von Lutz Götze

Im Nachlass zum West-Östlichen Divan fasst Johann Wolfgang Goethe seine Vision eines friedlichen Neben- und Miteinanders des Ostens und Westens in die Worte:

Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.

Sind sie es wirklich? Und, wenn ›Ja‹, warum gelingt es allenfalls in glücklichen Zeiten, also im kairós der griechischen Klassik?

Gerade in diesen Tagen, anlässlich der Feier des 50. Jahrestages des Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommens, wird in Deutschland bekannt, dass die Morde an türkischen Dönerbudenbesitzern dem rechten Terror zuzuschreiben sind, keinesfalls also Szenemorden oder Drogenkartellen östlicher Herkunft. Es wird bekannt, dass Deutschlands Verfassungsschützer über Jahre hinweg in die falsche Richtung ermittelt haben. Mehr noch: dass ihre sogenannten V-Leute in der rechten Terrorszene von nichts eine Ahnung hatten, möglicherweise sogar an den Verbrechen beteiligt waren. Deutschlands Ermittler waren blind auf dem rechten Auge und sind, wie Innenminister Friedrich betont, nicht einmal bereit, dies zuzugeben. Dergleichen freilich hat in Deutschland Tradition: Man denke an den Kapp-Putsch, den Feldherrnhallenputsch Hitlers, die Harzburger Front oder das Ende der Weimarer Republik! Aber man denke auch an die 70-er und 80-er Jahre der Bundesrepublik Deutschland, als der Terror der Rote-Armee-Fraktion zur Staatsbedrohung erklärt und ein ganzes Land in den Ausnahmezustand versetzt wurde, die rechte Szene aber kaum beachtet und, im Notfalle, von staatlicher Seite erklärt wurde, die Behörden hätten alles im Griff: so zuletzt der Bundesinnenminister im Verfassungsschutzbericht. Statt Beweise zum Verbot der neonazistischen NPD zu sammeln, sandte man dubiose Gesellen in eben diese und ihre Tarnvereine - wohl wissend, dass mit deren Berichten den Karlsruher Verfassungsrichtern ein Verbot unmöglich gemacht wurde.

Die Nachrichten über die Mordgesellen, die türkische Bürger in der Bundesrepublik umgebracht haben, wirkt am Bosporus schockierend. Die Zeitungen berichten detailliert über die Mörder, über ihr Umfeld und, vor allem, über die »Versäumnisse« der Verfassungsschützer. Das – trotz allem - traditionell gute deutsch-türkische Verhältnis nimmt schweren Schaden: täglich mehr.

Guter und schlechter Islam?

In den Islamwissenschaften wird intensiv die Frage diskutiert, ob Goethe eventuell einem Schisma erlegen oder es möglicherweise sogar vertieft habe: einerseits der gute Islam - der persisch dominierte mit Hafis, dem Dichter der Ghaselen, an der Spitze, - andererseits der nahöstliche Islam der Mächte auf der Arabischen Halbinsel sowie des Osmanischen Reiches. Jener sei friedlich und ästhetisch, dieser hingegen kriegslüstern und intolerant. Der erste sei heute Geschichte, der andere Gegenwart. Die Gegenwart aber sei besitzergreifend und terroristisch.
Dergleichen ›Expertenurteile‹ sind in Wahrheit freilich nicht nur grobschlächtig, sondern obendrein grundlegend falsch. Dies nicht nur deshalb, weil das heutige Persien, also der Iran, mit einem solchen Urteil vollkommen falsch charakterisiert wäre, sondern weil sich Fluch und Segen der islamischen Welt in gleicher Weise vom Bosporus bis zur indonesischen Inselwelt ausbreiten. Die Grenzlinien verlaufen vollkommen anders, etwa zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Alewyten und Salafisten, jenseits davon zwischen nach Demokratie strebenden Gesellschaftssystemen und feudalistischen Diktaturen. Salafisten und Militärs knüppeln in diesen Tagen und Wochen Demokraten am Kairiner Tahrir-Platz zusammen. Die Hoffnungen der Revolutionäre vom Beginn des Jahres 2011 zerbröckeln unter dem Ansturm der Ewig-Gestrigen.

