von Ralf Stegner

Als langjähriger Landtagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender  begleite ich die Entwicklung der Debatte über unseren Parlamentarismus mit großer Sorge. Das öffentlich gezeichnete Bild unserer Volksvertretungen und ihrer Mitglieder wurde im Laufe der Zeit zunehmend negativ, die inhaltlichen Bewertungskriterien parlamentarischer Arbeit sind immer mehr bloßen Zahlenspielen gewichen. Für mich Grund genug, meine Gedanken zu ordnen und einen Denkanstoß zu geben in der Hoffnung, einen konstruktiven Beitrag zu dieser Debatte zu leisten.

Peter Ustinov hat etwas sehr Kluges gesagt, als er feststellte: »Die Griechen haben die Demokratie nicht erfunden, sondern etwas viel Wichtigeres getan: Sie haben sie gelebt und irgendwann ein Wort gefunden, um sie zu beschreiben. Man muss die Demokratie hüten wie seinen Augapfel.« Wir müssen uns also um unsere Demokratie kümmern und sie pflegen. Und wir dürfen nicht vergessen, welche wichtige Aufgaben dem Parlamentarismus innerhalb dieses Systems zukommen. In Parlamenten, die vom Volk in freien und gleichen Wahlen demokratisch gewählt werden, werden die maßgeblichen Bedingungen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens verhandelt und beschlossen. Diese demokratische Ordnung unseres Gemeinwesens wurde hart erkämpft, teils mit Worten, teils aber auch durch gewaltsame Umstürze und Revolutionen, in denen Menschen ihr Leben für mehr Mitbestimmung und Demokratie geopfert haben. Dabei gelang es gerade durch den Parlamentarismus, unterschiedliche Klassen und Interessen zu integrieren. Unter anderem gilt das für die Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung und in ihrer Tradition auch die SPD sind stets für die Demokratisierung aller Lebensbereiche eingetreten. Menschen müssen in den Bereichen, in denen sie leben und arbeiten, mitentscheiden können. Was das konkret bedeutet, muss immer wieder neu verhandelt werden. Auch das ist ein wesentlicher Teil einer demokratischen Kultur.


Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie

Aus meiner Sicht ergeben sich im Alltag der heutigen Zeit verschiedene Herausforderungen an die parlamentarische Demokratie der Gegenwart, die ich regelmäßig auch in meinem Alltag als Landtagsabgeordneter direkt erlebe:

Trotz aller gesellschaftlicher Veränderungen und Herausforderungen sind die vier klassischen Parlamentsfunktionen dabei dieselben geblieben. Die Anforderungen an sie haben sich jedoch verändert:

  1. Die Repräsentation der Bevölkerung sowie die Artikulation ihrer Interessen sind komplexer geworden. Sie bleiben aber die Schlüsselfunktionen des Parlamentarismus. Deshalb sollten wir besonders genau darauf schauen, wer durch wen repräsentiert wird (und wer nicht) und wessen Interessen wie artikuliert werden. Hier komme ich wieder auf die oben beschriebene Veränderung unserer Gesellschaft zu sprechen und stelle fest, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen und ihre Interessen in unseren Parlamenten unterrepräsentiert sind. Das gilt zum Beispiel für Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch für Menschen mit Behinderung oder junge Menschen.
  2. Die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung findet nur noch geschwächt statt. Konflikte verlaufen in der Regel eher zwischen Opposition und Regierungsfraktionen als zwischen den Gewalten und werden in Einzelfällen auch durch Gerichte entschieden.
  3. Die Judikative nimmt durch Urteile zunehmend auch eine Gesetzgebungsfunktion wahr, die ihr strenggenommen nicht zugedacht ist. Gleichzeitig wird die Komplexität durch die voranschreitende europäische Integration immer größer.
  4. In der öffentlichen Wahrnehmung dagegen drohen die Parlamente auf die Rekrutierungsfunktion beschränkt zu werden. Personal und Karrieren stehen im Vordergrund der öffentlichen Berichterstattung.


Das öffentliche Bild der parlamentarischen Demokratie

Medien erwarten Streit und Sensationen, Wähler aber bestrafen Streit. Dies widerspricht sich und führt zwangsweise in eine Abwärtsspirale, die durch den allgegenwärtigen Konkurrenzdruck noch erhöht wird. Wenn einige Journalisten sich dann noch über die Politik erhaben fühlen und teils zynisch berichten, tut dies sein Übriges.

