von Gunter Weißgerber

Auf einer Woge der Sympathie

Für die SDP endete das Jahr 1989 einfach nur traumhaft. Die alte Zugkraft der Sozialdemokratie in Verbindung mit ihrer Position als wichtigster Oppositionspartei zur SED sowie ihrem Ja zur Deutschen Frage ließ uns auf hohen Wogen der öffentlichen Zustimmung schwimmen. Mit der kommenden Umbenennung in den gesamtdeutschen Namen SPD am 13. Januar 1990 wollten wir unseren erfolgreich scheinenden Weg in die kommenden Volkskammerwahlen auf dieser Woge konsequent fortsetzen. Das war der feste Plan – auf hohlem Untergrund.

Die Sozialdemokraten waren um die Jahreswende 1989/90 die Partei der Deutschen Einheit. Oben auf dem Balkon der Leipziger Oper hatte ich dieses nach der bleiernen DDR-Zeit berauschende Gefühl einige Montagabende lang genießen können. Auch gab es in diesen Wochen weder in der West-SPD noch der Ost-SPD-Querschläge zu verzeichnen. Dies sollte erst wieder der deutschlandpolitisch unsägliche Berliner Programmparteitag der SPD-West am 19. Dezember 1989 öffentlich mit sich bringen und damit Helmut Kohl und dessen perfiden Wahlkämpfern den Stoff liefern aus dem SPD-Niederlagen gemacht werden.

Eine Idee, wie aus der Giftküche des KGB

Für Helmut Kohl schien die Ausgangssituation in der DDR im Hinblick auf den zu ahnenden Wahl- und Einigungsprozess noch im Dezember 1989 nach Erfolglosigkeit zu riechen. Die fulminanten Demonstrationen in der DDR kannten nur die Forderungen der Oppositionsgruppen, darunter die der SDP. Gerade die Sozialdemokraten, die Kohl in Westdeutschland als gleichstarke Konkurrenten kannte, waren für ihn auf den ersten Blick die Gefährlichsten. Sie konnten sich auf die große sozialdemokratische Geschichte, auf ihre SBZ/DDR-Unterdrückungsgeschichte sowie auf ihre politisch saubere Gründung im Revolutionssommer/-herbst berufen. Die zunehmende Woge der Begeisterung in Ostdeutschland schien dies nachhaltig zu bestätigen.

Hinzu kam die SED-Offensive ›Für unser Land‹, die Kohl mit Sicherheit hinsichtlich der Wirkung in der DDR-Bevölkerung nicht einschätzen konnte. Auch traute er mit seinen bundespolitischen Konkurrenzerfahrungen, mit der West-SPD nach Schmidt, die eine Art Nebenaußenpolitik mit der SED und der KPdSU betrieb, sicher auch der SDP nicht über den Weg. Zumal diese in ihrem Statut deutschlandpolitisch ziemlich verschwurbelt aufgestellt schien (siehe Punkt 3.):

Diese Formulierung konnten Kohl und Co. sicher bei bestem Willen nicht verstehen. So harmlos und beinahe ablehnend diese Formulierung bezüglich Deutschlands auf den heutigen Leser wirken mag, für SED und MfS war das der stärkste Tobak! Da gab es plötzlich eine Sozialdemokratische Partei in der DDR, die die Deutsche Frage thematisierte! Das war der größte Affront überhaupt. Schon Sozialdemokraten durfte es nicht geben und dann noch die deutsche Frage, die – wenn überhaupt – unter Revanchismus/Faschismus in der DDR lief? Das ging an die Fundamente der Diktatur, Man bedenke, dies wurde vor dem 9. Oktober 1989 aufgeschrieben und beschlossen. Das war nicht Hoch-, das war Höchstverrat! Die Zeitgenossen in der DDR auf der einen und die SED auf der anderen Seite verstanden die subtile SDP-Botschaft, Im freien Westen konnte sie nicht wirklich dechiffriert werden.

