von Lutz Götze
Wer über die Bundestagswahl 2017 enttäuscht oder gar entsetzt war – zumal wegen des Abschneidens der ›Alternative für Deutschland‹ -, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden, die seit längerem deutlich erkennbar waren. Deutschland ist nach rechts gerückt, ist mithin, zynisch gesprochen, seinen europäischen Nachbarn ähnlicher geworden.
Die Erfolge der Rechtspopulisten, Antisemiten, Separatisten und Anti-Europäer in Frankreich, Italien, Großbritannien, Österreich, Dänemark, Finnland und den Niederlanden sowie der faschistoiden und fremdenfeindlichen Regimes in Ungarn und Polen konnten auf Dauer im Herzen Europas nicht ohne Folgen bleiben.
Wer daneben den Wasserstandsmeldungen der ›Meinungsforscher‹ mit ihren gebetsmühlenartig vorgetragenen Behauptungen Glauben schenkte, es gebe auch wenige Tage vor der Wahl noch unzählige Unentschlossene, wurde am Wahlabend abrupt eines Besseren belehrt. Die vermeintlich nicht Entschiedenen stellten sich in der Mehrzahl als AfD-Wähler heraus, die sich freilich scheuten, dies zuvor öffentlich zu bekunden. Möglicherweise waren sie dazu auch von der Parteispitze aufgefordert worden. Von daher war die Strategie des SPD-Kanzlerkandidaten Schulz, die auf eben diese ›Unentschlossenen‹ setzte, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
A propos ›Meinungsforscher‹ : Sie sind mitnichten Forscher, sondern nichts als Datensammler. Ihre Methoden sind umstritten, aber Hinz und Kunz starrt auf ihre vermeintlich seriösen Zahlen. Die Demoskopen setzen auf die allgemein übliche und anerkannte Verwechselung von Daten/Informationen und Wissen. Daten sind nichts als Zahlen, Wissen hingegen bedeutet eigenständige und kritische Verarbeitung dieser Informationen zum Zwecke der Erkenntnis. Genau dies aber findet bei den Meinungssammlern nicht statt. Ihr Ziel ist nicht Erkenntnisgewinn, sondern Manipulation: Wer möchte schließlich nicht gern zur Mehrheit gehören! Entsprechend entscheidet sich der manipulierte Bürger. Nur weiß er es nicht, ahnt es möglicherweise nicht einmal.
Ursachen des Wahlausgangs
Natürlich ist nicht jeder AfD-Wähler ein Nazi; gleiches gilt für die Abgeordneten der neuen Fraktion im Deutschen Bundestag. Aber viele sind Rassisten oder Feinde der Moslems, die sie am liebsten aus dem Lande jagen würden, mindestens aber ihre Religion hierzulande verbieten wollen. Dazu gehört der beinahe zum Bundestagsvizepräsident gewählte Albrecht Glaser. Viele unter Wählern wie Abgeordneten der Partei sind Antisemiten, leugnen oder verklären die Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg oder halten, wie der Thüringer Höcke, das Holocaust-Mahnmal in Berlin für ›eine Schande‹. Insgesamt sind es – Wähler wie Abgeordnete – zu viele, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Die Partei dient daher auch denkbar schlecht als Protest gegen die Altparteien. Die Mehrzahl ihrer Wähler will schlicht ein anderes Deutschland: nicht mehr demokratisch, sozial, solidarisch und weltoffen, sondern diktatorisch, nationalistisch, egoistisch und fremdenfeindlich. Das wird von vielen Demokraten verdrängt, zumindest aber verharmlost. Demokratie aber verlangt Engagement und Verteidigungsbereitschaft. Daran mangelt es derzeit vielerorts in Deutschland und Europa.
Afd-Wähler geben, wenn sie überhaupt sprechen, oft vor, sie hätten aus Angst oder Wut gewählt. Wut auf die ›da oben‹, also CDU/CSU und SPD. Das erklärt den Absturz der Sozialdemokratie bundesweit und die beispiellosen Verluste der CSU in Bayern, zumal in Niederbayern, wo es im Landkreis Freyung-Grafenau in manchen Gemeinden 30% AfD-Stimmen gab. Wohlgemerkt: bei Vollbeschäftigung und einem Ausländeranteil von weniger als fünf Prozent. Wovor also haben die einstigen CSU-Wähler Angst? Vor allem vor ›den‹ Flüchtlingen, ›die alles in den Arsch gestopft bekommen, während wir Einheimischen im Alter von der Rente nicht leben können‹ (Originalton ARD-Morgenmagazin 4.10.17).
