von Gunter Weißgerber

Für die 25-Jahrfeier des Heimat- und Geschichtsvereins Kirchhain/Hessen wurde ich um eine Rede zur jüngeren Geschichte gebeten. Gern kam ich dem nach. Manches hat die Zuhörer sicher überrascht, vielleicht auch erfreut, einigen Aussagen mochten sie vielleicht nicht folgen. Vor allem haben sie mit mir eines nicht erlebt: die Rede eines Sozialdemokraten, der nur Gutes über die eigene Truppe zu berichten und der demokratischen Konkurrenz nur Schlechtes hinterherzuwerfen weiß.

Das geht schon mit dem Weg in die ›Friedliche Revolution‹ los. Helmut Kohl führte nach 1982 den deutschlandpolitischen Weg von Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher fort. Brandts ›Wandel durch Annäherung‹, der Grundlagenvertrag, Schmidts KSZE-Engagement und dessen Idee der Doppelten Nulllösung – all das nahm Kohl auf. Auf den Punkt gebracht: ich bin Schmidt für die Doppelte Nullösung genauso dankbar wie ich Kohl für die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses zu danken habe. Anders ausgedrückt, der Widerstand der Unionsparteien gegen die Neue Ostpolitik hatte mich genauso geärgert wie mich das ›Gemeinsame Papier von SPD und SED‹ von 1987 noch heute auf die Palme zu bringen vermag.

Vorgeschichte

Deutschlands Weg in die Einheit lässt sich nicht erst ab 1989 skizzieren. Vor der Einheit 1990 stand bekanntlich die Europäische Teilung. 1945 begannen bereits die großen Unterschiede. Wurden die drei Westzonen und Westberlin tatsächlich dauerhaft befreit, so folgte in der SBZ sofort die nächste Diktatur. Die vormaligen Nazi-Konzentrationslager füllten sich wieder und bei weitem nicht nur mit Tätern des Dritten Reiches. Persönlich kenne ich Menschen, die vor und nach 1945 dort inhaftiert waren, darunter Juden und Sozialdemokraten.

Das schlimmste Schicksal erlitten die wenigen überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Stalin ließ diese nicht nur nicht frei. Nein, diese armen Kreaturen kamen direkt in den Gulag. Für Stalin waren Überlebende Hitlers schlicht Verräter. Wer nur halbwegs etwas über die Hölle der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland weiß, kann die Enttäuschung ermessen, die diesen bedauernswerten Geschöpfen bevorstand. Für mich war dieses Wissen der Punkt, an dem ich begann, die Blutspur des Kommunismus genauso zu hinterfragen wie ich es von früher Kindheit an bereits mit dem Nationalsozialismus tat.

Stalin war Massen-, kein Selbstmörder. Für ihn war klar, in seinen neuen Territorien würde es keine Demokratie geben. Am 30. April 1945 nahm die ›Gruppe Ulbricht‹ Quartier bei Berlin. Im Marschgepäck hatte sie die Planung der Sowjetischen Besatzungszone als totalitären Unrechtsstaat. »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben« – so Walter Ulbricht zu seinen Gesellen. So blieb es dann bis in den Herbst 1989. Das letzte durch Schusswaffen zu Tode gekommene Mordopfer an der Mauer war der 19jährige Chris Gueffroy. Er verblutete in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989. Der eventuell Letzte zu Tode gekommene DDR-Flüchtling war der 43jährige Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 mit einem Ballon über Westberlin abstürzte.

Von Beginn an gab es keine Chancen auf persönliche, politische, wirtschaftliche Freiheit, auf Demokratie, auf freie Wahlen, auf unabhängige Justiz, auf unabhängige Medien. Für Andersdenkende gab es nur die mit der faktischen Todesstrafe bewehrte Flucht oder die Anpassung oder den Gulag und die kommunistischen Zuchthäuser.

Vier Parteien wurden zugelassen, sie sollten ein Mehrparteiensystem suggerieren. Massiv bevorteilt wurde die KPD, ebenso massiv benachteiligt wurden die SPD, die CDU und die LDP. Mit dem beginnendem Massenzulauf für die gesamtdeutsch denkende SPD schaltete die KPD um und begann die Vereinigungskampagne mit der SPD. Willfährige Sozialdemokraten wurden auch manchmal gefunden. Und wo dies nicht gelang, gründete die KPD selbst SPD-Ortsvereine, die dann natürlich für die Vereinigung waren. Unter brutalem Druck schmiedete die KPD die Zwangsvereinigung. Widerstand war zwecklos, die Gefahr für Leib und Leben aufrechter Sozialdemokraten war riesengroß.

