Festvortrag »140 Jahre SPD Döbeln / 147 Jahre SPD«

»Die Geschichte ist ein Kampf mit der Natur, mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit – das ist die Entwicklung der Freiheit.« (Ferdinand Lassalle)

Liebe Freundinnen und Freunde, verehrte Gäste! Ich grüße Sie herzlich und freue mich, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Danke, Hermann Mehner!

Vielleicht haben Sie in meiner Begrüßung die alte Grußformel der 147jährigen deutschen Sozialdemokratie vermisst?
Richtig, ich gehöre zu jenen in der deutschen Sozialdemokratie, die die Anrede Genosse für jedermann akzeptieren, der diese gebrauchen möchte, und bitte um Verständnis, dass mir nach dem Gebrauch des ›Volksgenossen‹ (was meine Eltern erleben mussten) und des alltäglichen ›Genossen Soldaten, Arbeiters, Bauern und Volkspolizisten‹ in der DDR noch immer der Sinn danach steht, in meiner Partei klar zu machen, dass es in West und Ost unterschiedliche Sozialisierungen gab und das das Wissen und die Akzeptanz um diese Dinge das Zusammenwachsen eher erleichtert denn erschwert. Einheitszwang hatten wir zur Genüge, das friedliche Zusammenleben befördert hat dieser zu keiner Zeit.

Der trotzige Abgang eines Bundespräsidenten (Horst Köhler) macht es möglich: diese Veranstaltung findet nicht nur wegen der SPD-Geschichte, einer Geschichte des steten Ringens um Freiheit, Demokratie, sozialer Emanzipation und Teilhabe, statt. Zusätzlich und aus meiner Sicht sehr erfreulich feiern wir heute unter dem Freiheits- und Demokratie-Bild, welches durch Joachim Gauck hervorragend repräsentiert wird und welches die SPD getreu ihrer eigenen Geschichte durch ihre Unterstützung für diesen Kandidaten verstärkt.

Ich denke, es war nicht der erste und vor allem wird es auch der letzte Fehler der Kanzlerin bleiben, wohl aber war es ihr politisch bisher schwerster: Nicht auf das überparteiliche Angebot Siegmar Gabriels mit dem Kandidaten Joachim Gauck einzugehen und statt dessen auf den stromlinienförmigen und sich maßlos überschätzenden Ministerpräsidenten Christian Wulff zu setzen.

Entschuldigen Sie bitte, doch ich sage es deutlich, Gauck hat das Zeug zu einem großen Bundespräsidenten, Wulff hat das zu einem Köhler - gemeint ist hier nicht das ehrbare Handwerk.

(Nachtrag 2018: Wulff gewann am 30. Juni 2010 das Rennen knapp und hatte dann eine ebenso kurze wie miserable Amtszeit von rund anderthalb Jahren. Zu große Schuhe für einen zu jungen Parteimenschen. Ihm folgte am 18. März 2012 Joachim Gauck. Dieses Mal fügte sich Angela Merkel.)

Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich solch einen Satz auch zu einem aus meiner Sicht unpassenden SPD-Kandidaten gesagt hätte. Im Grunde liegt mir unser demokratisches Gemeinwesen mehr am Herzen als die in diesem Gemeinwesen sich tummelnden Parteien.

Dennoch und gerade an dieser Stelle sage ich, ohne das 147jährige Wirken meiner Partei wäre diese Republik nicht so freiheitlich, nicht so demokratisch und nicht so sozial verfasst. Wir können stolz auf die Republik und als Sozialdemokraten besonders stolz auf unseren Anteil an diesem Erfolg sein!

147 Jahre SPD – und das in einem Vortrag? Nicht machbar, jedenfalls nicht umfassend zu leisten. Ich versuche es dennoch. Für die heutige Veranstaltung habe ich mir ein Buch aus dem Regal genommen: Die ersten Hundert Jahre von Karl Anders, verlegt bei Dietz Nachfahren 1963 in Hannover.