Kohl hatte in seiner Sicht allen Anlass, auf der Hut zu sein, um wenigstens später nicht am Katzentisch einer Volkskammerwahl sitzen zu müssen. Bis zu seinem Dresdner Besuch könnte er so gedacht haben. Um Platz und nicht um Sieg würde es für die CDU/CSU in Anbetracht fehlender natürlicher Partner in der DDR gehen müssen. Von den Blockflöten dürfte er nicht viel gehalten haben. Was sonst noch nebulös entstand, war nicht zu verifizieren.

Kohl in Dresden

Das alles sollte sich am 19. Dezember 1989 in Dresden für ihn grundlegend ändern. Vor 300 000 Menschen stellte er zwei Dinge fest. Die Ostdeutschen wollen die Einheit und sie sind politisch viel weniger festgelegt als seine Landsleute im Westen. Mit den richtigen Worten und der richtigen Strategie war nicht nur die Deutsche Einheit, sondern diese Einheit war in seinen Farben, denen der Union, zu holen. Helmut Kohl in seiner Rede: Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.

Die Herzen flogen ihm in Dresden auf eine Weise zu, die er aus den westdeutschen Grabenkämpfen so nicht kannte. Es hat ihn auch emotional umgehauen. Ich jedenfalls begann an diesem Abend zu ahnen, dass es schwerer würde in der kommenden Zeit. Es war nicht selbstverständlich, dass wir von den Leuten immer oben getragen werden. Nur hätte ich nicht sagen können, was neben forschen Auftritten und Aussagen so alles eine Rolle spielen würde im kommenden Disput mit den alten Kameraden der SED und des MfS, den Drittweglern in der gemeinsam empfundenen Opposition und den Konservativen, von denen wir keine Ahnung hatten.

Wie Brandt Jahrzehnte vorher von Adenauer menschlich zutiefst primitiv verunglimpft wurde, das wussten wir nicht. Wir ahnten nicht, wie sehr Kohl bereit und in der Lage war, in die Güllegrube dreckiger Wahlkämpfe zu greifen.

Aber der Reihe nach: Dresden zeigte ihm klar die großen Chancen auf. Seriöse, der Opposition gleichwertige Partner fehlten noch und die Block-CDU kam allein nicht infrage. Er schien sich auf eine Sammelbewegung aus entstehenden Oppositionsgruppen wie dem Demokratischen Aufbruch und den sich gerade an den aufrechten Gang gewöhnenden Blockfreunden verlassen zu müssen, während die CSU sich um die Vereinigung kleinerer neuer Splittergruppen und Parteien kümmerte – mit dem Ergebnis Deutsche Soziale Union (DSU) am 20. Januar 1990.

Allianz für Deutschland

Heraus kam am 5. Februar 1990 die ›Allianz für Deutschland‹ mit CDU-Ost, Demokratischer Aufbruch und DSU.

Just zu diesem Zeitpunkt wurden der SPD-Ost in Umfragen bis zu 54 Prozent Zustimmung attestiert, worauf hin das Adenauerhaus tief in die Giftküche unterirdischen Wahlkampfes griff. Generalsekretär Rühe setzte die ›SED-Unterwanderung der SDP/SPD-Ost‹ in die Welt. Dies war so diabolisch wie genial. Kohls Scharen waren schwer gemixt: 400 000 Blockflöten und wenige Tausend frische Konservative, die mit der SED nichts am Hut hatten. Dagegen die neuen aus der Opposition gekommenen Sozis. Aus dem Malus Blockflöten gegen saubere Sozis machte Kohls Truppe mittels der Unterwanderungslüge einen zugkräftigen Bonus im Wahlkampf. Da die Sozis von der SED unterwandert sein sollten, waren die faktisch nicht besser als die Blockflöten, die sich gerade erst von der SED lösten. An Perfidität war das nicht zu überbieten. Die Sozialdemokraten in der DDR hatten nur sehr wenige frühere SED-Mitglieder aufgenommen und das waren Menschen, die zu Diktaturzeiten bis zum 9. Oktober 1989 den Mumm hatten, der SED Valet zu sagen. Was viel mehr Mut erforderte als der SED über eine Blockparteimitgliedschaft zu Lebzeiten der DDR ein bisschen zu entweichen, wie es die Blockflöten meinten, getan zu haben.