Mit der Zwangsvereinigung schaltete die KPD ihren wichtigsten Konkurrenten aus. Die SPD verschwand spurlos, die meisten Sozialdemokraten verloren in den Folgejahren ihre Positionen und wurden aus der SED ausgeschlossen. Unter dem Kampfbegriff des ›Sozialdemokratismus‹ wurden nach 1953 die letzten aufrechten ehemaligen Sozialdemokraten aus der SED entfernt. Viele kamen in die Zuchthäuser der DDR, wenn ihnen nicht vorher die Flucht in den freien Westen gelang. Vor diesem Hintergrund machte sich Egon Bahr 1989 mächtig etwas vor als er vom »sozialdemokratischen Blut« sprach, welches er zurückhaben wollte. Dieses Blut gab es 1989 nicht in der SED! Wenn, dann floss dieses in den Nischen der Diktatur. Die SED war 1989 schon Jahrzehnte eine kommunistische Partei, deren aktive Mitglieder sich bis zur friedlichen Revolution nie als ›Sozialisten‹ sondern stringent als ›Kommunisten‹ bezeichneten. Dieser Umstand gehört zu den DDR-Begleiterscheinungen, die fast zeitgleich mit dem 9. Oktober 1989 der allgemeinen Vergessenheit anheimfielen. Demenz ist nicht nur eine individuelle Alterserscheinung. Die gesellschaftliche Demenz ist wohl schon immer ebenso verbreitet. Anders ist aktuell auch Pegida nicht zu erklären. Wie Ostdeutsche ›Putin hilf!‹ rufen können, das werde ich in diesem Leben nicht mehr verstehen. Sind doch sämtliche ehemaligen Sowjetkasernen in Ostdeutschland Freiheits- und Einheitsdenkmale! Als Sachse sagte ich mir oft, hätten die Amerikaner 1945 doch bloß nicht zu ihrem Wort gestanden und wären dauerhaft in Thüringen und Obersachsen geblieben.

Zurück in die SBZ nach 1945. Die SPD war ausgeschaltet. Jetzt waren die CDU und die LDP dran. Außerdem gab es noch die vielen Täter und Mitläufer des NS-Systems, die eingesammelt werden mussten. Die SED ließ für die Gestrigen die NDP gründen und für die Landbevölkerung die DBD. Nun begann derselbe Druck wie vormals auf die SPD. 1948 mussten die restlichen Parteien kapitulieren und in die Zwangsverblockung der Nationalen Front einrücken.

Wer diesen Block heute nach demokratischen Maßstäben als Koalition missversteht, geht Ulbricht Jahrzehnte später noch immer auf den Leim. Nichts, wirklich nichts hatten die Blockparteien mitzubestimmen. Warum sind die Leute dann nicht aus diesen Parteien raus gegangen? Weil es in einer Diktatur nicht möglich ist, die Folgen von solchen Austritten abschätzen zu können. Warum sind später Leute in diese Parteien eingetreten? Weil sie damit der lästigen und vieles entscheidenden Aufforderung, ob sie in die SED eintreten wollen, aus dem Wege gingen. Was sie nicht wussten, war die technische Organisation dieser Frage. Die Blockparteien mussten in jedem Fall bei der SED nachfragen, ob sie Herrn X oder Frau Y aufnehmen dürfen.

Wie war das mit dem real existierenden Sozialismus in der DDR als Vorstufe zum Kommunismus?

Ulbricht, Honecker und Co. hatten alles richtig gemacht. Sie hatten den Sozialismus nicht verraten. Wer die Menschen über einen Leisten schert, wer ihnen alles wegnimmt, der muss eine Mauer um diese Menschen bauen, der muss diese Mauer auch gegen das eigene Volk schützen, der braucht Mielkes Staatssicherheit, der braucht Zuchthäuser, Jugendwerkhöfe und Irrenhäuser. Anders geht das nicht im richtigen Leben. Den Kommunisten ist zuerst ihre Idee zum Vorwurf zu machen. Alles andere ist von strafrechtlichem Belang!

Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR waren feste Bestandteile der beiden Blöcke. Beide waren außenpolitisch nicht souverän. Wobei die Bundesrepublik größere Spielräume besaß als die DDR als Teil des sowjetischen Kolonialsystems. In der Bundesrepublik gab es freie Wahlen, öffentliche Diskussionen über den eigenen Status, über die Wiederbewaffnung, über das westliche Verteidigungsbündnis, die Notstandsgesetze, die Neue Ostpolitik (die in Moskau das Vertrauen schuf, welches Gorbatschow später vertrauensvoll mit dem Westen zusammenarbeiten ließ), den NATO-Doppelbeschluss und vieles mehr. Als Ostdeutscher konnte man da nur staunend neidisch werden, über das, was in Westdeutschland alles möglich war. In der DDR konnte man für die leiseste Kritik im Gefängnis landen. Das ist das Perfide an Diktaturen: Niemand weiß, ob ihm und wenn ja, was passieren wird. Angst und Vorsicht sind sozusagen genetische Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens.

Die 80-er Jahre

Die 80-er Jahre waren in der DDR für sehr viele Menschen eine bleierne Zeit. Bleierner als die von Margarethe von Trotta so gekennzeichneten westdeutschen 50-er Jahre. Die Westdeutschen waren damals nicht eingesperrt, wurden nicht von der Staatssicherheit bedrückt. Alte Nazis in Verantwortung gab es in Hülle und Fülle in beiden deutschen Staaten. Kritisiert werden konnte das nur im freien Teil Deutschlands.

Die 80er Jahre in der DDR waren wie angestemmt. Seit der Neuen Ostpolitik, seit KSZE gab es Risse im östlichen Lagerleben. Die Charta`77 in der CSSR, Solidarność in Polen, der Gulaschkommunismus in der lustigsten Baracke des Ostblocks, in Ungarn – und in der DDR dagegen Friedhofsruhe. Überall waren Änderungen zu ahnen. Nur bei uns herrschte die greise Betonriege mit der Macht der sowjetischen Waffen.

Vorher, zu Beginn der 80-er Jahre schlug der Apparat noch zurück. Die Antwort der Warschauer Paktstaaten auf die Soldarnostgründung waren monatelange Manöver in der Ostsee und an den Grenzen zu und die Militärdiktatur in Polen. So wie es heute Putin mit der Ukraine und an den Grenzen zu Polen und den baltischen Staaten macht.