Der Westen schaut zu

Er schaut zu, weil er feige ist. Er ist feige, weil er ungebildet ist und den tagespolitischen Nutzen über langfristige Strategien stellt. Er weiß nichts oder nur Bruchstücke von den jahrhundertealten kulturellen Beziehungen zwischen Orient und Okzident; ebenso schlecht ist es um das Wissen von den Hoffnungen der mutigen Bürger an Nil, Euphrat und Bosporus bestellt, etwas vom Geist der europäischen Aufklärung einatmen und von Philosophen, Poeten und Malern des Westens lernen zu können. Dies gilt übrigens auch vice versa: Kluge Köpfe des Okzidents haben über Jahrhunderte hinweg vom geistigen Reichtum des Orients Nektar gesogen, was wenig bekannt ist: Montesquieu mit seinen Lettres Persanes,Voltaire mit Zaire und Mahomet, Goethe mit seiner Divan-Dichtung. Viel früher noch pilgerten die Denker des Abendlandes zur Hohen Schule in Córdoba, um bei Ibn Ruschd, genannt Averroes, die Weisheiten der Vorsokratiker und die Erkenntnisse von Astronomie und Algebra zu studieren. Damals wussten die Eliten Europas noch, wo der Geist einer frühen Aufklärung wehte. Friedrich der Staufer wusste es ebenso.
Wir haben es vergessen.

Istanbul im Herbst 2011

Im Museum zu Beyoglu, dem früheren Pera auf der europäischen Seite der Stadt am Bosporus, wird es evident: Eine Ausstellung erzählt von den Beziehungen zwischen dem Okzident und der Hohen Pforte: Diplomatenakkreditierungen beim Sultan, Frauenfeste jenseits des Harems, Münzprägungen. Vor allem aber handelt sie von den Ausgrabungen im assyrischen, sumerischen und Hethiter-Reich des dritten, zweiten und ersten vorchristlichen Jahrtausends: Assos, Nippur, Ur-Gur und andere Zentren der anatolischen und mesopotamischen Welt, geschehen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Geleitet wurden diese Ausgrabungen im wesentlichen von Hermann Vollrath Hilprecht, deutscher Professor für Archäologie an der University of Pennsylvania, assistiert von dem Türken Osman Hamdi Bey. Hilprecht gilt bis heute als der ›Columbus der Archäologie‹: ein grandioser Forscher und Entdecker, ein Förderer des - neudeutsch formuliert - interkulturellen Verstehens zwischen Orient und Okzident. Die Ausstellung, finanziert von den Vereinigten Staaten von Nordamerika, freilich liefert ein Zerrbild: Es seien die Forscher der Pennsylvania-Universität gewesen, die Epochales geleistet hätten, Hilprecht hingegen lediglich einer unter vielen. Zum Undank wurde er, nach Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse, verunglimpft: Er habe Ergebnisse gefälscht, sich persönlich bereichert, Erkenntnisse plagiiert. 1910 wurde er unehrenhaft aus der Universität entlassen.

So viel zur peinlichen Begründung US-Amerikas, das Land habe Wesentliches zur Erforschung der Geschichte des Orients beigetragen. In Wahrheit waren es deutsche Archäologen, die ernsthaft und erfolgreich die Ausgrabungen vorantrieben. Am Bosporus wissen die Kundigen darum und bauen auf die weitere Stärkung dieser geistigen Bande. Sie verweisen auch darauf, dass die junge Türkei deutschen Flüchtlingen während des Dritten Reiches sicheren Unterschlupf gewährte. Unter ihnen war der Hochschullehrer Ernst Reuter, später Regierender Bürgermeister in Berlin. Und sie fragen, warum gerade Deutschland immer wieder die ausgestreckte Hand der Türkei ausschlägt, wo es doch so viele Gemeinsamkeiten zwischen Ankara und Istanbul auf der einen sowie Berlin, Hamburg und München auf der anderen Seite gebe. Dabei fällt selten oder nie der Name der militärischen Allianz in der NATO, weit häufiger wird die Gemeinsamkeit im Ideellen genannt. Denn nicht nur am Bosporus schaut die große Mehrheit nach Westen; Mekka ist fern. Wenig hat sich in Wahrheit verändert. Freilich, so ist zu hören, könnten die Islamisten an Einfluss gewinnnen, wenn zumal Deutschland weiterhin eine Schaukelpolitik betreibe: NATO und türkische Arbeitnehmer: »ja«, Mitgliedschaft in der Europäischen Union: »nein«. Verweist man die türkischen Gesprächspartner auf die Menschenrechtsverletzungen und die Diskriminierung kurdischer und armenischer Minderheiten im Lande, so werden, immerhin, einige nachdenklich und gestehen eigene Fehler ein. Vollkommene und kritiklose Rechtfertigung ist eher selten. Hier ist etwas in Bewegung geraten.

