von Friedrich Schorlemmer

Der nächste Präsident wird es nicht leicht haben, nach allem, was nun an Bürde auf dem Amt liegt. Die jetzige Debatte wirkt überhöht, die Diskussion ist nervös. Wir brauchen keine Majestät, keinen Übervater und keinen unbefragbaren Heiligen Stuhl - wir brauchen einfach jemanden, der Dinge auf den Punkt bringen kann, der mitzureißen versteht, der weltkundig ist und dabei eine persönliche Glaubwürdigkeit besitzt.

Er  muss konfliktbewusste Beziehungpflege betreiben können und gleichzeitig ein ›Bürgerpräsident‹ sein, in dem sich die große Mehrheit des Volkes überparteilich repräsentiert sieht und dessen Gedanken es neugierig, sich selbst fordernd, aufgreift. Wer (Denk-)Anstöße geben will, muss es riskieren anstößig zu sein. Dass der designierte Kandidat Joachim Gauck im Stande dazu ist, hat er bereits unter Beweis gestellt. Aber ist er in der Lage, eine ›innere‹ Einheit ohne Ausgrenzungen zu befördern?

Gauck ist meinungsstark, er kann eigensinnig, pointiert, verständlich und begeisternd reden. Als DDR-Bürgerrechtler, der sich lebenslang gegen Repression und für Freiheit eingesetzt hat, repräsentiert er u.a. den Freiheitskampf der Ostdeutschen. Er strahlt Glaubwürdigkeit und Engagement aus. Gaucks Grundansatz des individuellen, bürgerlichen Engagements begünstigt  eine lebendige Mitmachkultur. Auch als Präsident wird er begeistern wie provozieren, Widerspruch auslösen und Anstöße geben. Er wird uns die Leviten lesen!

Allerdings muss Gauck sein inhaltlich einseitiges Spektrum erweitern. Ich kann verstehen, dass ihn- als Verfechter der Freiheit, v.a. der individuellen und der des Marktes - die Liberalen wollen, aber ich würde gerne wissen, wo bisher die inhaltlichen Bezugspunkte zu Sozialdemokraten und Grünen liegen. Seine Äußerungen über die Schwachen in unserer Gesellschaft haben mich geradezu empört. Es gibt Menschen in dieser sich verhärtenden Gesellschaft, die sich nicht engagieren können, die hinausgestoßen wurden, die keine Kraft, Perspektive und Lobby, aber große Probleme haben. Für sie muss sich die Stimme des Präsidenten besonders stark machen! Dies blieb bisher aus. Das gesellschaftspolitische sowie marktwirtschaftliche Freiheitspathos Gaucks muss durch entsprechendes Gerechtigkeitsengagement sekundiert werden. Alle sollen sich die Freiheit leisten können.Weiterhin gehören Themen wie der Klimawandel, das Ende des Ressoucenverschleisses, eine ethische Haltung zu den neuen Kriegen dieser Welt, Gerechtigkeit für Flüchtlinge etc., auch die ›innere Integration‹ in Deutschland, die innere Einheit zwischen Ost und West, dazu.
Ich bedauere die Tatsache, dass die Linke von vorn herein aus der Konsenssuche um die neuerliche Besetzung des Amtes ausgegrenzt wurde, ein Vorwurf, der weniger Gauck persönlich, als diejenigen Parteien betrifft, die ihn auf den Schild gehoben haben. Allerings hat der Kandidat auch wenig getan, die Linkspartei nachträglich in den Diskurs einzubeziehen. Gerade einem künftigen Präsidenten mit DDR-Erfahrung hätte daran gelegen sein müssen, auch diejenigen einzuschließen, die einem gescheiterten Gesellschaftmodell angehangen haben.

Es reicht eben nicht, Akteur der Friedlichen Revolution von 1989 gewesen zu sein, um einen guten Bundespräsidenten abzugeben. Vielleicht wachsen Gauck aber im Amt auch noch neue Fähigkeiten zu, begleitet von umsichtigen Beratern. Der Umgang mit Widerspruch und Kritik gehörte bisher nicht zu seinen Stärken. Die Vorstellungsgespräche in den jeweiligen politischen Lagern zeigten indessen einen versöhnlichen, gut vorbereiteten Joachim Gauck, der - oder dessen vorpräsidiales Beraterteam - frühere Äußerungen im neuen Lichte seiner neuen Funktion überdacht hat.