Das alles stimmt natürlich nicht, erzielt freilich Wirkung. Die Populisten verstehen es, dumpfes Empfinden und blinden Hass auf ihre Mühlen zu lenken.
Die alte Gleichung: männlich – östlich – zu kurz gekommen = AfD-Wähler stimmt schon lange nicht mehr, wie keinesfalls nur das bayrische Beispiel zeigt. Die Wähler der sogenannten Alternative für Deutschland sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen Es gilt nicht mehr als extrem oder gar radikal rechtsaußen, sondern als ›cool‹ oder analytisch-reflektiert, gegen die Altparteien aufzubegehren, neuerdings auch gegen das System als solches. So haben schon einmal, in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, die NSDAP und ihre grölenden Anhänger begonnen. Sie waren nationalistisch, völkisch, gegen die ›Versailles-Verräter‹, antisemitisch und teilweise antikapitalistisch, weil ›der Jude‹ als Symbol des kapitalistischen Systems gebrandmarkt worden war.
Dergleichen Töne hallen heute aus der AfD-Ecke wider: Ihre Protagonisten wollen die Heimat › zurückerobern‹ und die Flüchtlinge - weil vermeintlich Schmarotzer – aus dem Lande treiben. Sie zitieren Judenwitze und verteufeln Moslems, weil die an allem schuld seien: alles wie gehabt! Die Rolle der Versailles-Verräter spielt jetzt Kanzlerin Merkel, weil sie die ›Terroristen‹ ins Land geholt habe. Also erhielt sie eine Abreibung von der Wählerschaft. Sollte sie wieder ›brav‹ werden, wird ihr, möglicherweise, ihre Schuld vergolten.
Gleichwohl sind die Flüchtlinge nicht der eigentliche Grund des Wahldebakels von CDU/CSU und SPD - in Teilen auch der Linken -, sondern lediglich ihr sichtbarer Ausdruck. Die Ursachen liegen tiefer. Sie betreffen die ökonomische Kehrtwende seit der Jahrtausendwende, also den Marktradikalismus, einerseits und die Verwahrlosung der allgemeinen Bildung andererseits.
Marktradikalismus
Den verschämt und unter Missbrauch des guten Begriffs libertas (Freiheit) als Neo-Liberalismus in der Nachfolge von August Wilhelm von Hayek und Milton Friedman agierenden Wirtschaftskurs nenne ich, mit Erhard Eppler, Marktradikalismus. Er ist, seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher, weltumspannend zur ökonomischen Heilslehre schlechthin erklärt worden – und das, obwohl er ursächlich für alle ökonomischen und ökologischen Verwüstungen der letzten Jahrzehnte Verantwortung trägt: Bankenkrise, Klimakatastrophen, Kriege rund um den Globus, Auseinanderdriften von Arm und Reich, sozialer Abstieg der Massen sowohl in Industrie-wie Ländern des Südens. Dieser Denkansatz hat, in Europa, einstmals starke sozialistische und sozialdemokratische Parteien paralysiert, so die SPD unter Kanzler Schröder, die Labour Party unter Tony Blair und die Parti Socialiste unter Francois Mitterrand. Weltweit hat er seinen scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 angetreten, derzeit vor allem in China – wo eine immense Schuldenkrise und Finanzblase drohen – und im russischen Oligarchenkapitalismus des einstigen KGB-Mannes und jetzigen Präsidenten Putin.
Die Kennzeichen des Marktradikalismus sind Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Liberalisierung ist am wirkungsvollsten und schädlichsten auf den internationalen Märkten vorangetrieben worden. Wenn sich Staaten oder internationale Organisationen ihrer originären Pflichten begeben, nämlich Rechtsstaatlichkeit zu garantieren, entstehen Freiräume, die Globalisierungsgewinnler, Investmentbanker, Hedge-Fonds-Manager und Zocker nach Belieben nutzen. So entstand die Finanzkrise 2008, als raffgierige Spekulanten in London, New York, Frankfurt und anderswo weltweit Immobilienblasen produzierten und ganze Volkswirtschaften in den Abgrund stürzten. Schon zuvor hatten die Cayman-Inseln, aber auch Länder wie Luxemburg, Irland oder Österreich, Finanzspekulanten und Megafirmen eingeladen, zu Null-und Niedrigzinsen auf ihrem Territorium zu investieren. Deshalb gingen Apple und Google nach Irland, verlegte FIAT seinen Firmensitz in die Niederlande, ebenso, wie es jetzt Thyssen-Krupp und sein indischer Partner ankündigen. Verschämt nennt das die Ökonomie Steuervermeidung; in Wahrheit ist es staatlich geförderter Betrug.