Der Westen braucht den Osten und umgekehrt

Gerade in Zeiten globaler Veränderungen braucht es diesen Blick in die Vergangenheit, um richtige Entscheidungen zu treffen. Die Vereinigten Staaten sind gerade dabei, stärker denn je den pazifisch-asiatischen Raum zu kontrollieren und Chinas Interessen dabei auszuloten; Europa gerät Zug um Zug an den Rand. Die Rating-Agenturen führen zeitgleich einen Finanz- und Wirtschaftskrieg gegen europäische Unternehmen und Staaten und übersehen geflissentlich, dass US-Amerika selbst vor der größten Finanzkrise seiner Geschichte steht. 15 Billionen Dollar Haushaltsschulden und dennoch Triple A: das passt ökonomisch nicht zusammen und ist nur unter strategischen Aspekten zu erklären!
Deutschland und andere europäische Staaten haben in der Vergangenheit zur Türkei und islamisch-arabischen Ländern im Regelfall gute Beziehungen gepflegt: Handelsverkehr, geistiger Austausch, gegenseitiges Kennenlernen. Freilich gehört dazu auch die sogenannte Militärhilfe in den Weltkriegen oder bei der Unterdrückung von Minderheiten und Demokratie einfordernden Regimegegnern im Nahen und Mittleren Osten. Sie haben nicht vergessen, dass ein Großteil der Waffen, mit denen sie beschossen und getötet wurden, aus dem Westen stammten, namentlich aus Deutschland. Gleichwohl erwarten die Demokraten am Tahrir-Platz, in Tunesien, im Jemen oder Bahrain vor allem von Deutschland geistige und materielle Unterstützung. Sie muss ihnen ohne Einschränkung gewährt werden, sonst verpasste der Westen eine historische Chance.

Bei diesem neuen Prozess der Annäherung von Orient und Okzident spielt die Türkei eine besondere Rolle: keineswegs nur, weil das Land einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung während der letzten Jahre erlebt hat und mit breiter Brust heute dem Fremden begegnet, sondern weil es genau an der Schnittstelle beider Kontinente liegt: Nirgendwo anders als in Istanbul erlebt der Besucher die Nähe von Orient und Okzident deutlicher. Hier, im damaligen Byzanz, schuf Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert mit seinem Corpus Iuris Civilis die Grundlage des römischen Rechtssystems, hier blühten rund um die Hagia Sophia über die Jahrhunderte hinweg Baukunst und Literatur und fanden ihre Fortsetzung nach dem Fall Ostroms im Jahre 1453 unter den Osmanischen Herrschern, zumal Suleyman dem Prächtigen im 16. Jahrhundert. Nicht nur - wie häufig behauptet - Eroberungen und Kriege also prägten das Neben- und Gegeneinander von Orient und Okzident, sondern auch das Miteinander der Völker zu beiden Seiten des Bosporus. Es waren im übrigen fundamentalistische Kreuzfahrer, die auf dem Vierten Kreuzzug 1204 Konstantinopel eroberten, brandschatzten und damit, 250 Jahre vor den Osmanen, den Untergang Roms besiegelten.
Europa täte gut daran, sich dessen heute zu erinnern. Deutschland wiederum wäre gut beraten, der Türkei, deren Arbeiter im übrigen wesentlich zum materiellen Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben, mehr anzubieten als eine »privilegierte Partnerschaft«, vielmehr eine echte Mitgliedschaft in der Union. Die Zeit ist reif dafür.