Rahmenbedingungen

1981 kam Helmut Schmidt nach Güstrow. Auch damals hofften wir auf Besserungen, die der Bundeskanzler natürlich nicht direkt bewirken konnte. Was er jedoch bewirkte, das tat uns sehr wohl. Vor aller Welt blamierte sich die DDR mit der Abschottung Helmut Schmidts. Alle, die es sehen wollten, sahen, dass die Güstrower keinen Kontakt zu dem Mann aus Bonn bekamen, dass die DDR- Bevölkerung vor dem direkten Kontakt mit dem populärsten Träger des Sozialdemokratismus ›geschützt‹ wurde. Güstrow war eine Geisterstadt wie etwas später der Republikpalast beim Konzert von Udo Lindenberg eine Stasi-FDJ-Geisterveranstaltung wurde. Ein Konzert vor tausenden schweigenden kopfgesteuerten FDJlern, dies ist vergleichbar mit der menschenleeren Stadt Güstrow für Schmidt.

1982 verlor Helmut Schmidt die Kanzlerschaft an Helmut Kohl. Für uns Ostdeutsche war es nicht sofort klar, was dies für unsere Situation bedeuten würde. Zumal die SPD von nun an eine unverständliche Nebenaußenpolitik mit der SED betrieb und sich gegen den NATO-Doppelbeschluss wandte. Für mich waren das verheerende Signale. Die SED wurde faktisch als gleichberechtigt auf der gleichen Ebene anerkannt. Dabei sah sich die SED als kommunistische Partei. Kommunisten wollen keine Demokratie, keinen Pluralismus, keine Gewaltenteilung. Sie wollen Diktatur. Die ersten Opfer der Kommunisten unter Lenin waren die russischen Sozialdemokraten.

Den NATO-Doppelbeschluss lobte ich bereits. In diesem Zusammenhang muss ich noch etwas zur Parole ›Lieber rot als tot!‹ beisteuern. Dieser Satz war ein infamer Umgang mit dem Freiheitswunsch der Ostblockvölker. Diese Worte sagten nichts anderes, als dass der Status Quo mit der Freiheit im Westen und der Unfreiheit im Osten um des Friedens willen beibehalten werden müsse. Das sagten aber nur die, die in der Freiheit leben konnten. Wir wurden da gar nicht gefragt. Die Bedrohung durch atomare Mittelstreckenraketen konnte nur in Westdeutschland hinsichtlich der US- und der Sowjetischen Raketen öffentlich thematisiert werden. Leider nahm die Friedensbewegung fast ausschließlich die amerikanischen Raketen in ihr Visier. So wie heute immer noch. Klar, die Amerikaner kann man folgenlos kritisieren. Leute wie Putin allerdings sind, sieht man genau hin und hinter die medialen Kulissen, weitaus gefährlicher. Schon die damalige Sicht der Friedensbewegung war einseitig und in weiten Teilen verlogen. Viele Ostdeutsche spürten das.

1985 fiel dem Politbüro in Moskau nichts anderes mehr ein, als dem jungen Michail Gorbatschow das Heft des Handelns in die Hand zu geben. Gorbatschow sah, dass ohne Reformen, ohne Freiheit, ohne eine soziale Marktwirtschaft seine Sowjetunion keine Überlebenschance haben würde. Glasnost und Perestroika waren seine großen Mittel. Mit Hilfe der Öffnung der Archive wollte er der Nomenklatura den Boden entziehen und das Vertrauen der Bevölkerung in seine wirtschaftlichen Reformen gewinnen. Das Ausmaß der Verbrechen seit Lenin und Stalin war so unglaublich, dass er einfach meinte, wenn die Bevölkerung das erst einmal wisse, werde sie ein Bollwerk gegen die bisherigen Eliten im Sowjetstaat sein. Für Honecker und Co. war dies der Anfang vom Ende. Sie wussten, wenn Gorbatschows Reformen auch nur ansatzweise in der DDR greifen würden, wäre es mit ihr vorbei. Auch nur ein bisschen mehr Freiheit hätte ein wirkliches Mehrparteiensystem nach sich gezogen, und in freien Wahlen wäre der SED-Staat abgewählt worden. Die SED hatte zu keinem Zeitpunkt des Bestehens der DDR die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich!

Leipziger Montagsdemonstrationen

Die Deutsche Einheit 1990 nun ist ohne die Leipziger Montagsdemonstrationen nicht denkbar. Doch wie kam es zu diesen Ereignissen? Ich zitiere Richard Schröder:

1978 führte Margot Honecker ein neues Schulfach ein: Wehrerziehung. Das stieß auf den Protest vieler Eltern und auch der Evangelischen Kirche, die dagegen eine Erziehung zum Frieden forderte – vergeblich. Darauf beschloss die Evangelische Kirche in beiden Teilen Deutschlands, jährlich eine Friedensdekade an den letzten 10 Tagen des Kirchenjahres ... abzuhalten. 1980 fand die erste Friedensdekade statt. Das Dresdner Jugendpfarramt hatte für diese Andachten eine Materialmappe erstellt, die an die Gemeinden versandt wurde. Und man hatte sich dafür etwas Besonderes ausgedacht, ein Lesezeichen, gedruckt auf Vlies, das eine sowjetische Plastik von Jewgeni Wutschetisch zeigte, nämlich einen sehr muskulösen Mann nach Art des heroischen sozialistischen Realismus, der aus einem Schwert eine Pflugschar schmiedet. Diese überlebensgroße Plastik hatte die Sowjetunion 1959 der UNO geschenkt. … die Kirche dachte: dann kanns ja wohl nicht verboten sein, diese Plastik, … auf Textilvlies drucken zu lassen. Das Herrnhuter Unternehmen Abraham Dürninger… druckte 120.000 Stück. Dabei nutzte die Kirche eine Gesetzeslücke. Das Bedrucken von Papier unterlag der Zensur, die aber nicht so genannt werden durfte. Das Bedrucken von Textilien dagegen galt als Oberflächenveredelung. Deshalb also war das Lesezeichen aus Vlies und nicht aus Papier. Und deshalb ließ es sich, was gar nicht beabsichtigt war, gut auf Jackenärmel nähen, was viele Jugendliche auch prompt taten. Darauf begannen Schulen und die Polizei eine Jagd auf dieses Abzeichen. Es musste sofort entfernt werden oder die Jacke wurde beschlagnahmt. Disziplinarische Maßnahmen folgten. Studenten wurden deshalb exmatrikuliert. Manche Jugendliche nähten sich daraufhin einen weißen Fleck auf den Ärmel mit der Inschrift: »hier war ein Schmied«.
Diese Friedensdekade … fand auch in der Leipziger Nikolaikirche statt, aber eben jährlich … .. Zu den wöchentlichen Friedensandachten in Nikolai kam es so: Im Leipzig-Probstheida stand für die Gemeindearbeit nur eine Zweiraum-Wohnung zur Verfügung. Durch einen Planungsfehler standen eines Abends zwei Gruppen vor der Tür, die Junge Gemeinde … und der Bibelkreis …). Was tun? Der Jugenddiakon Günther Johannsen schlug vor: dann redet eben heute mal Jung mit Alt. Die Alten fragten: warum provoziert Ihr Jungen mit den Aufnähern »Schwerter zu Pflugscharen« den Staat und riskiert Eure Karriere und Schlimmeres? Die Jungen antworteten: der Staat wird immer militanter, wir werden im Wehrkundeunterricht massiv gedrängt, freiwillig 3 oder gar 10 Jahre in der Volksarmee zu dienen. Ohne diese Verpflichtung kommt man oft gar nicht mehr zum Studium. Dagegen wollen wir ein Zeichen setzen. Die Alten waren erstaunt. …. Da wurde die Idee eines Friedensgebetes geboren. Denken, Handeln, Beten für den Frieden, so war es gedacht - und informieren. Eine zentrale Leipziger Kirche sollte es sein und nach Arbeitsschluss. Am besten wäre die Nikolaikirche und 17 Uhr. Und Montag empfahl sich, weil das der Pastorensonntag ist, an dem sie nicht ausgebucht sind.

Rauswurf aus der Nikolaikirche 1988

Selbstverständlich waren es nicht nur die Leipziger Montagsdemonstrationen, die die DDR zum Einsturz und zum Verschwinden brachten. Überall in der DDR gab es ›versammelte‹ Opposition, vor allem auch in Ostberlin – Stichwort Gethsemane-Kirche. Für Leipzig galt die Besonderheit, dass zweimal im Jahr die Weltöffentlichkeit auf die Messestadt blickte. Damit bekam Leipzig ein Podium, welches in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen war.

Das Paradebeispiel der Wirkung dieses Podiums lieferte am 29. August 1988 ausgerechnet Pfarrer Christian Führer. Um ihre Gemeinde zu schützen, beschlossen er und der Superindent Friedrich Magirius, die Oppositionsgruppen aus der Nikolaikirche zu verweisen. Die Herbstmesse stand bevor, die Erwartungen der Westmedien, über die Friedensgebete während der Messe weltweit berichten zu können, war bekannt. Mit den Worten »Das sind keine Leute von uns!« mussten die Oppositionsgruppen die Nikolaikirche verlassen. Was letztlich ein großes Glück für unsere Freiheit war. Von da an versammelten sich die jungen Leute im Nikolaikirchhof. Der Rauswurf bedeutete den Gewinn des öffentlichen Raumes für die Leipziger Opposition. Es war ein Rauswurf, der sich als gewaltiger Sprengsatz erweisen sollte. Plötzlich wurde diese Opposition öffentlich von den Leipzigern erkannt. Die Westmedien konnten von nun an noch bessere Bilder bringen. Technisch ausgedrückt: War diese Opposition unter dem Schutzdach der Kirche bis zum Sommer 1988 weitgehend unbemerkt, so wurde der Nikolaikirchhof die Brennkammer der Friedlichen Revolution, die ein Jahr später zum Motor der Leipziger Montagsdemonstrationen wurde.

Die Ungarn demontierten ihre Todesgrenze

So richtig in Fahrt kam die Entwicklung nach dem 2. Mai 1989. Der ungarische Premier Miklos Nemeth riss den ›Eisernen Vorhang‹ zu Österreich und Jugoslawien auf und zog damit den Stöpsel aus der Wanne Ostblock. Wir spürten plötzlich den Sturm der Freiheit, den wind of change. Zwar durfte noch kein Ostdeutscher diese Grenze überschreiten, der Fall dieser Bastion war jedoch absehbar. Dieser Sturm füllte die bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest. Es folgten das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989 nahe Sopron, die endgültige ungarische Grenzöffnung für DDR-Flüchtlinge am 11. September 1989 und die 14 Flüchtlingszüge zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 1989 von Prag nach Hof durch den Süden der DDR. Gerade letzteres Ereignis wurden von zehntausenden DDR-Bürgern entlang der Bahnstrecke wagemutig begleitet. In Dresden gab es eine Woche lang bürgerkriegsähnliche Zustände. Damals entstand die ›Gruppe der Zwanzig‹.