Ich zitiere aus dem Kapitel »Das Jahr 1863« von Karl Anders:

»Das Jahr begann mit einem symbolischen Paukenschlag. Am 1. Januar 1863 hatte Abraham Lincoln … proklamiert:
»… dass alle Personen, die in den Südstaaten oder Staatsteilen als Sklaven gehalten werden, frei sind und von nun an frei bleiben…
In Russland war ein Jahr vorher die Leibeigenschaft aufgehoben worden. Deutschland, ein Land mit vier Königreichen, sechs Großherzogtümern, fünf Herzogtümern, sieben Fürstentümern und drei Stadtrepubliken war lose zu einem Staatenbund zusammengeschlossen, ohne einheitliches Recht, ohne einheitliche Regierung und ohne einheitliche Außenpolitik.
Zwei Drittel der Bevölkerung lebten auf dem Lande, oft in unwürdigen Abhängigkeitsverhältnissen, und in erheblicher Rechtlosigkeit.
1863 war der Unternehmer noch unbestrittener Herr im Haus. Es gab kein Koalitionsrecht, keinen Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Der erwachsene Arbeiter kannte 1863 noch keinen geregelten oder gesetzlich festgelegten Arbeitstag. Er kannte keine Sonntagsruhe, keinen Urlaub, 16-17stündige Arbeitszeiten, Arbeit bei Tag und Nacht, sonn- und wochentags bei unzureichendem Lohn und in elenden Wohnverhältnissen.
Wer immer den unbarmherzigen Arbeitsbedingungen nicht gewachsen war, blieb auf der Strecke. Wer damals lebte und arbeitete, musste früh sterben. Noch 1871 bis 1880 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 37 Jahren.«

Diese Situation trieb damals viele zum Nachdenken und mehr noch zum Handeln an. Ferdinand Lassalle gehörte dazu. Hier wieder Karl Anders:

»Als das »Centralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig« ihm schrieb, antwortete er am 1. März 1863: Meine Herren! Sie forderten mich in Ihrer Zeitschrift auf, Ihnen in irgendeiner mir passend erscheinenden Form meine Ansichten über die Arbeiterbewegung und über die Mittel, deren sie sich zu bedienen hat, um die Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes in politischer, materieller und geistiger Beziehung zu erreichen, sowie besonders auch über den Wert der Assoziationen für die ganze unbemittelte Volksklasse auszusprechen. Ich nehme keinen Anstand, Ihrem Wunsch nachzukommen...
Der Arbeiterstand muss sich als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen (ein Zustand, der in der DDR 1989 noch nicht erreicht war!). Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig von 600 Arbeitern, den Delegierten aus elf Städten, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet. Seine Statuten wurden beschlossen. Lassalle wurde zum Präsidenten gewählt. Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei begann.«

Eduard Bernstein schrieb 1890:

»Der Name Lassalle wurde zum Banner, für das sich die Massen immer mehr begeisterten, je mehr die Schriften Lassalles ins Volk drangen. Für den unmittelbaren Erfolg berechnet, mit einem außergewöhnlichen Talent geschrieben, populär und doch die theoretischen Gesichtspunkte hervorhebend, übten sie und üben sie zum Teil noch heute eine große agitatorische Wirkung aus. Das Arbeiterprogramm«, das offene Antwortschreiben, das ›Arbeiterlesebuch‹ haben Hunderttausende für den Sozialismus gewonnen. Die Kraft der Überzeugung, die in diesen Schriften weht, hat Hunderttausende zum Kampf für die Rechte der Arbeit entflammt. Dabei verlieren sich die Lassalleschen Schriften nie in ein gegenstandsloses Phrasengeklingel, - ein verständiger Realismus, der sich zwar gelegentlich in den Mitteln vergreift, der aber stets die Wirklichkeit im Auge zu behalten sucht, herrscht in ihnen vor und hat sich durch sie auch der Bewegung mitgeteilt. Wovon Lassalle in seiner Praxis eher etwas zu viel hatte, davon hat er in seine ersten und besten Agitationsschriften das rechte Maß dessen hineingelegt, was die Arbeiterbewegung brauchte. Wenn die deutsche Sozialdemokratie den Wert einer kräftigen Organisation zu allen Zeiten zu schätzen gewusst hat, wenn sie von der Notwendigkeit des Zusammenfassens der Kräfte so durchdrungen ist, dass sie auch ohne das äußere Band einer Organisation doch alle Funktionen einer solchen aufrecht zu erhalten gewusst hat, so ist das zum großen Teil eine Erbschaft der Agitation Lassalles. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass diejenigen Orte, wo in der Arbeiterschaft die Tradition der Lassalleschen Agitation am stärksten war, in Bezug auf die Organisation in der Regel am meisten geleistet haben.«

