von Lutz Götze

Paris ächzt unter einer erbarmungslosen Sonne, saharaähnlich. Im Süden des Landes, so ist zu hören, seien mehr als 45 Grad gemessen worden, mehrere Menschen bereits in Seen und Flüssen ertrunken. Landesweit haben die Schulen geschlossen und bieten stattdessen Notunterkünfte sowie kalte Getränke an. Frankreich befindet sich im Ausnahmezustand.

Paris ohnehin. Die Hauptstadt mit ihren zehn Millionen Einwohnern ist um eine weitere Million angewachsen: Touristen aus aller Herren Länder, zumeist Chinesen, Japaner, Deutsche, Engländer und Russen. In Riesenzahl vertreten aber sind US-Amerikaner und -Amerikanerinnen. Der Grund? Zum einen die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen und die Hoffnung, ihre Landsfrauen könnten gewinnen. Zum zweiten folgen Tausende, demokratisch gesonnen, ihrem früheren Präsidenten Obama, der gerade samt Familie in Südfrankreich Urlaub gemacht hat. Sonderbare Amerikaner!

Der Stadt tut dieser Rummel nicht gut. Keineswegs nur deshalb, weil Straßen, Cafés, Bahnen und Busse verstopft sind, sondern weil auch die Freuden der Stadt verblassen, die sie in früheren Jahren auszeichneten. Das merkt der Reisende, der die Stadt seit Jahrzehnten liebt, vor allem in den Restaurants. An unwirsche Kellner hat er sich ohnehin seit Jahren gewöhnt. Was sie freilich im Sommer servieren, macht dem guten Ruf der Grande Cuisine alle Schande. Zu Horrorpreisen werden Gerichte gereicht, die schwer genießbar, selten ordentlich gekocht oder gebraten sind und obendrein unansehnlich daherkommen. Empört sich der Gast, wird dies mit einer Handbewegung abgetan oder, gelegentlich, auf die armen Köche verwiesen, die hoffnungslos überfordert und obendrein, der Hitze wegen, am Zusammenbrechen seien. Der Gast schweigt binnen Sekunden. Selbst im altehrwürdigen Procope – Treffpunkt der Aufklärer Diderot und Voltaire, aber auch des unglücklichen Danton –, gerät er mitnichten ins Schwärmen.

Dass der, mit Verlaub, Fraß, auch etwas mit der Vielzahl der angereisten US-Amerikaner und Angelsachsen zu tun hat, deren heimische Küche für einen Gourmet ohnehin ungenießbar ist, verschweigt des Sängers Höflichkeit. Frankreichs Köche haben sich, beklagenswerterweise, dem dortigen Niedrigniveau angepasst.

Die großen Boulevards

Die Straßen jedoch werden, jenseits des maskulin bestimmten Verkehrswahns, von der Weiblichkeit dominiert. Keineswegs erst am Abend, sondern auch tagsüber, zeigen sich Jung und Alt unter den Pariserinnen von ihrer charmantesten und verführerischen Seite. Der ubiquitäre Schmuddellook mit kniefrei zerrissenen Jeans, härenen Pullovern und ungepflegten Frisuren gehört der Vergangenheit an. Welch sympathischer Unterschied zu Deutschland, wo unter der heranwachsenden Weiblichkeit noch immer Emanzipation mit schlampigem Aussehen verwechselt wird!

Ausstellungen und Galerien

Paris bleibt unverändert das Zentrum der schönen Künste. Es wäre müßig, auch nur ein Bruchteil aller Galerien im 6. Arrondissement zu erwähnen. Ein Besuch in der Rue de Seine oder der Rue des Beaux Arts ist abendfüllend und angesichts schweißtreibender Temperaturen erschöpfend, doch ungemein lohnend. Erwähnt aber seien zumindest zwei bemerkenswerte Ausstellungen, die Künstlerinnen gewidmet sind, die die Nachwelt zu Unrecht vergessen hat. Einmal ist das, im Musée d’Orsay, Berthe Morissot, und zum zweiten, präsentiert im Centre Pompidou, Dora Maar, grandiose Fotografin, Freundin der Futuristen André Breton und Paul Eluard sowie, vor allem anderen, Muse und Geliebte Picassos.

Die Morissot, Schwägerin Edouard Manets, setzte sich gegen alle akademischen Widerstände in der impressionistischen Szene durch, malte außerordentliche Porträts ihrer Tochter und Stillleben, blieb freilich gelegentlich epigonal, konnte sich nicht recht von den Freunden Renoir, Degas und Monet befreien und beließ manches Werk im Vorläufigen . Gleichwohl verdient das Museum am Ufer der Seine Dank, die Künstlerin der Vergessenheit entrissen zu haben. Genauer: Die Morissot ist ein typischer Fall männlicher Verhinderung von Frauen, die, obwohl hochbegabt, von der männlich dominierten akademischen Malerwelt systematisch verhindert wurden.