Noch eine Anekdote zu Nemeth und seiner Entscheidung, die Todesgrenze zu entschärfen. Mit Amtsübernahme im November 1988 sah er, dass Ungarn einige Millionen Devisen aufwenden musste, um die Grenzanlagen zu modernisieren. Das war Geld, welches Ungarn nicht hatte. Die geforderte Stacheldrahtqualität gab es nur im Westen. Nemeth sah nicht ein, dass Ungarn für das Einsperren der ostdeutschen Lagerinsassen Devisen ausgeben sollte. Die Ungarn selbst durften schon viele Jahre in den Westen reisen. Die ungarische Grenze wurde nur für die DDR-Bevölkerung tödlich bewacht. Nemeth reiste im März 1989 nach Moskau zu Gorbatschow. Grenzanlagen abbauen, das musste in Moskau genehmigt werden. Er teilte Gorbatschow mit, dass Ungarn die Grenzanlagen abbauen würde, dass Ungarn im laufenden Jahr eine parlamentarische Demokratie mit freien Wahlen einführen würde und dass die ungarische kommunistische Partei diese Wahlen verlieren würde. Gorbatschow gab grünes Licht.

Zurück nach Leipzig 1989. Die Montagsdemonstrationen erhielten enormen Zulauf aus der gesamten DDR. Da Gorbatschow seine Panzer nicht auffahren ließ, war die SED-Führung ungewohnt ganz allein zu Haus. Ohne die sowjetischen Waffen und Soldaten in der Hinterhand hatte sie nicht den Mut, auf die Bevölkerung zu schießen. Die Angst war übermächtig, dass sich die Soldaten mit den geladenen Gewehren gegen ihre Vorgesetzten wenden würden. Prügel, willkürliche Verhaftungen, Erniedrigung der ›Zugeführten‹ waren allerdings DDR-weit an der Tagesordnung.

Der Volksaufstand zwischen dem 9. und dem 16. Oktober 1989 in Leipzig

Allgemein wird der 9. Oktober als der Tag des Durchbruchs der bis dahin alles andere als friedlich abgelaufenen Ereignisse betrachtet. Das ist zu euphorisch. Im Gegenteil, erst zwischen dem 9. und dem 16. Oktober entschied sich das Schicksal der ostdeutschen Freiheitsbewegung. Am 9. Oktober geboten mehr als 70.000 Menschen, nicht vermummt oder freiheitlich-verwöhnt Steine werfend, dem SED-Staat Einhalt. Dessen Lähmung hielt aber nicht an. Die SED setzte alles auf eine Karte, auf den kommenden Montag, den 16. Oktober. Würden diese 70.000 nicht wieder kommen, hätte der Apparat brutal zugeschlagen. Leipzig war am 16. Oktober 1989 eine eingeschlossene Stadt, die auch von Fallschirmjägern ›gesichert‹ war. Statt den von der SED erhofften weniger als 70.000 kamen jedoch mehr als 120.000 Menschen in Leipzig zusammen. Die SED traute sich nicht zuzuschlagen. Auf die Betriebskampfgruppen war kein Verlass.

Überall wurde demonstriert

Die Leipziger Montagsdemonstrationen breiteten sich über die gesamte DDR aus. Viele Menschen fuhren montags nach Leipzig, um dort die Zahlen nach oben zu treiben und demonstrierten an anderen Wochentagen in ihren Heimatregionen. Die Schlagzahl wurde von Leipzig gewissermaßen vorgegeben, auch weil Leipzig im besonderen Medieninteresse stand. Der Einfallsreichtum, die Intelligenz und Kreativität der Demonstranten anderen Ortes stand dem der Leipziger in nichts nach. Die Bevölkerung erwachte und erhob sich aus gebückter Haltung. Die SED konnte nur noch reagieren und versuchte durch die sogenannten ›Dialoge‹, die Bevölkerung von der Straße zu holen. Das gelang in keinem Fall.

Honecker tritt ab, Krenz formuliert ›Die Wende‹

Am 18. Oktober 1989 wurde Honecker zurückgetreten. Krenz verkündete die ›Wende‹ und meinte damit, die DDR würde mit der SED-Stasi-Herrschaft letztlich erhalten bleiben. Damit lag er nicht auf der Höhe der Zeit. Wenige Wochen später war ›Wende-Krenz‹ abgewendet. Sein falsches Wort aber hat ihn leider überlebt. Sicher auch, weil ›Friedliche Revolution‹ zwar richtig, aber sperrig in der Formulierung ist. Ich würde lieber von einem gelungen ›Volksaufstand‹sprechen. Bisher bekamen nur misslungene Volkserhebungen das Attribut Volksaufstand angeheftet.