Natürlich werden bei solchen Deals Arbeitnehmerrechte – über Jahrzehnte hart erkämpft – beseitigt und Massenentlassungen vorgenommen.
Das übelste Gesicht der Liberalisierung aber zeigt sich in gelockerten Regeln der Waffengeschäfte. Firmen in den Industriestaaten – vor allem USA und Deutschland –liefern Panzer und Schusswaffen in Krisenzonen wie Saudi-Arabien, Katar und Pakistan: oft unter Umgehung bestehender Gesetze wie Waffenkontrollgesetz und Außenwirtschaftsgesetz in der Bundesrepublik. Russland tut Gleiches in Syrien, Frankreich in Schwarzafrika. Die immer größere Zahl ziviler Kriegsopfer wird als ›Kollateralschaden‹ abgebucht.
Der Gedanke der Deregulierung ist die andere Seite der Medaille des Marktradikalismus. Seine Protagonisten sind grundsätzlich der Meinung, die ›unsichtbare Hand des Marktes‹ (Adam Smith) sei stets klüger als Staat und Politik. Deshalb müssten der Staat verschlankt und seine Aufgaben dem Markt überlassen werden. Sie berufen sich auf Thomas Hobbes (1651), der den absolutistischen Staat mit dem biblischen Seeungeheuer Leviathan verglichen hatte, das unbesiegbar sei und den Menschen in seinen individuellen Rechten bedrohe. Der Mensch müsse sich folglich dagegen zur Wehr setzen. Der Staat aber solle sich lediglich darauf konzentrieren, das größte Übel (summum malum) zu vermeiden – ganz im Gegensatz zu Aristoteles, der dem Staat empfohlen hatte, das höchste Gut (summum bonum) anzustreben.
Deregulierung und Privatisierung bedeuten in praxi, dass der Staat sich aus seinen Verpflichtungen verabschiedet, also Kommunen ihren öffentlichen Personennahverkehr, ihre Energieversorgungsunternehmen, Krankenhäuser und Reinigungsdienste verscherbeln, Bundes-und Länderregierungen ihre Polizeistellen zusammenstreichen und am Ende vollständig die Garantie der öffentlichen Sicherheit privaten Diensten übergeben – teilweise von kriminellen Elementen und ehemaligen Stasi-Mitarbeitern durchsetzt - , Lehrerstellen abbauen und später unausgebildete Eltern anheuern, weil die Not groß ist und die Schulen, auch wegen der Einwanderer, aus allen Nähten platzen. Gerade der massive Abbau von Lehrerstellen über Jahre hinweg hat zu Beginn des Schuljahres 2017/2018 in allen Bundesländern zu erheblichem Unterrichtsausfall zu Lasten der Schüler geführt, deren Niveau, nicht nur im Grundschulbereich, in den Hauptfächern Deutsch und Mathematik ohnehin beklagenswert niedrig ist.
Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben führen aber, vor allem, im globalen Maßstab zur Absenkung von Klimazielen und Umweltaufgaben. Also werden weltweit weiter die Temperaturen von Wasser und Luft ansteigen, nehmen Katastrophen wie Hurricans und Überschwemmungen drastisch an Intensität zu und steigen in den Ballungszentren die Zahl der Atemwegserkrankungen und Burn-out-Syndrome.
In Deutschland wird der Marktradikalismus seit Jahrzehnten von der FDP, den Wirtschaftsverbänden, Zeitungen wie Frankfurter Allgemeine und Handelsblatt und nahezu allen Hochschullehrern der ökonomischen Fächer vertreten, deren letztere ihre Studenten mit ihrer vermeintlichen Wissenschaft vergiften.