Soweit ein Zeitgenosse Lassalles zur Gründung des ADAV und zu dessen großer Führungspersönlichkeit.

Bisher ist es noch übersichtlich. Jetzt kommen 147 Jahre Entwicklung der SPD, die sowohl deutsche als auch europäische Politik zunehmend mitgestaltet hat – bereits mit ihrem Entstehen Bismarck zum Nachdenken über eine Sozialgesetzgebung veranlasst hat. Eingedenk der Tatsache, dass ein ›gesättigter Bauch‹ nicht revolutionär wird.

Was Jahrzehnte später Rosa Luxemburg dazu verleitete, der SPD-Reichstagsfraktion die Mitwirkung an den Gesetzen zum sozialen Wohnungsbau untersagen zu wollen. Weil dann die zufriedenen Arbeiter für die Revolution wertlos würden.

An Wegemarken, für die SPD wichtigen inhaltlichen Diskussionen gibt es bis heute beinahe unendlich viel Wichtiges aufzuzählen. Jeder Punkt ist eines tiefgründigen Vortrages wert und doch muss ich heute gewissermaßen durch die Zeiten rasen und kann nur an einigen Stationen Zwischenstopp machen.

Unter der Überschrift des Bundespräsidentenwahlkampfes (2010) um den Freiheitsbegriff (Gauck) werde ich dies an der SPD-Haltung zur Freiheit kenntlich machen. 1863 begann es, wie bereits dargelegt, mit der Parteigründung, die verglichen mit dem, was zwischen 1933 und 1989 im jetzigen Ostdeutschland an Bedingungen herrschte, mir weniger riskant für Leib und Leben schien als die sozialdemokratischen Lebensbeweise unter nationalsozialistischer oder kommunistischer Herrschaft. Schon der Umstand, dass sich die sozialdemokratischen Protagonisten schriftstellerisch und wissenschaftlich in ihren Haft- und Verbannungszeiten der Kaiserzeit betätigen konnten ist des Nachdenkens wert. Politische Häftlinge der beiden Diktaturen bangten um ihr Leben, ihre Gesundheit und um ihre Familien, simples Lesen war ihnen bereits verwehrt. An geistige Arbeit war überhaupt nicht zu denken.

  • –  1869 gründeten die Eisenacher ihre SDAP (Bebel, Liebknecht)
  • –  1875 Fusion der Lassalleaner mit den Eisenachern zur SAP in Gotha
  • –  1878 – 1890 Sozialistengesetz:
    Die drei Grundrechte der Deutschen
    Artikel 1: Jeder freie deutsche hat das Recht, eingesperrt zu werden.
    Artikel 2: Jeder freie Deutsche, der Recht hat, wird eingesperrt.
    Artikel 3: Jeder freie Deutsche, der eingesperrt wird, hat Recht.
    (aus »Braunschweiger Leuchtkugeln« v. 29.9. 1878)
  • –  1890 Umbenennung in SPD
  • –  1891 Erfurter Programm mit ersatzreligiösem Ansatz im revolutionären Marxismus und Revisionismusstreit – ein Ergebnis der Illegalität. Menschen brauchen Halt, besonders in schweren Zeiten. Da will man wenigstens für immer Recht haben um das Jetzt sogar revolutionär verändern zu können. Aus dem Revisionismusstreit, dessen Urheber der Marxist Bernstein war, gingen die Revisionisten zwei Jahrzehnte später gestärkt hervor. Die SPD ist im Grunde eine revisionistische Partei, d. h., wir kämpfen um Freiheit, Demokratie, freie Wahlen und wollen über die in den Wahlen gefundenen Mehrheiten, den Staat sozial gerechter gestalten, den Menschen die Teilhabe und ihre eigene Gestaltung ermöglichen. Machtübernahmen durch blutige Revolutionen, diktatorische Minderheitsherrschaften über Mehrheiten wurden von der revisionistischen SPD abgelehnt.
  • –  1914 – 1918 erster Weltkrieg, an dem das Kaiserreich größtes Interesse und größten Anteil hatte mit der Folge der Abspaltung des linken und des linksextremen Flügels von der SPD (USPD, Spartakusgruppe)
  • –  1919 – 1933 Weimarer Republik mit dem ersten sozialdemokratischem Präsidenten Friedrich Ebert.

