Leere. Außer rhetorischer Entrüstung über die Aspekte der Vertreibung sind von Außenministerin Baerbock Schritte in Richtung einer ›machtvollen und qualifizierten Friedensmission‹ nicht zu erwarten. Die UNO war unlängst mit einer einseitigen Resolution zum Gaza-Krieg beschäftigt. Zudem fällt die Okkupation Berg Karabachs am East River unter die inneren Angelegenheiten des souveränen Staates Aserbaidschan. Auch die EU stellt keine politisch handlungsfähige Einheit dar, die etwa im Kaukasus intervenieren könnte. Zudem wollen weder die USA noch die EU ihren Nato-Partner Erdogan ernstlich vergrämen. Und obenan steht für alle der große Krieg in der Ukraine. Von einem denkbaren direkten Angriff auf Armenien abgesehen, wird das Spiel im Kaukasus damit enden, dass die westliche Wertegemeinschaft Alijews Deklamationen, den verbliebenen Armeniern würden volle staatsbürgerliche Rechte garantiert, für bare Münze nimmt.

II

Am Ende wird die Bundesrepublik Deutschland einige Tausende armenische Flüchtlinge – de facto Vertriebene – aufnehmen. In diesem Fall handelte es sich realiter um arbeitsame, den Arbeitsmarkt entlastende ›Fachkräfte‹, obendrein um integrationswillige Christen. Gemäß einem früheren – Diktum der Grünen-Politikerin Göring-Eckardt bekämen wir also wieder ›Menschen geschenkt‹. Addendum: Angesichts des ungebremsten Zustroms von ›Geflüchteten‹ aus aller Welt, der die Kommunen überfordert und die Grünen in den Umfragen Prozente kostet, hat Göring-Eckardt, hohe Kirchenfunktionärin im Rat der EKD, jüngst ihre Rhetorik modifiziert. Es geht ihr jetzt anscheinend auch um eine ›Obergrenze‹.

An der Spitze der Evangelischen Kirche hingegen hält die Ratsvorsitzenden Annette Kurschus an der bislang praktizierten Flüchtlingspolitik fest (in: Mehr legale Zugangswege nach Europa, Interview in: FAZ v. 30.10.2023, S.5). Henryk Broder hat ihre diesbezüglichen Auslassungen mit gewohnter Ironie kommentiert (https://www.achgut.com/artikel/irre_ist_das_neue_normal_5). Nichtsdestoweniger sei ein weiterer Kommentar hinzugefügt, denn es geht um Grundsätzliches, um die geistige Verfassung der evangelischen Kirche, wie sie in dem Kurschus-Interview exemplarisch hervortritt.

Naturgemäß argumentiert die Kirchenchefin aus der ›Sicht der Nächstenliebe‹ und/oder ›aus christlicher Sicht‹. Unter der christlichen Prämisse – die hier nicht in Zweifel gezogen werden soll – entzieht sich die Theologin der Logik ihrer Aussage. Die Grenze für die Pflicht zu Nächstenliebe liege da, wo es zur Selbstaufgabe komme. Anstatt – allgemein unter ökonomischen und sozial-kulturellen Aspekten, konkret im Blick auf die Zustände in deutschen Großstädten – zu erklären, was unter ›Selbstaufgabe‹ – bzw. horribile dictu unter ›Selbsterhaltung‹ – zu verstehen sei, verlegt sich Kurschus auf den bloßen Appell (›Grundsätzlich müsste unser reiches Land in der Lage sein‹ usw.), der auf ökonomische Daten – und soziale Evidenz - verzichten kann.

Zwar mögen die Kommunen klagen, doch die Ratsvorsitzende erklärt, sie höre ›von den vielen Ehrenamtlichen, die sich … in der Arbeit mit Geflüchteten engagieren‹ derlei Klagen nicht. Dass es sich bei den Ehrenamtlichen nicht um einen repräsentativen Durchschnitt von überlasteten Sozialarbeitern, Lehrerinnen, Bürgermeistern usw. handelt, sondern um einen begrenzten Kreis von Eine-Welt-Aktivistinnen/Aktivisten (mit gesichertem Einkommen), übersieht die Kirchenchefin ebenso wie das – aus Milliardenbudgets der Regierung gespeiste – vested interest der kirchlichen und nichtkirchlichen Helfergruppen.