Europa am Scheideweg

Europa steht heute nicht nur vor der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seiner Geschichte aufgrund der nationalen Alleingänge und Steuerbetrügereien sowie der zerstörerischen Rolle hemmungslos agierender Finanzspekulanten rund um den Globus, sondern vor allem vor einer Krise des Geistes: Immer häufiger werden diese Fragen gestellt: Was soll dieser lockere Zusammenschluss europäischer Staaten mit seinem Kompetenzenwirrwarr eigentlich? Welche ist seine ideelle Grundlage? Wohin steuert der Kontinent?
Europa müsse sich neu begründen und erfinden, erklärt der SPD-Vorsitzende Gabriel. Die Europagegener hingegen warnen vor neuen Schritten in Richtung mehr Gemeinschaft: ein europäisches Wirtschafts- und Finanzministerium, ein Europaparlament mit echten Kompetenzen zur Kontrolle zur Exekutive, um dem wachsenden Demokratiedefizit in Euroa zu begegnen, eine europäische Exekutive statt eines Debattierclubs der Kommissare in Brüssel. Sie warnen vor einer gemeinsamen und handlungsfähigen europäischen Regierung, zumindest für die Euro-Länder. Sie warnen vor einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union in drei Bereiche: Deutschland und Frankreich als die Entscheider, der Rest der Euro-Zone und die anderen Länder der Union. Zumal Polen ist besorgt und sieht sich bereits im Armenhaus der osteuropäischen Mitgliedsstaaten.
Doch die Krise kann Neues hervorbringen, getragen von der Einsicht, dass es nicht so weitergehen kann und darf in Europa wie bisher: unterschiedliche Tarif-, Rechts- und Rentenregelungen, unterschiedliche Steuergesetzgebung und, als Folge, Steuerbetrug in großem Stil, Einstimmigkeit in den Gremien, die jedem Staat erlaubt, alles und jedes zu blockieren, mehrstimmige Kakophonie statt einer europäischen Stimme. Jürgen Habermas findet es »einfach albern, anzunehmen, dass Europas Stimme noch zählen wird, wenn es nicht lernt, mit einer Stimme zu sprechen«.

Das Pochen auf nationale Souveränität ist bereits heute atavistisch; sinnvoll wäre hingegen, Zug um Zug nationale Kompetenzen an Europa abzutreten. Es führt kein Weg daran vorbei, nationale Entscheidungsprozesse über Bord zu werfen und europäische Lösungen anzustreben. Freilich müssen diese demokratisch legitimiert sein, können also nicht in Kabinettsbildungen von sogenannten Experten, wie gerade in Rom geschehen, enden. Europäische Einigung darf nicht zum Abbau von Demokratie führen.
Doch wie soll das geschehen? Das entschiedene Nachdenken darüber und ein davon getragenes Agieren führten notwendigerweise zur Aufhebung des Vertrages von Lissabon, doch die 27 Mitgliedsstaaten sind dazu zumindest derzeit nicht in der Lage. Viele darunter haben in Europa ohnehin nie etwas anderes als einen gewaltigen Finanztopf gesehen, den es zu schröpfen galt. Als das Fass zu versiegen drohte, wuchsen augenblicklich nationalistische Stimmungen und Strömungen an: Ungarn ist nur ein Beispiel.
Europa aber hat keine vernünftige Alternative als diesen Weg zu gehen: Demokratisch legitimierte Gremien der Legislative und Exekutive sind zu schaffen, die mit wirklichen Handlungs- und Entscheidungskompetenzen für Europa ausgestattet sind. Gelingt dies nicht mit allen Mitgliedsstaaten, müssen die Länder Kerneuropas vorangehen: die sechs Gründungsländer Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg also. Die anderen mögen folgen. Sitzen aber weiterhin zu viele Staaten im Bremserhäuschen, wird das Projekt Europa scheitern. Möglicherweise könnte der Europäische Rat der Regierungschefs eine Übergangsregelung bewerkstelligen anstelle der Bürokraten und Technokraten der Europäischen Kommission.
In dieser Ära des Postnationalen sollten die Europäer auch darüber nachdenken, ihre Bindungen zum Nahen und Mittleren Osten zu stärken. Dies vor allem wegen der jungen Demokratiebewegungen im Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei kann dabei eine wichtige Mittlerrolle spielen. Sie ist dazu bereit.
Gelänge dies, erführe am Ende Goethes Vision neue Befruchtung. Möglicherweise sogar mehr. Denn am Beginn des großen Divan-Gesangs heißt es im Buch des Sängers:

Nord und West und Süd zersplittern.
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten;.......
Dort, im Reinen und im Rechten
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen......

 

Abb.: Otarkö-Moschee und Bosporus-Brücke, Istanbul (Wikimedia Commons)

Geschrieben von: Götze Lutz
Rubrik: Politik