Eine Republik, vom Sozialdemokraten Scheidemann ausgerufen und die, von heute aus betrachtet, zum Untergang verurteilt schien. Eine desillusionierte und teilweise dezivilisierte Bevölkerung (Hunderttausende zurückgekehrte aus den demoralisierenden Gräben des jahrelangen Stellungskrieges), das Gefühl der Niederlage bei gleichzeitiger Ruhrbesetzung und höchsten Reparationszahlungen, eine Hyperinflation 1923, eine Beamtenschaft, die zu großen Teilen dem untergegangenen Kaiserreich treu und der neuen Republik feindlich gegenüber stand, eine Parteienlandschaft, die bis auf die Sozialdemokratie mit der Weimarer Republik wenig anzufangen wusste und auf diesem Nährboden reich Nahrung findend, mit Kommunisten und Nationalsozialisten zwei extreme politische Strömungen, denen am Untergang des verhassten demokratischen Systems außerordentlich gelegen war.

So gesehen war die Weimarer Demokratie eine Demokratie ohne Demokraten – mit Ausnahme der Sozialdemokratie. 1928 kam die Weltwirtschaftskrise hinzu und der Glaube an die Demokratie nahm in der Bevölkerung noch mehr ab.

An diesem Punkt möchte ich auf ein politisches Experiment eingehen, welches 1923/24 in Sachsen für erregte Diskussionen sorgte und zum Einmarsch der Reichswehr führte. Die sächsischen Sozialdemokraten koalierten mit den sächsischen Kommunisten unter MP Zeigner. Noch heute gibt es Sozialdemokraten, die meinen, das war den Versuch wert. Ich stehe dem fassungslos gegenüber.

Die Republik war höchst instabil, wankte in den Stürmen der Außen- und Innenpolitik und sollte mit dem Ableger einer ausländischen, höchst aggressiven Partei eine Koalition eingehen? Die KPD verstand sich als Auslandabteilung der KPdSU. Lenin und Stalin sahen in Deutschland die notwendige Plattform einer Revolution bolschewistischen Stiles (mit möglichen -zig Millionen Toten, wie auch damals schon bekannt war). Es gab die Moskauer Planungen für Sowjetdeutschland – und da sollte eine Koalition mit ausgewiesen Gegnern dieser fragilen Demokratie möglich sein? Für mich undenkbar. Lieber rot als tot war schon 1924 gefährlicher Unfug, nicht erst 1983 (Nato-Doppelbeschluss-Diskussion).

  • –  1933 – 1945
    Dunkle Wolken zogen 1932/33 über die Welt. Die NSDAP wurde in den Reichstag geschwemmt. Sie griff nach der totalen Macht. Otto Wels schmetterte des Nazis am 23. März 1933 in der Kroll-Oper für seine Partei und Fraktion die mutigen Worte entgegen:
    »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht«.
    Otto Wels ist damit nicht nur in die SPD-Geschichte, sondern in die Demokratiegeschichte unseres Volkes eingegangen.

