von Gunter Weißgerber

Die Diskussion um die sogenannte ›NATO-Osterweiterung‹ bleibt erhalten. Diskussionen lassen sich nicht abwürgen. Für die Beteiligten besteht allenfalls die Frage, ob die weitere Beteiligung daran Sinn macht. Das muss auch jeder für sich entscheiden. Ich habe mich entschieden. Bis auf diesen Text, der eventuell Ergänzungen erfahren wird, schreibe ich nichts mehr zum Thema und beteilige mich an dieser Endlosschleife nicht mehr.

Ich denke, in der Diskussion sollte zwischen belastbaren Entscheidungen und Vereinbarungen auf der einen und Interpretationen und Wünschen unterschieden werden.

Völkerrechtlich belastbare Fakten

1. Gorbatschow hob 1985 die ›Breschnew-Doktrin‹ auf. Sowjetische Einmärsche in Staaten des ›Warschauer Paktes‹ sollten nie mehr geschehen.

2. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse und sein Staatssekretär Gerassimow verkündeten 1988 die ›Sinatra-Doktrin‹ wonach jeder Staat, auch die Warschauer Pakt Staaten, ihren eigenen Sicherheitsweg gehen konnten.
Die ›Sinatra-Doktrin‹ bestand aus zwei Hauptinformationen. Die der Demokratisierung an die Weltöffentlichkeit und die der Fairness an die eigenen Vertragsstaaten. Die Welt sollte sehen, dass die Sowjetunion in Freiheit und Demokratie anzukommen gewillt wäre und die Vertragsstaaten sollten die aufstrebenden Wünsche nach anderen Sicherheitspartnerschaften überdenken, da der ›Warschauer Pakt‹ ein der ›NATO‹ ähnliches demokratisches Defensivbündnis werden sollte und es damit prinzipiell egal sein würde, in welchem Defensivbündnis ein Staat wäre.

3. Die ›Friedliche Revolution‹ in der DDR bzw. die ›Samtene Revolution‹ in der CSSR und den anderen Ostblockstaaten blieben weitgehend, Ausnahme das Baltikum, von sowjetischer Gewalt verschont. Womit die ›Sinatra-Doktrin‹ ihre erste Bewährungsprobe deutlich bestanden hatte.

4. Die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 mandatierten die vereinigungswilligen Parteien, den Weg zur ›Deutschen Einheit‹ in Freiheit und Sicherheit zügig zu gehen. Die Sowjetunion begleitete den Prozess wohlwollend.

5. Am 17. März 1990 endete ein Sondertreffen der Außenminister der Warschauer Pakt Staaten ergebnislos. Während nur die DDR mit ihrem SED-Außenminister Fischer mit der Sowjetunion am ›Warschauer Pakt‹ festhalten wollte, befürworteten die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn die künftige Mitgliedschaft in der ›NATO‹.

6. Am 30. Mai 1990 kam es zum ›Wunder von Washington‹. Gorbatschow und Bush einigten sich auf die freie Bündniswahl eines wiedervereinigten Deutschlands.

7. Im August 1990 gab Gorbatschow gegenüber Kohl seine Einwilligung zur ›Deutschen Einheit‹in der ›NATO‹, gewissermaßen auf der Basis des Washingtoner Wunders.

8. Der ›Zwei-plus-Vier-Vertrag‹ vom 12. September 1990 stellte die endgültige innere und äußere Souveränität des vereinten Deutschland her. Am 15. März 1991 erfuhr der Vertrag mit der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde seine Zertifizierung.

Im Einzelnen wurden festgelegt:
Die endgültigen mitteleuropäischen Grenzen und damit das Staatsgebiet des vereinten Deutschland mit der Erklärung, dass Deutschland keine Gebietsansprüche an andere Staaten stellt.
Die Personalstärke der deutschen Streitkräfte auf 370 000 Personen mit der Erklärung, dass Deutschland auf die Herstellung, die Verfügung über und den Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen verzichtet.
Eine Vereinbarung über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland bis 1994 und das Recht, Bündnissen anzugehören.

9. Am 23. August 1990 beschloss die freie Volkskammer der DDR mit der verfassungsmäßig notwendigen Zweidrittelmehrheit den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 GG.

10. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland und der NATO bei. Auf dem Gebiet der DDR gibt es keine NATO-Einrichtungen. Gorbatschow bestätigte das 2014 der Weltöffentlichkeit: Der ›Zwei-plus-Vier-Vertrag‹ wird eingehalten.

11. Die militärischen Strukturen des Warschauer Paktes wurden am 31. März 1991, der hierzu gehörende Pakt selbst am 1. Juli 1991 aufgelöst.

12. Am 27. Mai 1997 wurde die ›NATO-Russland-Grundakte‹ verabschiedet. Darin erkennt Russland an, dass es kein Veto-Recht gegen die Nato-Mitgliedschaft anderer Staaten hat. Die NATO sagte zu, Russland eng in die NATO-Planungen einzubinden.

Anlässlich eines Besuchs bei der NATO in Brüssel 1997 wurden mir die unbesetzten Büros Russlands bei der NATO gezeigt. Russland nahm die Chance auf Teilhabe nicht wahr. Bereits seit Monaten entsandte Russland kein Personal in seine NATO-Dependance.

Interpretationen und Wünsche unterhalb der Fakten

Annäherungs- und Verhandlungsprozesse sind komplex und enthalten naturgemäß immer gegenseitige Abtastargumentationen, die Hindernisse verständlich und wenn möglich, behebbar machen sollen. Letztendlich wird vertraglich vereinbart, was Konsens ist. Dissense werden oft als einseitige Noten an Verträge informell angehängt. Zum Thema ›NATO-Osterweiterung‹ finden sich keine protokollarischen Noten in den völkerrechtsverbindlichen Verträgen.