Eine Erfolgsstrategie
Warum ist eine Strategie des Marktradikalismus so erfolgreich, wenn doch viele Menschen wissen oder zumindest ahnen, ein ›schlanker‹ Staat nutze nur den Reichen, Abgehängte – real oder vermeintlich – und arme Bürger aber brauchten eine starke öffentlich Verwaltung ebenso wie durchsetzungsfähige Gewerkschaften, um ihre Rechte zu wahren und sich gegen Raffgier und Willkür von Lobbyisten, Konzernen, Investmentbankern, Immobilienbesitzern und Miethaien zur Wehr zu setzen. Es sind vor allem zwei Gründe, wobei die Massenpsychologie eine wesentliche Rolle spielt.
Zum einen packt der Marktradikalismus, mehr als jedes andere Wirtschafts-und Finanzkonzept, den Menschen bei seinem stärksten und lebenslang wirkenden Trieb: dem Erwerbstrieb. Genauer: der Gier nach Geld, nach Reichtum und Besitz. Hier kann das Individuum, unbehelligt oder frei von Moral, Vernunft oder Bewusstsein, seinen Trieb unbegrenzt ausleben. Da sich zumindest viele Vertreter des homo sapiens weltweit für einen Erfolgstyp halten oder ihnen genau dies von Vertretern des Marktradikalismus vorgegaukelt wird, müssen sie lediglich noch die gängigen Tricks und Betrügereien studieren und praktizieren. Als rücksichtslose Egoisten gelten sie zudem in der Gesellschaft als Vorbild: Banker, Immobilienbesitzer, Fußballspieler, Autorennfahrer und Filmstars. Dabei wusste schon Honoré de Balzac, dass hinter jedem großen Vermögen ein großes Verbrechen steckt.
Aristoteles hatte bereits vor zweitausend Jahren im ersten Buch der Politik dieses Phänomen beklagt, wenn er von der Chrematistik handelt, also der Kunst des Gelderwerbs. Dieser, so der Grieche, habe es an sich, sich mit der Zeit zu verselbstständigen und Sinn und Zweck nicht mehr zu bedenken. Stattdessen herrschten Raffgier und Betrug, die die Polis bedrohten. Wie aber, so die Frage des Ethikers Aristoteles, könne dem Einhalt geboten werden? Seine Antwort fällt resignativ aus: Das ›natürliche Selbstgenügen‹ müsse es leisten. Im Grundgesetz des Bundesrepublik Deutschland steht dafür der schöne Satz: Eigentum verpflichtet. Gilt das heute noch, wo sich immer weniger Menschen, zumal unter der jüngeren Generation, daran halten? Braucht es schärfere Regeln und Gesetze, um den grassierenden Egoismus unserer Zeit zu bändigen? Willy Brandt hatte dafür einen Ratschlag: Man müsse den Kapitalismus bändigen, nicht aber die Kuh schlachten, die viele Menschen ernähre.
Das zweite Phänomen wirkt ebenso stark: Es ist das abgrundtiefe Misstrauen der Masse der Menschen in Wissenschaft und wissenschaftlich begründete Erkenntnis. US-Präsident Donald Trump ist ein charakteristisches Beispiel dessen: Er erklärt Klimawandel und globale Erwärmung kurzerhand für eine Erfindung der Chinesen mit dem erklärten Ziel, die USA zu schwächen. Millionen von Bürgern weltweit folgen ihm, weil es menschlichem Empfinden widerspricht, Gewohnheiten zu ändern: ›Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, und die Gewohnheit nennt er seine Amme. Weh dem, der an den würdig alten Hausrat ihm rührt, das teure Erbstück seiner Ahnen‹, heißt es im Wallenstein passend dazu.
Die überwiegende Mehrzahl aller Menschen scheut keineswegs nur die Mühen des Nachdenkens und des wissenschaftlichen Begründens, sondern folgt lieber ihrem Glauben – ein großer Markt für Esoteriker heutzutage! -, ihrem Geschwätz oder manchen Parolen in den Medien oder Wahlkampfstrategien. Dauergeschwätz im öffentlichen und privaten Raum gebiert Verschwörungshypothesen, die hoch im Kurs stehen und das Überleben im Alltag vermeintlich erleichtern: Gefahren seien, so die Behauptung, auf diese Weise leichter zu erkennen, Feinde besser auszumachen. Eine besonders üble Rolle dabei spielen die unsozialen Medien wie Facebook oder Twitter: Sie verschaffen dem Nutzer das Gefühl, nicht allein, sondern Teil einer großen, ähnlich empfindenden Gemeinschaft zu sein, die ihren Leitfiguren folgt. Das Bild der Lemminge drängt sich auf.