Von da an wurde es für uns tatsächlich schwierig. Zumal es klar war, dass die ominösen 54 Prozent nicht viel wert waren, da sich die Hälfte der Befragten überhaupt nicht äußerte und deshalb schon einmal jede Menge von den 54 Prozent abgezogen werden konnten. Oben auf dem Balkon der Leipziger Oper wehte der Wind nun viel frischer. Das Sammelsurium aus Lafontaines offenkundiger Einheitsabwehr, Kohls energischem Zugreifen, der SED-Unterwanderungslüge, dem Blockparteireinwaschen Kohls, der auf der Hand liegenden Einheitsgeschwindigkeit zwischen einem Beitritt nach GG 23 (Allianz) und einer Vereinigung nach GG 146 (SPD) musste Kohl den Erfolg und den Sieg und den Sozialdemokraten den Platz bringen. Alles andere war unrealistisch.

18. März 1990

Das Ergebnis traf uns am 18. März sehr hart und doch verstand ich das Wahlvolk. In Bonn regierte eine konservativ-liberale Koalition. Rein praktisch schien eine gleiche Koalition in Ostberlin für die kommende Einigung die unkomplizierteste Variante im Verständnis der Ostdeutschen zu sein. Hatten doch gerade die West-Sozis mit Lafontaine gerade erst bewiesen, dass Sand im Getriebe scheinbar zu deren Politik gehörte. Dabei wurde den Ostsozis wahrscheinlich nicht zugetraut, sich gegen deren Westfreunde behaupten zu können.

Ich jedenfalls schob die Enttäuschung über den Wahlausgang und die Wut über Kohls unredliche Sauereien weit von mir weg und konzentrierte mich auf das primäre Ziel der Deutschen Einheit im selben Jahr.

Der Spiegel vor und nach der Volkskammerwahl

War dies alles irgendwie unter Wahlkampf auf den Trümmern einer Diktatur zu subsumieren, so kam der Faktor politische Geheimpolizei der SED bisher zu glimpflich davon. Dem Spiegel blieb es vorbehalten, diesbezüglich große Räder zu drehen. Kohls ganz große Hoffnungen lagen anfänglich sicher mehr auf dem Demokratischen Aufbruch um Schnur. Das schienen saubere Konservative ähnlich den ostdeutschen Sozialdemokraten zu sein. Der Rechtsanwalt Schnur zog dann auch beachtlich vom Leder und damit Kohls Hoffnungen berechtigt nach oben. Außerordentlich schlechten Geschmack verbreitete Kohl jedoch mit der väterlichen Annahme der Block-CDU. Das war schon ein übles Stück und stieß nicht nur im Spiegel auf Übellaunigkeit. Der SDP/SPD die SED verleumderisch unterzujubeln und diese damit auf das moralische Niveau der Blockfreunde abzusenken, das war menschlich gesehen einfach nur eine Sauerei. Zu diesem Zeitpunkt waren weder Schnurs (DA) noch Böhmes (SDP) Stasitäterschaft bekannt.

Der Spiegel: Schnur und Stasi am 12. März 1990

Am 12. März 1990 war es dann soweit. Das dem Spiegel vorliegende Material zu Wolfgang Schnur war hieb- und stichfest. Es konnte und musste der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Das Schnur kurz nach dem Mauerfall dem Spiegel selbst Stasileute liefern wollte, machte das nur noch dringlicher.