Parteien gründeten sich, die Blockflöten wurden munter

Jetzt beginnt die aufregende Zeit der Parteigründungen. Demokratie Jetzt, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch (DA), Grüne Partei, Bund Freier Demokraten u.v.m. Die SDP gründete sich als der direkteste Angriff auf die SED am Republik-Geburtstag am 7. Oktober 1989 (Aufruf zur Gründung einer Initiativgruppe am 24. Juli 1989). Wieso die SDP als direktester Angriff? Weil es mit uns ans Eingemachte ging. Die Mär von der Einheitspartei von Kommunisten und Sozialdemokraten wurde durch uns endgültig zerstört. Was wir damals nicht wussten, war, dass es Träume im Westen gab, in denen sich die SED zu einer sozialdemokratischen Partei mausern sollte. Wir enttäuschten den Pro-SED-Flügel in der SPD. Was für das Beitrittsjahr noch gewaltige Bedeutung erlangen sollte.

Der Mauerfall

Nur vor dem Hintergrund des grundlegenden Irrtums der SED über die tatsächlichen Sympathien für ihre DDR innerhalb der Bevölkerung lässt sich der Mauerdurchbruch vom 9. November 1989 erklären. Die Neusozialisten hatten die Hoffnung, die Meckerer würden sie los und ›Der Doofe Rest‹ (DDR) würde bleiben und nun den ›richtigen‹ Sozialismus richtig aufbauen.

Dritter Weg oder Deutsche Einheit

Wie ich schon andeutete, von nun an ging es der SED besonders darum, ihre eigenen Leute mit neuer Hoffnung hinter sich zu scharen und in der restlichen Bevölkerung neue Sympathien für die DDR zu entfachen. Die Chimäre hieß ›Dritter Weg‹. Den gab es aber schon: Es war die Bundesrepublik mit ihrer Sozialen Marktwirtschaft! Die Ostdeutschen wollten auch keine Versuchskaninchen mehr sein.

Die Montagsdemonstrationen mussten machtvoll weitergehen

Das Streben der SED war nach dem Mauerfall immer stärker darauf gerichtet, diese riesigen Demonstrationen einzuschläfern. Ein Mittel hierzu waren Diffamierungsversuche, wonach die Demonstrationen faschistische Tendenzen hätten und deshalb niemand mehr hingehen solle. Ähnlich diffamierte Putin 2014 die Maidanbewegung. Wer für seine Freiheit ist und damit gegen das sowjetische (1989/90) oder das russische (2014 ff) Interesse, der ist ›Faschist‹. Wir mussten damals alles daran setzen, die Demonstrationen zu perpetuieren. Bis zur Volkskammerwahl. Gelingen konnte dies nur, wenn wir weiterhin Kundgebungen anboten und unsere Politik formulierten bzw. vorstellten. Ohne Kundgebungen wären die Menschen nicht mehr gekommen, und ohne den Druck der Straße hätte die SED wieder gemacht, was sie wollte.

Die Deutschlandpläne von SPD und CDU

Am 28. November 1989 schlug Hans-Jochen Vogel in der Haushaltsdebatte eine Konföderation mit der DDR vor. Helmut Kohl antwortete mit seinem 10-Punkte-Plan zur Neuregelung der Vereinigung Deutschlands und Europas. Die SPD stimmte sofort zu. Das war sehr wichtig. Kurz vorher wollte Lafontaine den Ostdeutschen noch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen und maßregelte Norbert Gansel, der den ›Wandel durch Annäherung‹ durch einen ›Wandel durch Abstand zur SED‹ ersetzen wollte.

An dieser Stelle muss die Rolle von George Bush sen. hervorgehoben werden. Er war es, der Gorbatschow jeglichen Gesichtsverlust ersparte. In seiner Administration wurde streng darauf geachtet, auf Jubel und Selbstbeweihräucherung zu verzichten. Das mag heute lächerlich klingen, doch es sind Menschen, die handeln, und wenn sie in den eigenen Reihen gegen erhebliche Widerstände angehen müssen, dann ist Häme von außen alles andere als hilfreich.

Volkskammerwahl

Am 18. März 1990 konnten die Ostdeutschen das erste Mal frei wählen. Sie taten dies souverän. Das Ergebnis war eindeutig. Die Parteien, die sich für die Deutsche Einheit aussprachen, bekamen mit 75,2 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent einen eindeutigen Auftrag.

Der Beitritt war nur mit verfassungsgebender Mehrheit möglich. Lothar de Maiziere bat deshalb die SPD um Eintritt in eine große Koalition. So machten wir es dann auch.

Beitrittsbeschluss

So leicht, wie sich das heute mit dem Beitrittsbeschluss lesen lässt, war das überhaupt nicht. Die DDR war zu dem Zeitpunkt bereits ein Rechtsstaat, der nur mit einer Zweidrittelmehrheit in der Volkskammer den Beitritt zur Bundesrepublik realisieren konnte. Nicht auszudenken, die SDP hätte nach dem 9. Oktober 1989 alle SED-Mitglieder aufgenommen. Die SPD-Volkskammerfraktion wäre eine SED-Fraktion geworden. Überall in der SDP hätten sich ehemalige SED-Mitglieder mit ihrer Skepsis gegen die Bundesrepublik und ihrem Antiamerikanismus durchgesetzt, schon rein mengenmäßig.

Ich bin absolut sicher, hätte die SDP den viel kritisierten Aufnahmestopp für ehemalige SED-Mitglieder nicht beschlossen, am 23. August 1990 hätte es keine DDR-SPD-Fraktion gegeben, die dem Beitritt zugestimmt hätte. Der Beitritt wäre ohne die SPD der DDR nicht beschlossen worden. Für die Moskauer Zentrale wäre dies auf jeden Fall ein Zeichen gewesen, die DDR nicht aus ihren Fängen zu lassen. Es wären heute Putins Truppen, die eine noch immer desolate und vom MfS längst wieder kontrollierte DDR beschützen würde. Ein Albtraum!