Bildung im freien Fall
Die wirkliche und entscheidende Ursache aber dieses gesamten Prozesses, der sich im Wahlergebnis vom 24. September 2017 spiegelt, betrifft die allgemeine Bildung, also die Kenntnis kultureller, historischer und sprachlicher Phänomene. Was seit Generationen das Ziel der Erziehung war, nämlich eine umfassende theoretische wie praktische Bildung, wird heute durch Regeln des Kompetenzerwerbs ersetzt, also Hinweise, wie Lehre und Alltag durch Minimalkompetenzen bewältigt werden können, um den Menschen zu befähigen, dem Räderwerk des Marktes zu entsprechen.
Schulische und universitäre Bildung aber bedeutet weit mehr; sie will den Menschen zu einem umfassend gebildeten Wesen entwickeln. Wilhelm von Humboldt hatte es, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so formuliert, dass die Schule nur auf die harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten in ihren Zöglingen sinne; ihre Kraft nur an allen Seiten zu üben und alle Kenntnisse dem Gemüth nur so einzupflanzen, dass das Verstehen, Wissen und geistige Schaffen nicht durch äußere Umstände, sondern durch innere Präcision, Harmonie und Schönheit Reiz gewinnt.
Davon ist die Welt heute entfernter denn je: Auch in Deutschland geschieht es, einstmals ein Hort von Kultur und Bildung, worum uns die gesamte Welt beneidete, freilich auch fürchtete, als, während der faschistischen Herrschaft, aus dem Land der Dichter und Denker eines der Richter und Henker wurde, wie Bertolt Brecht beklagte und, im Leben des Galilei, bekannte: ›Wer die Wahrheit nicht kennt, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie kennt und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher‹.
Das jüngste Beispiel eklatanter Dummheit kommt aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dort haben Ökonomen um Richard Thaler das Verhalten von Menschen im Alltag untersucht. Verhaltensökonomie nennt sich das hochtrabend. Thaler geht es darum, unentschlossenen Bürgern beim Einkauf oder im Straßenverkehr zu helfen und, wenn passend, zu belohnen. Getreu dem Motto: Kaufst du diesen Yoghurt, erhältst du einen Pluspunkt, wenn nicht, eine Strafe. Das Punktekonto ist jedermann einsichtig und entscheidet unter anderem bei Bewerbungen. Thaler nennt das ›libertären Paternalismus‹ . In Wahrheit ist es Manipulation des Individuums mit dem Ziel der Überwachung. George Orwells „1984“ rückt näher.
Alles nur Blödsinn? Keineswegs. Thaler erhielt für diese Forschungen den Nobelpreis für Ökonomie des Jahres 2017.
Dietrich Bonhoeffer hat darauf hingewiesen, dass Klugheit und Dummheit wenig mit dem Intelligenzquotienten des jeweiligen Individuums zu tun hätten, sondern Grundhaltungen menschlichen Seins darstellten. Beide Eigenschaften sind nicht angeboren, sondern werden durch Familie, Schule und Gesellschaft geprägt und ausgebildet. Dumm ist man nicht, man wird es: durch Andere oder eigene Versäumnisse. Jeder kann folglich, durch eigenes Bemühen, dem entgehen. Daher gilt Immanuel Kants Definition dessen, was Aufklärung sei, heute uneingeschränkt: Aufklärung meint den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; Sapere aude – Wage, dich deines Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen.
Kants Forderung freilich verlangt Mühe und Anstrengung: Werte, die heute keineswegs hoch im Kurs stehen. Der seinerzeitige Angriff auf vermeintliche Sekundärtugenden wie Pflicht, Disziplin und Verlässlichkeit – auf den Punkt gebracht von Oskar Lafontaine mit der sträflichen Behauptung, damit könne man auch Konzentrationslager bauen – zeitigt verheerende Folgen. Man will schnell und ohne nachhaltige Anstrengung an das Ziel gelangen, studieren und, möglichst bald und viel, Geld verdienen. Eine berufliche Ausbildung – einstmals als deutsches Markenzeichen weltweit gerühmt – wird gering geschätzt: Da werden Disziplin und Ausdauer verlangt, obendrein frühes Aufstehen. Das aber gilt nicht als cool, wird also abgelehnt. Entsprechend sterben Handwerksberufe aus; die Innungen der Bäcker und Fleischer sehen mit Schrecken oder gar Verzweiflung, wie ihre Zünfte in der jungen Generation verkommen.