IM Torsten alias Wolfgang Schnur arbeitete als Rechtsanwalt mindestens 19 Jahre für das MfS. Er war beileibe kein kleines dreckiges Licht. Die Auswirkungen waren enorm. Der Demokratische Aufbruch ging im Sturzflug vom Polithimmel eines sicheren Wahlsiegers auf den Beton des Verlierers – mit 0,9 Prozent am 18.3.1990 ging er k.o. In der verbleibenden Woche bis zur Wahl wechselte das konservative Wahlvolk leider nicht, wie viele von uns hofften, vom stasigeführten DA zur SPD sondern zur SED-Gefolgspartei CDU-Ost. Die Menschen nahmen das in Kauf, weil sie die Einheit schnell wollten und die Blockpartei nur als Vehikel zur indirekten Wahl Helmut Kohls ansahen. Praktisch war das ja auch so. Für Deutschland war es sogar richtig. Zuerst die Sicherheit, dann die sozialpolitischen Mühen der Ebene. So wurde gedacht und gewählt. Auf mein vielfach geäußertes Argument, ›wenn Ihr die Sozis nicht wählt, werden sie euch auch nicht vertreten können‹, wurde meist verständnisvoll mit den Schultern gezuckt. Die Zwickmühle war den Menschen genauso klar wie die Alternativlosigkeit hinsichtlich der staatlich in der Einheit abgesicherten Demokratie. So schlimm konnten Kohl und die seinen schließlich auch nicht sein. Die Bundesrepublik hatten sie jedenfalls nicht ruiniert. Davon konnte sich jeder Zoni seit dem 9. November 1989 persönlich überzeugen.

Der Spiegel: Böhme und Stasi am 26. März 1990

Nach der Volkskammerwahl kam dann die nächste unangenehme Überraschung. Nicht nur der Vorsitzende und Hoffnungsträger des DA war ein übler Stasimann, die sozialdemokratische Hoffnung Manfred (Ibrahim) Böhme war ihm durchaus ebenbürtig an üblem Charakter und tschekistischem Handeln.

Wir Ostsozis waren gerade noch einmal davon gekommen! Hätte der Spiegel die Böhme betreffenden Unterlagen noch vor der Wahl als hieb- und stichfest behandeln können und wäre damit ebenfalls an die Öffentlichkeit gegangen, die SPD-Ost wäre sicher ebenfalls bei den 0,9 Prozent des DA aufgeschlagen.

Wie sich in dem Falle die SPD-Wähler verhalten hätten ist unklar. Womöglich hätten sie vor allem bei Bündnis `90 ihr Kreuz gemacht. Die aber wollten 1990 alles, nur keine Deutsche Einheit.

Zwar ist dies jetzt von mir sehr spekulativ, doch nicht ohne Berechtigung: Die Enttarnung Böhmes noch vor der Volkskammerwahl hätte die parlamentarischen Mehrheiten zugunsten der Einheitsgegner in der freigewählten Volkskammer verschoben, den Beitrittsbeschluss vom 23. August 1990 vielleicht sogar unmöglich gemacht. In der Folge wäre Helmut Kohl mit seinem Scheitern in der DDR am 2.Dezember 1990 in der dann reinen westdeutschen Wahl gegen den aus den DDR-Geschehnissen triumphierenden Lafontaine so an die Wand gefahren, wie es die bundesdeutschen Auguren vor dem deutschen Herbst 1989 schon lange vorhersagten. Denn Lafontaine kam die Friedliche Revolution 1989 in der DDR brutal in die Quere und nicht etwa zu Hilfe. Die Ostdeutschen und hier speziell die Ost-Sozis hatten dem ›Gemeinsamen Papier von SPD und SED von 1987‹ gewissermassen den rosigen Boden entzogen. Der ›Wandel durch Anbiederung‹ wurde unterbrochen und 25 Jahre später in Thüringen mit der SudelRotGrünen Koalition von Linksaußen, SPD und Grünen wieder aus der Gruft gezogen.

Diese 25 Jahre waren der bisher größte Gewinn der Deutschen, weil friedlich und demokratisch errungen, in ihrer langen Geschichte. Auch dem damals vorsichtigen Spiegel-Agieren auf von Stasigülle reichlich verschmiertem Datenboden sei Dank! Es gab noch keine rechtsstaatlich fundierte Stasiunterlagenbehörde. Wirklich genau wusste das alles der Spiegel auch nur nicht.

Geschrieben von: Weißgerber Gunter
Rubrik: Geschichte