Wenn Gauck seinen Zeigefinger herunternimmt, seine inhaltliche Bandbreite erweitert und die innere Einheit Deutschlands ohne Ausgrenzung befördert, könnten Skeptiker wie ich angenehm überrascht werden.


Anhang: Erklärung zur Wahl des Bundespräsidenten

Freiheit, die wir meinen


Joachim Gauck wird der nächste Bundespräsident sein. Die Kompetenz, seine Glaubwürdigkeit und  persönliche Integrität, die ihm dafür zugesprochen werden, beziehen sich auf sein Leben in der  DDR. Dass Joachim Gauck anscheinend nicht zur politischen Klasse gehört, erhöht zusätzlich die  Erwartungen an ihn. Wer kritische Einwände gegen den Präsidentschafts-Kandidaten vorbringt,  muss mit empörten Reaktionen rechnen.
Der Glanz des Unpolitischen, der den Kandidaten umgibt, seine Rolle als moralische Anstalt, die  mit seinem Amt als Pfarrer in der DDR begründet wird, verdecken, dass Gauck seit 1990 eminent  politische Positionen übernommen hat. Wenn die Kritik an seinem Wirken als Politiker und  öffentliche Person regelmäßig mit dem Argument seiner Diktaturerfahrung abgewehrt wird, entlässt  man ihn aus der Verantwortung, die er trägt.
Wir sind wie Joachim Gauck durch diese Diktaturerfahrung gegangen. Uns hat, anders als ihn, nicht  der Mangel an Freiheit am stärksten geprägt, sondern unser Kampf, unser Bemühen um ihre  Durchsetzung in der DDR. Unser Freiheitsbegriff ist mehr als eine persönliche Selbstbehauptung,  die am Ende nur zu einer Freiheit für Privilegierte führt. Wenn wir in der DDR in unseren Freiheits-Texten von Frieden, Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung sprachen, haben wir damit  auch eine grundsätzliche Kritik an der modernen Industriegesellschaft verbunden.
Gaucks Denken über Freiheit ist von dem Begriff individueller ›Selbstermächtigung‹ bestimmt.  Uns geht es um die aktive gesellschaftliche Öffnung und um die Freiheit aller. Es kommt nicht nur  auf eine Haltung der Freiheit an, sondern auf eine Verfassung der Freiheit. Anpassung war für uns in  der DDR keine Option. Wir haben Bevormundungen widersprochen, Freiräume mit anderen und für  andere geschaffen und gesellschaftliche Veränderungen eingefordert. Diese Erfahrungen aus der  DDR ermutigen uns, kritische Bürger im vereinten, demokratischen Deutschland zu bleiben.
Joachim Gauck hat die Erwartungen derjenigen beflügelt, die durch die Beschwörung des  Antikommunismus die Freiheit verteidigen wollen. Die dringend erforderliche Kompetenz des
künftigen Bundespräsidenten kommt aber nicht aus der Beschwörung der Vergangenheit, sondern  aus der Fähigkeit, drängende Fragen der Zukunft zu thematisieren:
Wie schaffen wir es, den Angriff der Finanzmärkte auf die Demokratie, unsere Lebensform der  Freiheit, abzuwehren, den Skandal wachsender Verarmung vieler bei explodierendem Reichtum weniger nicht länger hinzunehmen, den Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen zu beenden,  das Zusammenleben der Menschen in kultureller und religiöser Vielfalt zu ermöglichen und neue  Konflikte friedlich zu lösen?
Diesen Bundespräsidenten werden wir daran messen, ob und wie er sich die Freiheit nimmt, die  Politik angesichts dieser fundamentalen Herausforderungen in die Verantwortung zu nehmen.

Berlin, am 8. März 2012

Unterzeichner:
D. Dr. Heino Falcke, Erfurt; Almuth Berger, Berlin; Joachim Garstecki, Magdeburg; Wolfram  Hülsemann, Berlin; Heiko Lietz, Schwerin; Ruth Misselwitz, Berlin, Dr. Sebastian Pflugbeil,  Berlin, Dr. Edelbert Richter, Weimar; Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer, Wittenberg; Hans-Jochen  Tschiche, Satuelle; Dr. h.c. Christof Ziemer, Berlin
 

Geschrieben von: Schorlemmer Friedrich
Rubrik: Politik