Stattdessen quellen Gymnasien über, werden den Abiturienten für bescheidene Anforderungen und noch geringere Leistungen Bestnoten am Fließband vergeben: von feigen oder kompromisslerischen Lehrern, die den Widerstand der anwaltsbewehrten Helikoptereltern fürchten. Ergo: lieber dem Kandidaten eine Eins mehr geben als einen Prozess am Hals haben. Der Druck von Direktoren und Kultusministerien mehrt das Übel.
An den Universitäten setzt sich die Abwärtsentwicklung fort. Mit dem Bologna-Programm von 1998 ist die Zahl der Studenten in die Höhe geschnellt und, entsprechend, das wissenschaftliche Niveau drastisch gesunken. Wissenschaftliche Erkenntnis braucht, getreu dem Humboldt´schen Credo, den Dialog von Lehrenden und Lernenden. Er findet freilich heute schon deshalb lediglich in Ausnahmefällen statt, weil immer mehr Universitäten dazu übergehen, keine Anwesenheit der Studenten mehr zu verlangen, und stattdessen ihre Programme in das Netz stellen. Die Studenten laden sie zu Haus herunter, pauken für die Prüfung und vergessen die Inhalte alsbald.
Die Kehrseite des Bildungsverfalls ist die Zunahme der Plagiate, des geistigen Diebstahls also. Die neuen Medien begünstigen diesen Prozess. Es wird nicht mehr oder nicht korrekt zitiert, fremdes geistiges Eigentum zu eigenem erklärt. Damit ist jedwede Wissenschaft in ihrer Grundsubstanz erschüttert.
Sprachverfall
Jeder Verfall von Kultur beginnt bei ihrem wesentlichsten Teil, der Sprache. Wenn Sprache zum Geschwätz verkommt, wenn Politiker und Medien nur noch in Leerformeln à la ›Wir müssen die einfachen Leute ernst nehmen‹ agieren, wenn das Gespräch zwischen Menschen verstummt und stattdessen Millionen lediglich noch per E-Mail oder Facebook-Gezwitscher miteinander – besser: nebeneinander oder gar aneinander vorbei – kommunizieren, ist eine Gesellschaft in ihrem Innersten gefährdet. Autisten dieser Art finden sich zumal in den Großstädten: umgeben von unzähligen Menschen, doch hoffnungslos allein. Sie rennen, mit dem Telefon in der Hand, geradeaus, rempeln andere Menschen an und nehmen die Wirklichkeit nicht mehr wahr: Ihre Realität sind das Netz, die Cloud oder was auch immer.
Dergleichen Realitätsflucht gebiert Sprachverwüstungen der besonderen Art. Nicht mehr Anglizismen mit so kuriosen Schöpfungen wie Edutainment (Erziehung als Amüsement) spielen dabei die entscheidende Rolle, sondern vor allem die, auch befördert durch Geschlechtsumwandlungen, Suaden von Bezeichnungen für die zwei (oder wie viele eigentlich) natürlichen Geschlechter, deren Benennung Formulare zum Platzen bringt, die Lektüre zur Qual werden lässt, aber vor allem dem letzten Rest von Ästhetik der deutschen Sprache den Garaus macht: Studierende*r, Professor_in, Schneider*innenmeister*in - so gefordert in Erlassen Berliner Bezirksämter.
Ähnlicher sprachlicher Müll herrscht in den Bezeichnungen für Flüchtlinge (hier gibt es kein Femininum, weil die Sprache es nicht zulässt): Deutsche mit Migrationshintergrund, nicht autochthone Deutsche, Passdeutsche, Copyright-Deutsche, Biodeutsche, Zuwanderer, Nicht-Mehrheitliche und dergleichen Unfug mehr.
Übrigens gedeiht in Frankreich der gleiche Unsinn: Die inklusive Sprache bringt, nach der im Grunde vernünftigen Madame la Présidente, Horrorschreibungen der novlangue égalitaire hervor wie: artisan.e.s, parisien.ne.s, médaillé.e.s d´or, cher.e.s lecteur.rice.s. Wie sagt Polonius: Ist es schon Wahnsinn, hat es doch Methode.