Die Nazis konnten die Macht ergreifen, weil ihnen die deutsche Wahlbevölkerung in den vorangegangenen Jahren die hierzu nötigen Prozente in Wahlen sicherte – wo ich bei der Verantwortung der Regierten bin. Der Zivilisationsbruch, den die Nazis in deutschem Namen bis 1945 begingen, der ist nicht denkbar ohne das Versagen der demokratischen Eliten und der Wahlbevölkerung. Wählen gehen heißt schon immer Nachdenken über die Folgen des eigenen Wahlverhaltens. Ich unterstelle den damaligen Zeitgenossen nicht, dass sie Mein Kampf gelesen hätten, schon gar nicht unterstelle ich ihnen, sie hätten Hitlers Judenhass mit der zwangsläufigen Judenvernichtung kommen sehen. Doch haben die Wähler der frühen dreißiger Jahre der Welt nachhaltig bewiesen, dass Denkzettel und Frustwählen die miserabelsten politischen Ratgeber sind.

Wer den Wert der Freiheit schätzt, wer die Demokratie als das friedlichste Prinzip politischer Meinungsfindung erkennt, der kann seine Stimme niemals Parteien und Menschen geben, die diese Dinge weniger achten oder sie gar schmähen. Die sächsische SPD macht sich auf diesem Gebiet seit 20 Jahren sehr verdient. Nazis keine Chance, das ist uns eine wichtige Botschaft.

Waren es doch die Nationalsozialisten, die die Demokratie in Deutschland vernichteten, die Andersdenkende in Gefängnisse, Zuchthäuser und Konzentrationslager brachten und sie dort quälten und mordeten. Waren es doch die Nationalsozialisten, die den Zweiten Weltkrieg entfesselten, die den millionenfachen Mord an den europäischen Juden und anderen Völkern beschlossen und durchführten. Auch waren es Hitler und seine große Gefolgschaft im deutschen Volk, die die Millionen an eigenen Opfern und die wohlverdiente Niederlage mit dem Verlust des damaligen Ostdeutschlands sowie die spätere Spaltung Deutschlands zu verantworten hatten. Ohne die nationalsozialistische keine kommunistische Diktatur in der SBZ. Selbst die Kosten des deutschen Einigungsprozesses sind Folgekosten der Wahlentscheidungen der frühen dreißiger Jahre in Deutschland.

Hier bin ich an einem der schwierigsten Punkte in der historischen Diskussion angelangt. Immer wieder heißt es, es ist falsch, die Diktatur in der DDR mit dem Dritten Reich zu vergleichen.

Das macht so platt auch niemand. Und wenn vergleichen, dann geht das um differenziertes Gegenüberstellen der Mittdreißiger Jahre in Deutschland mit der SBZ/DDR-Zeit. Das Fehlen der Demokratie, das Verbot anderer politischer Meinungen, politische Haft und Verfolgung bis zur Planung von Lagern (1988/89), Propaganda und Oktroyierung, brutale Minderheitsherrschaft, paramilitärische Einheiten, Verblendung der Jugend – das sind alles Dinge, die nun mal so im vergleichbaren Rahmen stattfanden.

Die DDR hatte lediglich Glück, dass der große Generalissimus 1953 im Orkus verschwand und Massenterror deshalb so nicht mehr stattfand. Die nächsten Verfolgungs- und Vernichtungswellen im Sowjetimperium waren bekanntlich geplant.

So wie es seit 1917 in der Sowjetunion immer wieder stattfand. Historiker schätzen die sowjetischen Lagertoten zwischen 15 und 20 Millionen. Dazu kommen 10 Millionen getötete angebliche Kulaken und 7 Millionen verhungerten Ukrainer in den Jahren 1932/33, denen Stalin in der Absicht, die Ukraine zu brechen, die komplette Ernte wegnehmen ließ – Holodomor hat sich für diese menschengemachte Katastrophe zu jener Zeit als Begriff festgesetzt.