Der Putsch in Moskau

Das Zeitfenster für die Deutsche Einheit war knapp bemessen. Wie knapp, das zeigte sich schon neun Monate später. Am 19. August 1991 wurde in Moskau geputscht. Wäre dieser Putsch geglückt und es hätte die DDR noch gegeben, aus dem Traum von der Einheit wäre nichts mehr geworden. Die DDR wäre in die Diktatur rückabgewickelt worden und die sowjetischen Truppen wären in Deutschland geblieben. Die Stasi hätte wie nie zuvor gewütet. Viele Menschen wären in die Lager gekommen, die 1989 längst vorbereitet waren.

Der Einigungsprozess ohne Blaupause

Für die Deutsche Einheit gab es keine Vorlage. Und das Wissen, das vorhanden war, wurde leider nicht abgefragt. Nicht das Innerdeutsche Ministerium wurde federführend, sondern das Innenministerium. Damit blieb viel Wissen auf der Strecke.

Insgesamt ist die Deutsche Einheit allerdings gelungen. Wer mit offenen Augen durch die Republik reist, kann gar nicht andres, als dieses festzustellen. Obwohl wir gerade in diesen Tagen innereuropäisch unter Kritik stehen, bleibt die Feststellung: Wir sind friedlich zu einem sehr gewichtigen Partner unserer Freunde geworden.

Einige wenige Fehler, die hätten vermieden werden können, möchte ich dennoch skizzieren.

Das Alteigentum und dessen Reglung

In der DDR ist viel Unrecht geschehen. Menschen wurden um ihren Besitz gebracht oder mussten diesen verlassen, weil sie flüchten mussten. Dieser Besitz wurde weitergenutzt. Waren es Häuser oder Wohnungen, dann übernahm der Staat treuhänderisch den Besitz und gab diesen zur Nutzung an die Bevölkerung weiter. War dieser Umstand anfangs den neuen Bewohnern noch bekannt und vielleicht auch peinlich – wohnen mussten sie aber doch irgendwie – verblassten diese Zusammenhänge über die Jahrzehnte. Die Menschen wähnten sich zu Recht und redlich in ihren Wohnungen. Sie reparierten und rekonstruierten diese auch und erhielten sie damit im Bestand.

Die SPD war in Kenntnis dieser Zusammenhänge der Auffassung gewesen, dass altes Unrecht nicht durch neues Unrecht beseitigt werden könne. Union und FDP setzten sich jedoch durch und favorisierten Rückgabe vor Entschädigung.

Dabei wäre der Beitritt eines Staates zu einem anderen eine einmalige Gelegenheit gewesen, neues Recht zu setzen. Eine grundsätzliche Entscheidung für den Status Quo im Sinne von ›Entschädigung vor Rückübertragung‹ wäre für den gesellschaftlichen Frieden im Einigungsprozess klüger gewesen. Ausnahmen wären sicherlich auch hier im Zuge der Entwicklungen durchgesetzt worden wie es in der tatsächlichen Entscheidung ›Rückübertragung vor Entschädigung‹ bekanntlich auch ablief. Die Wahlsieger Union/FDP setzten jedoch ihre Sicht durch und hunderttausenden DDR-Bürgern ›fiel der Himmel runter‹. Soeben noch glücklich in der Einheit und jetzt eine Eiseskälte sondergleichen. An dem Punkt bin ich geneigt, diese große Enttäuschung als eine ferne Wurzel des Unverständnisses gegenüber dem Rechtsstaat bei Pegida zu vermuten. ›Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat‹ lautete ein geflügeltes Wort von Bärbel Bohley. Sie bezog es auf den schweren Kampf um die Rehabilitierung und Entschädigung der SED-Opfer, viele Ostdeutsche bezogen diesen Satz auf die Rechtsanwaltshorde, die in ihre Behausungen eindrang. Damit will ich beileibe nicht den kompletten Stumpfsinn von Pegida erklären. Doch zum Bodensatz ostdeutscher Ressentiments gehört diese Erfahrung mit Sicherheit.

Der zweite große Fehler war die überhastete Privatisierung der DDR-Wirtschaft. In dieser Hast wurde alles ›verkloppt‹. Auch das, was mit sensibler Sanierung größere Chancen gehabt hätte.

Vor zwei Jahren gab es erste Überschriften, in denen es plötzlich hieß: ›80 Prozent der Ostdeutschen wollen die Mauer nicht wiederhaben!‹ Hallo? Bis dahin hieß es immer ›20 Prozent der Ostdeutschen wollen die Mauer wiederhaben!‹. Hätte nicht von Anfang an mehr über die 80 Prozent geschrieben werden können?

Die Stasiunterlagenbehörde

Eine Mär wurde von den SED-Erben mit Erfolg in die Welt gesetzt. Die Stasiunterlagenbehörde sei ein westdeutsches Diktat, Ausdruck der Kolonisierung wie es in den 90ern hieß.