Schönheit und Genauigkeit der Sprache sind die Verlierer bei diesem grausamen Spiel. Der Widerstand, selbst unter Poeten, ist denkbar gering. Am Frankfurter Literaturhaus findet, so ist zu hören, ein Kurs für Literatur in leichter Sprache – also Deutsch ohne Verben, Nebensätze und Konjunktive – großen Zulauf!
Schönheit und Genauigkeit gibt es hingegen, noch immer in der Poesie. Darüber schrieb einst Jean Cocteau: ›Die Poesie ist die höchste Ausdrucksform, die dem Menschen erlaubt ist. Es scheint nur normal, dass sie keinen Glauben mehr erweckt in einer Welt, die sich nur für Schwätzer interessiert‹. Es gibt kein Sein ohne Poesie, allen Verschwörungshypothesen zum Trotz. Folglich sollten Gedichte den Menschen ein Leben lang begleiten, denn sie sind Geschenke – Geschenke an die Aufmerksamen, so Paul Celan.
Gedichte sind nicht nur Verdichtungen, weil sie, wenn gelungen, alles Überflüssige und Alltagsgeschwätz vermeiden, sondern sie schaffen Wirklichkeiten – weit entfernt von Cyber-Welt und Facebook-Gezwitscher. Freilich verlangen sie Aufmerksamkeit, also Anstrengung, ein Sich-Einlassen auf das anfangs Fremde. Erst dann stellen sich Genuss und Erkenntnis ein.
Fazit
Ist unsere Gesellschaft zu solcher Anstrengung bereit und imstande? Die Zeichen deuten eher auf das Gegenteil, wenn etwa , gerade in diesen Tagen, Presseagenturen voller Stolz darauf verweisen, die Zahl jener Bürger und Bürgerinnen im Lande, die dauerhaft online seien, sei um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Wenn obendrein die Bildung in Schulen und in der Öffentlichkeit auf das Ausmaß an Digitalisierung der Institutionen eingedampft wird Wenn zugleich zwar angemerkt wird, dass Grundschulkinder im Schreiben und Rechnen deutlich schlechtere Ergebnisse als im Vorjahr aufwiesen - was natürlich mit deren unentwegtem ›Zappen‹ im Internet oder Facebook und entsprechenden Konzentrationsmängeln zu tun hat –, aber den Migrantenkindern in die Schuhe geschoben wird, die am Dilemma schuld seien.
Hat die Vernunft in der Gegenwart keine Chance mehr, ist die Aufklärung im Kantschen Sinne endgültig gescheitert und in Mythen umgeschlagen?
Am Ende des Zweiten Weltkrieges, im amerikanischen Exil, haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsche und Max Weber, genau dies behauptet: Ausdruck ihrer tiefen Verzweiflung über Barbarei und Verbrechen der Nazis. In der Dialektik der Aufklärung heißt es: ›Die vollends aufgeklärte Welt erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.‹ Die wachsende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, so beide Soziologen weiter, ende in einem Ausverkauf der Kultur; die Kulturindustrie ersetze Sinn durch die Dummheiten des Amüsements.
Die Analyse der Kulturindustrie ist zweifellos richtig, doch die Vermischung von Aufklärung und Mythos und die daraus folgende Prognose einer Dystopie überzeugt nicht. Wir halten es vielmehr mit Antonio Gramsci, der seine Kritik am Monopolkapitalismus und den Kampf um Hegemonie auf die Formel gebracht hat: ›Pessimismus in der Analyse, Optimismus im Wollen.‹
Auf die Gegenwart angewendet, heißt das, sich nicht mit wohlfeilen Parolen à la ›den Menschen vor Ort zuhören‹ oder, die SPD müsse jetzt cooler, moderner und weiblicher werden, zufrieden zu geben. Die SPD muss sich nicht neu erfinden, wie jüngst ein neunmalkluger Journalist der ZEIT forderte. Vielmehr geht es gerade für die deutsche Sozialdemokratie darum, eklatante Fehler der Vergangenheit wie Hartz IV- Reform und andere Gesetze, die die soziale Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben haben, zu verurteilen, mithin zu den Grundsätzen der Partei zurückzukehren und sie weiterzuentwickeln: Entspannung und soziale Gerechtigkeit weltweit fördern und die Ursachen von Hunger, Not, Klimakatastrophen und Kriegen bekämpfen. Dafür muss eine geeinte Linke –also alle progressiven Kräfte links von der Mitte – kämpfen.