Vom Kommunisten Stalin stammt der ungeheuerliche Satz »Die Liquidation der Kulaken als Klasse ist abgeschlossen« (Parteitag der Sieger 1934).

Um es hier klar zu sagen: die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen mit dem zielgerichteten Massenmord in Tateinheit mit der industriellen Verwertung der Gemordeten steht für mich außer Frage, und wir Deutschen stehen in besonderer Verantwortung, dass sich so etwas und vor allem in deutschen Namen nie und nirgendwo wiederholen kann. Doch müssen wir, die wir auf der Seite der universellen Menschenrechte stehen, genauso über das sprechen, was Kommunisten im Namen des Kommunismus der Menschheit antaten. Wer mit dem Verweis auf die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen die Aufarbeitung dessen, was unter Lenin und Stalin geschah, verhindert, der führt nichts Gutes im Schilde.

Menschenrechte sind unteilbar. Kein Verbrechen rechtfertigt Massenmord. Weder die Rasse noch die Klasse, so willkürlich diese immer definiert werden, rechtfertigen den Terror.

Warum sage ich das alles in einer SPD-Feierstunde? Weil die SPD nicht nur die Illegalität des Kaiserreiches erlebte, sondern ihren Kampf um Freiheit ebenso im dritten Reich und in der DDR führen musste. Und weil es in der SPD nach diesen Erfahrungen Bestrebungen gibt, ungefiltert Verbindungen mit einer Partei einzugehen, die sich mit ihrem Erbe ungeheuer – nicht nur in der Bundespräsidentenwahl – schwertut.

Frage einen Linken, was er von Lenin hält. Findet er diesen Massenmörder (der bereits 1918 konzentrationiji lageri bauen und den »Roten Terror« vor dem »Weißen Terror« in Gang setzen ließ) entschuldbar oder verteidigt er ihn, dann hat sich für mich das Gespräch erledigt.

So wie es für mich ebenso erledigt ist, wenn das MfS und die Diktatur des Proletariats gut wegkommen. Das ist für mich persönlich die Grenze, wo sich Freiheit und Demokratie von nichtmenschenrechtskonformem Denken deutlich trennen.

Zurück zum geschichtlichen Ablauf.

1945 war auch das Jahr, in dem politische Parteien wieder entstehen konnten. So auch die SPD. In den Westzonen unter dem KZ-Häftling Kurt Schumacher, in der SBZ unter Otto Grotewohl. Die Sozialdemokraten im Westen hatten es leichter. Sie konnten unter den Bedingungen der Freiheit ihre Partei aufbauen. Die ostdeutschen Sozialdemokraten hatten es ungemein schwerer. Ein Lesetipp: Die Revolution entlässt ihre Kinder (Wolfgang Leonhard).

Bevorzugt wurde die KPD, benachteiligt die SPD, nicht nur im Papierkontingent. Dennoch war der Zulauf zur SPD wesentlich größer als zur KPD. Dies gefiel weder dem großen Generalissimus in Moskau noch seinem Adlatus Ulbricht in Pankow. Es begann die Vereinigungskampagne, natürlich unter den beängstigenden Bedingungen der brutalen sowjetischen Besatzung, unter dem Wissen um die wieder gefüllten Lager und Zuchthäuser. Und wo es gar keine SPD gab, wie in Zittau, da wurde ein SPD-Ortsverein von der KPD gegründet, der dann natürlich einheitswillig war. Die Kampagne lief unter offenem und versteckten Zwang und Druck, mit Hilfe von KPD-Jüngern in der SPD, aber auch vor dem Hintergrund der gemeinsamen Lagererfahrungen von Kommunisten und Sozialdemokraten ab. Dennoch, ohne die brutale Zwangsatmosphäre jener Zeit wäre an eine Vereinigung von KPD und SPD nicht zu denken gewesen. Aus diesem Grunde sprechen wir berechtigt von Zwangsvereinigung. Zumal die folgende Entwicklung dieser Beschreibung vollends Recht gab. Nach und nach wurden die sozialdemokratischen Funktionäre aus ihren Ämtern gedrängt oder gar verhaftet. Kampf dem Sozialdemokratismus war die Parole der Kommunisten, die sich als Partei dem Scheine nach sozialistisch nannten, bis 1989 aber immer von sich als Kommunisten in der Öffentlichkeit sprachen. Das Wort Sozialisten entdeckten Honeckers Nachfolger erst 1989. Da war der Schafspelz plötzlich wieder gefragt.