Dora Maar, von Pablo Picasso schlicht als ›Leidensmaschine‹ apostrophiert, ist die andere der Verschwiegenen. Als Fotografin der Armen in Barcelona, Lissabon und der Banlieue von Paris hatte sie früh Bekanntheit errungen, gelangte sodann als Freundin von André Breton und Paul Eluard zu Ruhm, doch die Nachwelt nahm sie lediglich als Muse und Geliebte Picassos wahr, der sie nach neun Jahren verstieß. Neben grandiosen Fotos und dem außerordentlichen fotografischen Festhalten der einzelnen Stadien der Entstehung von Picassos Guernica versuchte sie sich auch an kubistischen Porträts. Picassos Machismo zerstörte sie; fortan verweigerte sie sich jeder Anerkennung und starb einsam, in hohem Alter, in Paris. Jetzt hat das Centre Pompidou sie gebührend gewürdigt.

Noch ein Wunder ist zu vermelden. Zu Füßen des Eiffelturms liegt, am Quai Branly, das gleichnamige Museum der außereuropäischen Kulturen. Jacques Chirac, seinerzeitiger französischer Präsident, hat es 1996 eröffnet: ganz offensichtlich auch, um Frankreichs koloniale Verbrechen zu sühnen, sollte das denn möglich sein.

Die afrikanischen, polynesischen und lateinamerikanischen Initiationsriten, Statuen, Amulette, Waffen, Masken und Teppiche drängen in überbordender Fülle auf den Betrachter ein und werden begleitet von Klängen weit entfernter Regionen. Die kluge Gliederung und Darstellung der Menschen und Objekte ist zwingend. Eine Sonderausstellung des Pariser Ethnologen Félix Fénéon – Freund Guillaume Apollinaires – ist gerade eröffnet worden und begleitet die ständige Sammlung. Der Besucher ist schier benommen, schleppt sich aber dennoch zur Präsentation Ozeaniens, entdeckt ihm vertraute Objekte früherer Reisen nach Papua-Neuguinea, Vanuatu, Samoa, Hawaii und zur Osterinsel. Traumbilder steigen augenblicklich auf, Verzauberungen und Sehnsüchte, zurückzukehren an jene Gestade, die noch immer Mythen bergen und täglich neue gebären. Das Musée du quai Branly ist selbst ein Mythos.

L'écriture inclusive

Eher zufällig sehe ich im Prince de Conti – ein wunderbar gelegenes Hotel im 6. Arrondissement und lediglich einen Steinwurf entfernt vom legendären La Louisiane, in welchem einst Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir logierten – ein Exemplar des Le Figaro mit dem dramatischen Titel: »La langue française fait de la résistance«.

Welcher Widerstand? Um die ›einschließende Schreibweise‹ beider natürlichen Geschlechter im Französischen geht es, wieder einmal. Im Deutschen ist das Problem seit Jahrzehnten durch die movierte Form geregelt, also das Anhängen der Endung ›-in‹ an die maskuline Form: ›Lehrer-Lehrerin‹. Genauer: nicht geregelt, zumindest aus feministischer oder genderbewegter Sicht. Eva aus Adams Rippe entsprungen – das ist, aus deren Sicht – die abhängige und zweitklassige Frau, unverändert sprachlich diskriminiert. Also erfand man *, den Unterstrich, den Schrägstrich und manches Unsinnige mehr, was freilich vor allem der Schönheit und obendrein, zumal im Ausland, dem Verständnis der deutschen Sprache und damit ihrer Attraktivität Schaden zufügt. Der Gipfel dieser fatalen Entwicklung in Deutschland ist – momentan – erreicht im Erfinden eines dritten grammatischen Geschlechts für Transgender und andere Menschen: ›divers‹, was fatal an die Wursttheke im Supermarkt erinnert: ›100 Gramm Aufschnitt, divers‹. So weit Deutschland und seine, vermeintliche, Gründlichkeit. In Frankreich nun lebt man, aus genderwahnbewegter Sicht, gewissermaßen hinter dem Linguistenmond. Dort wird nämlich, sehr vorsichtig, aus dichterischer und sprachwissenschaftlicher Perspektive, diskutiert, ob es hinfort heißen solle : l‘auteur vs. l’autresse oder l’autrice, le chef vs. la cheffe oder gar maître de conférences vs. maîtresse de conférences: der fatale Doppelsinn ist dem Sprachliebhaber augenblicklich bewusst. Frédéric Vitous, Mitglied der altehrwürdigen Académie française, verweist darauf, dass keine Geringere als Nathalie Sarraute darauf bestand, ein ›auteur‹ zu sein und nichts sonst. War die Existentialistin reaktionär oder gar männerhörig?

Michel Serres, jüngst verstorbener eminenter Sprachphilosoph und Akademiemitglied, warnte vor übereilten Reformen, indem er auf die, seit Moliere, der französischen Sprache innewohnende Philosophie verwies. Er hoffte auf den Fortbestand seiner Sprache, nicht zuletzt wegen der mehr als 200 Millionen Muttersprachler in Frankreich und Übersee. Die allerorten wuchernden Anglizismen im Französischen waren ihm ein Übel. Ein kluges Wort in diesem chaotischen, weil überregulierten, Land!

Die vernünftige Diskussion in Frankreich lässt den Fremden hoffen, ein Gleiches könne auch in Deutschland möglich sein.

Geschrieben von: Götze Lutz
Rubrik: Kultur