Die Inflation gegenteiliger Auffassungen und bedeutungsschwerer Überhöhung von Abtast- und Verhandlungsoptionen auf dem Weg zu völkerrechtsverbindlichen Verträgen ist beträchtlicher Teil der zeitgenössischen Diskussion geworden. Das strategische Zusammenschneiden von Interviews, Kommentaren in Schrift, Ton und Bild mag interessant und je nach Position nützlich sein, an den harten völkerrechtsverbindlichen Fakten vermag das alles nichts zu ändern. Jeder mag damit umgehen, wie er möchte. Meine Position habe ich hier dargelegt.

Im Licht der Ukraine-Aggression Russlands

Putin beweist gerade nachdrücklich und mit allen ihm verfügbaren Mitteln, wie recht die ehemaligen Ostblockstaaten mit ihrer Flucht in die ›NATO‹ hatten. Genau dieser brutale Krieg gegen die von ihm staatlich nicht akzeptierte Ukraine, gegen ihre Wehrhaftigkeit und gegen ihre Zivilbevölkerung mit ihren vielen Sprachen war immer für eine unbestimmte Zukunft zu vermuten, nie ausgeschlossen.

Inzwischen ähneln die zerschossenen Städte den Fotos der Zerstörungen durch Lenin, Stalin und Hitler. Und erneut ist es die Ukraine, die wie in den Bloodlands von Timothy Snyder eindrücklich beschrieben, einen weiteren unermesslichen Blutzoll, dieses Mal wieder von Russland verursacht, entrichten wird.

Für Russlands Überfall gibt es keine Rechtfertigung. Es gäbe auch keine, wären die Verträge und Vereinbarungen mit der Sowjetunion und Russland bezüglich der ›NATO‹ gegensätzlich gewesen. Nach dem Völkerrecht kann jeder Staat sein eigenes Bündnis suchen.

Die Ukrainische Bevölkerung entschied 1991 mit über 92 Prozent auf Eigenständigkeit. 1994 sicherte Russland der Ukraine die Unantastbarkeit ihrer Grenzen zu. Im Gegenzug gab die Ukraine ihre Atomwaffen nach Russland. Bereits 2014 musste die Ukraine erkennen, dass Verträge mit Russland nicht das Papier wert sind. Die Krim und Teile der Ostukraine wurden mit Hilfe grüner Männchen besetzt. Es waren dieselbe grüne Männchenart, die 1997 im Kosovo von Serbien aus wütete. Damals griff die ›NATO‹ erstmals offensiv ein, um als Lehre aus den vorangegangenen Kriegsverbrechen von Srebrenica und dem Versagen der UN-Blauhelmtruppen 1995 das weitere Morden zu beenden.

Was Putin im Verhältnis Ukraine-Russland erreicht

Der Ausgang des Überfalls ist noch unklar. Vieles spricht leider letztlich für einen militärischen ›Erfolg‹ des Kriegsverbrechers. Doch gibt es auch Indizien, für das Gegenteil.

Die ukrainische Bevölkerung kämpft für ihre Freiheit auf eine Weise, mit der Putin nicht rechnete. Für ihn gibt es keine Zivilgesellschaft. Im Zweifel sind das alles Volksverräter, die beobachtet und belagert werden müssen. Mit dem Faktor selbstbewusste Bevölkerung weiß er nichts anzufangen.

Möglicherweise rechnete er mit einem schnellen Erfolg infolge einer mutlos gemachten Bevölkerung und ukrainischen Armee durch den brutalen Einmarsch, auch nahm er Sympathien im russisch sprechenden Teil der Ukrainer für sich stärker wahr als dies angemessen schien. Inzwischen kann angenommen werden, dass der Schlächter aus dem Kreml die meisten Ukrainer der verschiedenen Sprachen gegen sich und gegen das aggressive Russland eint. War die Ukraine seit 1991 von Russland losgelöst und doch irgendwie Teil einer langen wechselhaften Geschichte, so sind Ukraine und Russland von nun an für sehr lange sehr getrennt. Durch Putin wird die ukrainische Bevölkerung ein einiges Volk verschiedener Sprachen gegen Russland. Die Narben werden sehr lange zum Heilen benötigen.

Forderungen nach NATO-Handlungen zum Schutz der ukrainischen Bevölkerung

So begründet der NATO-Einsatz in Serbien 1997 auch war, er lässt sich 2022 in gleicher Situation nicht wiederholen. 1997 stand ein noch auf Konsens mit der NATO eingestelltes Russland auf Seiten Serbiens. Die Gefahr eines Konfliktes mit Russland bestand nicht.

2022 ist das gänzlich anders. Russland führt einen Vernichtungskrieg in der Ukraine und ist gewillt, Atomwaffen einzusetzen, sollte die NATO zum Schutz der Bevölkerung eingreifen. Die Rolle der NATO kann deshalb nur sein, ihr eigenes Territorium massiv mit allen Waffen- und Waffentechniken aufzurüsten. Andere Hilfen jeglicher Art müssen und können nur durch die einzelnen Staaten erfolgen. Der NATO sind die Hände gebunden. Die Ukraine kann auf absehbare Zeit auch nicht in die NATO aufgenommen werden.

Forderungen nach einem NATO-Einsatz bewirken nur eines, der Schlächter im Kreml glaubt ein weiteres Mal sein Märchen einer NATO-Einkreisung. Die Entfernung seiner Pranken zum roten Atomknopf würde noch geringer werden.
Daran kann niemand ein Interesse haben, selbst die Ukraine nicht.

Geschrieben von: Weißgerber Gunter
Rubrik: Politik