  • –  1953 – der Volksaufstand in der DDR.
    Die Forderungen waren die gleichen wie 1989/90. Freiheit, Demokratie, freie Wahlen, Deutsche Einheit. Allein in Görlitz demonstrierten 35 000 Menschen. Das erhaltene Tondokument ist überaus hörenswert.
    Infolge des Volksaufstandes wurde in der SED noch schärfer gegen die alten Sozialdemokraten vorgegangen. Schon deshalb macht es wenig Sinn, nach alten Sozialdemokraten in der früheren SED zu suchen. Die waren längst mundtot, verhaftet, gleichgeschaltet oder sind unter Schwierigkeiten bis 1989 ausgetreten. Was Sozialdemokratie bedeutet, das hat jedenfalls in der SED 1989 niemand mehr gewusst – außer dem, was Margot Honecker, die Volksbildungsministerin, an Fehlbildung hinterließ.
  • –  1961 – Bau der Mauer

In diesem Jahr schloss die Berliner SPD ihr Büro in Ostberlin. Nach dem Mauerfall wurde die Gefährdung der Ostberliner Sozialdemokraten zu groß. Die Weiterarbeit konnte niemand verantworten. Während die SPD in Westdeutschland/ der Bundesrepublik nach der Wiedergründung über die nächsten 15 Jahre aufgebaut werden konnte, sie sich von einer marxistisch ausgerichteten Arbeiterpartei zu einer großen Volkspartei entwickeln konnte (Godesberg) und 1966 mit dem Außenminister Brandt endlich angekommen schien, wurde das zarte Pflänzchen Sozialdemokratie in Ostdeutschland/der DDR erdrosselt. Sozialdemokrat zu sein, war höchst gefährlich. Sich zu Schumacher und Brandt zu bekennen, konnte ins Zuchthaus oder nach Sibirien führen.

So blieb den Ostdeutschen, von der Sozialdemokratie gefesselten, nichts weiter übrig, sich über die Medien an ihren Vorbildern in Westdeutschland zu orientieren. Schumacher, Ollenhauer, Erler, Vogel, Renger, Brandt, Schmidt und viele, viele andere waren die Politiker, nach denen sich die ostdeutschen Zaungäste sehnten.

Ein Aspekt verdient hier besondere Beleuchtung. Selbst die sogenannten rechten Sozialdemokraten der alten Bundesrepublik bestehen auf dem Begriff des »Demokratischen Sozialismus«.

Für sie war es der Absetzungsbegriff vom Kasernen- und Polizeisozialismus der DDR. Sie nutzten den Begriff als Kampfansage für die Menschenrechte in ganz Deutschland und konnten es auch gut vor dem Hintergrund ihrer demokratischen Mitwirkung im freiheitlich-demokratischen Staat Bundesrepublik Deutschland.

Auch begann der Begriff 1968 so richtig zu leuchten, als Alexander Dubcek und seine Freunde den Mut hatten, ihrem realen Sozialismus zu einem menschlichen Antlitz zu verhelfen.

Wir erlebten nach dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR und der Ermordung des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« ab 1969 den Bundeskanzler Willy Brandt, einen NS-Gegner, mit seinem mutigen und Vertrauen schaffenden Kniefall von Warschau und als glaubhaften Europäer mit seiner neuen Ostpolitik, die uns Ostdeutschen Erleichterungen brachte und unsere Machthaber unter Druck setzte. »Willy ans Fenster« in Erfurt – das bleibt unvergessen.

Brandt bekam seinen Friedensnobelpreis und machte uns alle damit stolz.

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