Mit dem Argument des ›reichen Landes‹ begründet Kurschus auch die Aufnahme von ›noch mehr Menschen ..., die vor Krieg und unterschiedlichster Not … Zuflucht bei uns suchen.‹ Zur ›unterschiedlichsten Not‹ zählt sie auch ›die Folgen der Klimakatastrophe‹, die ›immer mehr Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen‹. Push- and Pull-Faktoren, die nicht ins Bild unverschuldeten Elends passen, kommen in Kurschus’ Sicht der Dinge nicht vor. Mit Nachdruck verteidigt sie sodann die Seenotrettungsaktionen der EKD im Mittelmeer. Mit United4Rescue habe man ein breites Bündnis zustande gebracht und könne dazu beitragen, ›dass wenigstens einige gerettet werden‹.

In gesinnungsethischer Selbstgewissheit verweigern sich Kirchenfunktionäre wie Kurschus der so schlichten wie bitteren Erkenntnis, dass die Rettungsaktionen de facto als Hilfsaktionen für das hoch kriminelle Schlepperwesen fungieren. Und entgegen aller guten Absicht bedeuten sie für zahllose Migranten, die sich in der Hoffnung auf ein Rettungsschiff auf die Schlepperboote drängen, den Tod.

III

Dass die EKD-Ratsvorsitzende Sympathie für die ›Letzte Generation‹ äußert, da diese auf die unbedingte Dringlichkeit der Klimakatastrophe hinweise, versteht sich von selbst. Ihre pastoral eingefärbten Aussagen – Aktionen wie die teure Verunzierung des Brandenburger Tores deutet sie ›als Anfrage an das, was Staat und Gesellschaft zum Klimaschutz unternehmen‹ – klingen kaum anders als die entsprechenden Passagen aus den Proklamationen diverser NGOs.

Kurschus’ Verlautbarungen werden bei jener Minderheit kirchlich ›engagierter‹ Kreise Beifall finden, die sie als Ausdruck des vom Weltkirchenrat erstmals anno 1983 (in der Spätphase des Kalten Krieges) verkündeten ökumenischen Credo – Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – interpretieren. Die Crux an dieser Trinitätslehre liegt zum einen darin, dass sie in ihrer Allgemeinheit wenig Aussagekraft besitzt, zum anderen, dass sie in der säkularen Gesellschaft auf Indifferenz stößt. Zum dritten aber zielt derlei Botschaft in den Kernpunkten ›Frieden‹ und ›Gerechtigkeit‹ wiederholt an der komplexen Wirklichkeit vorbei.

Nicht zufällig legte die evangelische Kirche angesichts des Ukraine-Kriegs das pazifistische Thema – vorerst ? – ad acta. Im Hinblick auf den Gaza-Krieg, den mörderischen Islamismus und die Chancen auf einen realen Frieden in Nahost fällt den führenden Protestanten nichts ein. Nicht zuletzt tritt die gesinnungsethisch überhöhte Realitätsverweigerung in der – auch im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung im ›globalen Süden‹ womöglich unlösbare – Migrationsthematik hervor.

Der Mitgliederschwund beider Kirchen hat vielerlei Gründe, bei den Katholiken maßgeblich verursacht durch die Aufdeckung unzähliger Fälle sexuellen Missbrauchs. Bei den Protestanten liegen die Ursachen anderswo. Als allgemeine Erklärung kommt die Säkularisierungsthese in den Sinn. Die aufgeklärte Welt bedarf keiner religiösen Sinngebung mehr. Das ist – im Hinblick auf den Zustrom der evangelikalen Kirchen oder der bei ›Fridays for Future‹ manifesten religiösen Surrogate – nur die halbe Erklärung. Ebenso wenig vermag das in Kirchenkreisen häufig zu hörende Argument überzeugen, Zahnärzte, Manager, Rechtsanwälte usw. wollten ihren Lebenskomfort nicht durch Kirchensteuer beeinträchtigt sehen, zu überzeugen.

Tatsächlich verlassen nicht wenige die Kirchen, weil sie in deren – an der Wirklichkeit vielfach vorbei zielenden – Proklamationen keine Antworten auf existenzielle Fragen finden. ›Klimarettung‹ ist nicht identisch mit der christlichen Heilsbotschaft. Ethik – kontrovers in vielen Fragen – ist kein Ersatz für die die ›letzten Dinge‹ betreffenden Fragen. Gelingt den Kirchen – im Hinblick sowohl auf die existenziellen als auch auf die politisch realen Fragen – keine überzeugende Aktualisierung zentraler Glaubensinhalte, so wird sich nicht nur der Exodus aus den Kirchen fortsetzen, sondern sie werden auch ihre – unter dem Bekenntnis zum ›Pluralismus‹ – nach wie vor reklamierte Führungsrolle in politicis einbüßen. Derlei Erkenntnis gehört zur banalen Wirklichkeit der deutschen Gesellschaft.

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