von Lutz Götze

Vor nicht einmal sechs Monaten verurteilte ich in einem Essay die sich anbahnende Große Koalition von CDU/CSU und den Sozialdemokraten. Unter Verweis auf Bertolt Brechts Verse vom Untergang Karthagos – Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten – prophezeite ich dem Machtbündnis ein baldiges Ende und den Koalitionären einen rasanten Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Es ist schneller dazu gekommen, als selbst ich es für möglich gehalten hätte. Schlimmer noch: Der unmittelbare Anlass des Scheiterns hätte nichtiger und lächerlicher nicht sein können.

Es handelt sich um die ›Causa Maaßen‹, jenen ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Die Behörde wurde einst dafür geschaffen, Gegner oder Feinde der demokratischen Grundordnung zu erkennen und sie dingfest zu machen, bevor sie ihre verquasten Ideen in die Wirklichkeit umsetzen konnten. Die Aufgabe ist heute angesichts rechtsradikaler und islamistischer Gruppierungen im Lande nötiger denn je. Herr Maaßen war vor Jahresfrist in sein Amt berufen worden, um dem Dienst nach dem vollständigen Versagen beim Aufklären der Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) wieder Vertrauen in der Bevölkerung zu schaffen. Das Gegenteil ist eingetreten. Trotz zeitweiliger Ermittlungserfolge ist heute der Verfassungsschutz unter Präsident Maaßen mehr denn je diskreditiert. Das Fass zum Überlaufen brachten seine Äußerungen zu Videos aus Chemnitz, auf denen Neonazis andersfarbige Bürger in einer Hetzjagd durch die Straßen trieben. Maaßen bezweifelte die Echtheit und Wahrhaftigkeit der Aufnahmen und stellte sich damit konträr zur Kanzlerin. Sache der politischen Beamten in der Demokratie aber ist die Aufklärung von Gewalttaten und Information an die Regierung, nicht die öffentliche Bewertung krimineller Vorfälle. Herr Maaßen hätte deshalb unverzüglich vom Amt suspendiert werden müssen. Stattdessen wollte ihn sein Vorgesetzter, Innenminister Seehofer, auf einen Staatssekretärsposten befördern: Belohnung für Fehlverhalten! Darüber wäre beinahe die Koalition zerbrochen – über einen lächerlichen und vollkommen niveaulosen Anlass mithin. Nach heftigen Protesten, zumal aus den Reihen der Sozialdemokratie, wurde ein Formelkompromiss gefunden und allseits die ›Rückkehr zur Sacharbeit‹ gefordert. Bis zur nächsten Koalitionskrise.

Im antiken Theater folgte häufig auf eine dramatische Handlung deren Wiederholung als Farce. Genauso geschieht es heute: Die Regierung ist zur Farce verkommen; in einem »atemraubenden Stillstand« (Paul Virilio) werkelt sie vor sich hin, ist vor allem mit sich selbst beschäftigt und verkommt zur Lächerlichkeit. Von einem, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, kontinuierlichen Lösen anstehender Probleme – im Inneren Mieten und Sozialpolitik, im Äußeren Friedenssicherung und Bekämpfung der klimatischen Verwüstung des Erdballs, um nur wenige wichtige Aspekte zu nennen – ist nichts zu erkennen.

Die Große Koalition wurde vor Jahresfrist damit begründet, eine Alternative sei gescheitert und die aufstrebende »Alternative für Deutschland« müsse mit demokratischen Mitteln gebändigt werden. Das Gegenteil ist eingetreten: Die Union hat dramatisch an Zustimmung verloren, die einstige Volkspartei SPD ist in der Wählergunst hinter die extrem rechte AfD zurückgefallen. Beide zusammen sind zu den besten Wahlhelfern der Rechtsaußen-Partei degradiert worden.

Für viele Beobachter der Szene hat dieses Phänomen in erster Linie eine personelle Ursache: Die Kanzlerin sei nicht mehr Herrin der Lage, Herr Seehofer zündele und provoziere nach Belieben, Frau Nahles sei heillos überfordert, Parteifunktionäre in allen Koalitionsparteien hätten ihre ›Bodenhaftung‹ verloren. Das alles trifft zu und ist dennoch nicht die Ursache des Problems. Sie betrifft den Inhalt, nicht die Form oder gar Personen.