Das ist eine der frechsten Lügen über die ›Friedliche Revolution‹ und die Deutsche Einheit! Es waren die Ostdeutschen, die 1989 skandierten ›Stasi in die Produktion!‹ und ›Ich will meine Akte sehen!‹. Es waren dann die Ostdeutschen im Deutschen Bundestag, die in ihren Fraktionen mit größter Anstrengung ihre Westkollegen überredeten, diesem Gesetz zuzustimmen. Für Westdeutsche war das anfänglich ein Unding, diese Akten zugänglich zu machen. Wir haben uns durchgesetzt. Zum Glück. Damit gelang ein Stück Befriedung und Wiedergutmachung. Die Hexenjagd auf die Bevölkerung fand bis 1989 statt. Danach gab es keine Hexenjagd. Inzwischen werden MfS-belastete Täter sogar offen bspw. in den Thüringer Landtag gewählt. Dort sitzen Leute, die Menschen an der Ausreise hinderten, deren Familien zerstörten.

Die EU- und die NATO-Osterweiterung

Der Begriff wirkt irreführend aktiv! Es war der Wunsch der Mittel-Osteuropäer, am EU-Binnenmarkt teilzunehmen zu können und sich in der NATO vor Russlands immer wiederkehrenden Appetit auf Territorien und Menschen zu schützen. Ich habe das jeden Augenblick verstanden. Ging es mir doch 1989/ 1990 selbst um diese Sicherheit vor Moskau. Pole möchte ich aktuell nicht sein. Sie haben das alles wundervoll angestoßen und hoffen jetzt wieder, dass sich Deutsche und Russen nicht noch einmal zu ihren Lasten verständigen.

Gorbatschow wurde 1990 zugesichert, dass es keine NATO-Truppen auf ostdeutschem Gebiet geben wird. Das wird bis heute eingehalten. In Ostdeutschland gibt es keine NATO-Stützpunkte.

Was 1990 nicht vorhersehbar war, dass der Warschauer Pakt verschwindet und die Sowjetunion aufhören würde zu existieren. Es gab kein Versprechen an die Sowjetunion, keine ehemaligen Ostblockstaaten in die NATO aufzunehmen. Die waren nämlich alle noch im Warschauer Pakt: bis 1991.

Aktuelle Herausforderungen bezogen auf die Gründe zur Einheit

Seit 2014 führt Russland Krieg in der Ukraine. Hätte die Ukraine dies 1995 beim Verzicht auf ihre Atomwaffen geahnt, sie hätte diese Waffen niemals abgegeben. Wir können froh sein, dass diese Waffen nicht mehr in den Händen eines so instabilen Staates sind. Weil wir darüber froh sind, sollten wir der Ukraine aber unsere Solidarität versichern!

Seit 2015 testen Putins Jagdflugzeuge die Belastbarkeit der Ostgrenzen unserer Nachbarn. Putin macht seit zwei Jahren etwas, was sich Deutschlands Rechtsradikale seit 1945 wünschen: Grenzen wieder gewaltsam verschieben.

Fragen im Zusammenhang mit der in 2015 unkontrollierten Zuwanderung

Ich werfe nur drei Fragen auf. Fragen, die wir alle mit uns selbst und miteinander beantworten werden müssen.

Frage 1: Frau Merkel gab der Menschlichkeit am 4. September 2015 mit Deutschland eine besondere Adresse. So human dies war, war sie auch wirklich berechtigt, internationale Verträge in personam aufzuheben, ohne die vorherige Einwilligung unserer Volksvertreter im Bundestag einzuholen?

Frage 2: Im vorigen Jahr gab es quasioffizielle Aussagen, wonach wir unsere Grenzen nicht kontrollieren können. Entsprach dieses Postulat dem Grundversprechen des demokratischen Staates auf Grundsicherheit seiner Bürger? Welche Auswirkungen kann so eine These auf die Loyalität seiner Bürger zu ihrem Staat haben?
Ich bin stolz auf diese Bundesrepublik und ich bin mir sicher, gemeinsam schaffen wir vieles, besonders den Erhalt von Einigkeit und Recht und Freiheit! Und ich weiß, die Herausforderungen seit 2015 können wir bestehen.

Frage 3: Doch müssen wir darüber nicht auch einmal gründlich diskutieren?

Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht wie Weimar zuletzt eine Demokratie mit wenigen Demokraten. Die Bundesrepublik ist eine Demokratie voller Demokraten.

Meinen hochachtungsvollen Dank an die Westdeutschen, die bis 1990 die Hüter des Grundgesetzartikels 23 waren! Ihnen haben wir das offene Tor zur Deutschen Einheit und zu Europa in Freiheit und westlicher Sicherheit zu verdanken.

Nachtrag:

Dieser Vortrag ist lückenhaft, sehr viele Oppositionsgruppen, Ereignisse in beiden Teilen Deutschlands konnte ich nicht skizzieren. Ein Vierfaches an Zeit wäre notwendig gewesen. Mein Vortrag ist der eines Zeitzeugen aus Leipzig. Ich nutze die Gelegenheit, weniger bekannte Zusammenhänge in den Fokus zu rücken. Geschichte ist auch die Summe einzelner Betrachtungen.

Wichtig zu erwähnen ist noch die Tatsache, dass das jahrzehntelange mutige Flüchten in den Westen zu der eindeutig riskantesten Art von Opposition und Widerstand zu rechnen war. Jeder glückliche Flüchtling war eine Niederlage für den SED-Stasi-Staat. Um jeden Menschen, der seine Flucht in die Freiheit mit dem Leben, seiner Gesundheit oder dem Zuchthaus bezahlte, trauere auch ich.

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