Kürzlich bewertete eine schleswig-holsteinische Journalistin den »Fleiß« der Landtagsabgeordneten auf Grundlage der Anzahl von ihnen unterschriebener Anträge und Kleiner Anfragen. Leider zeigt dieses Beispiel nur zu gut, auf welchem zum Teil sehr niedrigen Niveau geurteilt wird. Über die Qualität der Beiträge, Parlamentsreden, über Mitarbeit in Ausschüssen und Arbeitskreisen sowie die zahlreichen Wahlkreisaufgaben wurde in dieser Bewertung schlicht nichts gesagt.

Fraktionsgelder und Diäten sind häufig Gegenstand öffentlicher Debatten. Wieder einmal, heißt es dann, würden sich die Parlamentarier das Geld in die eigene Tasche schieben. Manchen dieser Vorwürfe kann man allerdings mit Fakten begegnen: In Schleswig-Holstein haben wir die Fraktionsgelder bereits in der letzten Legislaturperiode um 10 Prozent gekürzt und den Landtag deutlich verkleinert. Das bringt nicht nur 2,7 Millionen Euro an Kostenersparnis, sondern auch mehr Arbeit für die einzelnen Abgeordneten in den Arbeitskreisen, Ausschüssen und in den Wahlkreisen.

Diäten sollen wiederum auch die Unabhängigkeit der Abgeordneten und ihre Chancengleichheit beim Erfüllen ihres Mandats garantieren. In der Vergangenheit mussten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier hierüber regelmäßig selbst entscheiden. Dies wurde sehr kritisch diskutiert, also haben wir in Schleswig-Holstein einen anderen Weg gesucht und gefunden. Aufgrund der statistischen Zahlen wird die jährliche Anpassung regelmäßig berechnet. Sie geht auf einen Index zurück, der die Gesamtentwicklung der Einkommen in unserem Land abbildet. Auf diese Weise sind nicht mehr die Parlamentarier gefragt, eine Entscheidung über eine Anpassung zu treffen, sondern diese ist an die Einkommensentwicklung der Menschen in Schleswig-Holstein gebunden.

Die historisch niedrigen Wahlbeteiligungen müssen Anlass zur Sorge geben. Je weniger Menschen ihr Wahlrecht nutzen, desto schlechter für die Demokratie. Generationen haben vor uns teilweise unter Einsatz ihres Lebens für das Wahlrecht gekämpft. Wir alle müssen gemeinsam daran arbeiten, deutlich zu machen, dass es einen Unterschied macht, wer in unseren repräsentativen Vertretungen die Mehrheit hat und was mit dieser Mehrheit gemacht wird. Der derzeitige Tenor aber lautet: Es ist eh egal, wer die Mehrheit hat. Diese Stimmung zeigt vor allem, dass Politikerinnen und Politiker mit mangelnder Glaubwürdigkeit zu kämpfen haben.

Was tun?

Diesem Gedanken folgend ist es eine der zentralen Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie, die Glaubwürdigkeit (zurück) zu gewinnen. Dazu zählt zum Beispiel, in Wahlkämpfen nicht mehr zu versprechen als man halten kann, dies dann aber auch konsequent umzusetzen. Nur wenn Menschen Vertrauen in das parlamentarische System und ihre Repräsentanten im Parlament haben, kann die parlamentarische Demokratie auf Dauer bestehen!

Darüber hinaus gibt es aber einige weitere – eigentlich selbstverständliche – Möglichkeiten, die aus meiner Sicht geeignet sind, unsere parlamentarische Demokratie zu stärken.

Grundsätzlich ist auch die simpelste Wahrheit anzuerkennen: Politiker sind einfache Menschen. Es sind keine Über-Menschen, sondern Amateure. So will es das Verständnis unserer Demokratie. Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie in der Kommunalpolitik, wo Menschen ehrenamtlich Politik machen und sich für das Gemeinwohl einsetzen. Alle geschilderten Probleme von Repräsentation und Glaubwürdigkeit hängen eng mit uns Politikern als Menschen zusammen. Wir wissen nicht alles, wir haben spezifische Erfahrungen gemacht, haben eine Herkunft, eine Geschichte, Emotionen, bestimmte Dinge sind uns besonders wichtig. Politik wird häufig als technokratisches Prozedere inszeniert, und viele von uns tragen durch ihr Auftreten dazu bei. Um das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie und letztlich die Repräsentation durch Parlamentarier insgesamt zu stärken, müssen Politikerinnen und Politiker nah bei den Menschen sein, sich aber auch selbst als solche zu erkennen geben. Dazu gehört auch, eine Sprache zu sprechen, die die Mehrheit der Menschen versteht. Ansprechbar zu sein. Zuzuhören. Menschen und ihre Alltagsprobleme ernst zu nehmen.

Geschrieben von: Stegner Ralf
Rubrik: Politik