Inhaltlich sind alle drei Koalitionäre ausgeblutet und haben ein einziges Ziel, nämlich den Machterhalt der Koalition zu sichern. In allen zentralen inhaltlichen Fragen versagen sie, sei es beim Deal mit den Autoherstellern um umweltfreundliche Dieselautos, sei es beim Verbot umweltschädlicher Aktivitäten wie jenen des RWE-Konzerns im Hambacher Forst, sei es in der Schaffung bezahlbaren Wohnraums zumal in den Ballungszentren, sei es in der Asylpolitik, sei es in der Friedenssicherung im Nahen Osten oder bei einer globalen Klimapolitik, um die Erde auch noch für Kinder und Kindeskinder lebenswert zu gestalten.

Allein das Vor-sich-Hinwerkeln in der Flüchtlingspolitik spricht Bände: Seit Jahren wäre Deutschland gut beraten gewesen, von anderen klassischen Einwanderungsländern zu lernen, also etwa von Kanada oder Australien. Sie haben ein ähnliches Asylrecht für politische Verfolgte und ein Einwanderungsgesetz für jene, die aus anderen, zumeist ökonomisch-materiellen, Gründen an die Pforte klopfen. Dann wird nach den Bedürfnissen des Aufnahmelandes entschieden, wer hinein darf. Berufliche Qualifikation und Sprachenkenntnisse sind dabei entscheidende Kriterien. Deutschland hingegen, zumal die Union, hat über Jahrzehnte hinweg, wider besseres Wissen, behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die Folgern sind 2018 bitter spürbar.

Wer freilich heute immer noch die Große Koalition befürwortet trotz deren Versagen auf breiter Front, tut dies entweder aus niedrigen Gründen, wie etwa dem Verlust des Mandats bei Neuwahlen und entsprechendem materiellen Nachteil, oder er malt ein Zerrbild der Gefahr von rechts an die Wand. Oder aber er hält die Koalition für einen Wert an sich, wie es etwa die SPD-Vorsitzende tut. Dies ist ein schwerer Denkfehler.

Koalitionen sind Zweckbündnisse auf Zeit, kein Wert schlechthin. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten, als Reaktion auf die Verbrechen des Dritten Reiches und ermuntert von den westlichen Besatzungsmächten, ein Wahlverfahren zum Bundestag ersonnen, das absolute Mehrheiten verhindert und Koalitionen fördert. Mit einer einzigen Ausnahme (Kanzler Adenauer) hat dieses System, alles in allem, funktioniert.

Ein Wert aber ist die Demokratie, genauer: sie ist der fundamentale Wert des Gemeinwesens. Demokratien leben von der Dreiteilung der Gewalten, wie sie Montesquieu formuliert hat. Und sie leben von der Zustimmung der Bevölkerung in dieses System und der daraus folgenden Unterstützung. Die Demokratie ist, nach Churchill, eine schlechte Staatsform, aber die beste aller vorstellbaren. Sie nimmt Schaden, wenn sich die Bevölkerung der Mitarbeit Zug um Zug verweigert. Dann gewinnen Populisten und Radikale auf beiden Flanken der Gesellschaft. Sie gewinnen, weil die demokratische Mitte versagt. Genau daran ist die Weimarer Republik 1933 zerbrochen.

Berlin ist nicht Weimar: trivial, aber wahr. Gleichwohl gibt es Parallelen zwischen damals und heute. Eine Regierung, die keinerlei Vision oder Utopie, ja: nicht einmal ein Konzept der politischen Arbeit für vier Jahre oder länger, aufzuweisen hat, sollte den seinerzeitigen Auftrag zu regieren an den Souverän zurückgeben, den Bürger also. Alles andere ist sinnlos und führt lediglich zu weiterer Verdrossenheit und Abstinenz. Neuwahlen sind mithin das Gebot der Stunde. Wenn sie neue Mehrheiten erbringen sollten, wären die demokratischen Kräfte aufgerufen, möglicherweise auch mit Minderheitsregierungen zu agieren. Die Hoffnung aber besteht, dass viele, derzeit müde und sich verweigernde, Bürger ihre Verantwortung erkennen und Politik im Interesse der Gesamtbevölkerung statt kleiner, aber machtvoller Interessengruppen, verlangen.