Dass Ehe und Familiengründung durch Zeugung von Nachwuchs nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben, erhellt besonders anschaulich § 1307 BGB, der lautet: »Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen Verwandten in gerader Linie sowie zwischen vollbürtigen und halbbürtigen Geschwistern. Dies gilt auch, wenn das Verwandtschaftsverhältnis durch Annahme als Kind erloschen ist.« Paragrafen lassen sich ändern, das ist wahr, aus parlamentarischer Inzucht folgt, jedenfalls in ein und derselben Legislaturperiode, weder logisch noch sachlich die biologische.

Es wäre auch unsinnig, an letzterer festzuhalten, jedenfalls an einem Tag, an dem der Deutsche Bundestag kein Geschlecht mehr kennt außer dem selbstverfertigten. Vielleicht nicht bloß unsinnig, sondern auch unredlich, da der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht an Geschlechtergrenzen enden darf, da sei das Grundgesetz vor, vor allem in seinen künftigen, eigens dafür zu ändernden Fassungen. Überhaupt darf er nirgends enden, wie ein kleines Rechenexempel leicht zu zeigen vermag. Folgt man den Angaben des Lesben- und Schwulenverbandes LSVD, so lebten 2014 in Deutschland 41000 gleichgeschlechtliche Paare mit eingetragener Lebenspartnerschaft in einem Haushalt zusammen: das ergibt, betrachtet man diese als erste Anwärter auf kommende Eheschließungen, bei 393 willigen Abgeordneten im Deutschen Bundestag ein Repräsentationsverhältnis von eins zu hundert (1 : 100), bei einer extremen Steigerung seither vielleicht eines von eins zu zweihundert – davon dürfen Obdachlose in diesem Lande nicht einmal in Ansätzen träumen, von ungewollt Schwangeren, alleinerziehenden Müttern, arbeitsunfähigen Vätern, elternlosen Kindern, einst Waisen genannt, schwer erziehbaren, heimgeschädigten, durch drogenabhängige Eltern im Kindheitskern geschädigten Jugendlichen und anderen schon länger Bedürftigen und unter galoppierender Ungleichbehandlung leidenden Zeitgenossen im Umkreis des Geschlechter-, pardon: Liebendenverhältnisses einmal abgesehen. Die Kanzlerin tat schon recht damit, ihr Gewissen im Einklang mit dem noch unabgeänderten Grundgesetz schlagen zu lassen. Doch auch ihrem Gewissen werden die Mehrheitsverhältnisse im noch zu wählenden Bundestag rechtzeitig den Weg weisen, den es hier und dann zu gehen gilt – schließlich gilt es immer und überall neue Wege zu gehen, vor allem, wenn es die altbekannten sind, die aus gutem Grund lange verworfen wurden. Schließlich ist das und nichts anderes der Grund, aus dem sie so unerhört neu aussehen, weshalb der Spießer sie kaum zu betreten wagt. Im Fall der Ehe für alle ist Deutschland, so las man es, seit heute das Land der Liebe, nicht das erste, Gott bewahre, aber doch im vorderen Mittelfeld, also dort, wo es sich selbst, wenn es nicht gerade Exportweltmeister spielt, am liebsten ›sieht‹. Vorderes Mittelfeld, so sieht es aus, so will es aussehen, aber man sollte doch auch das mittlere und hintere Mittelfeld nicht ganz vernachlässigen. Die Ehe für Nichtspießer ist nichts für Spießer, das liegt in ihrer Natur, vielmehr Nicht-Natur, denn die Natur des Nichtspießers liegt bekanntlich darin, dass er die Spießernatur rundherum ablehnt, ja sie geradezu aufspießt, da sie für ihn das Monster ist, das es vor aller Welt zu vernichten gilt. Auch wenn auf dem Weg der Naturvernichtung dauerhafte Erfolge nur schwer zu erzielen sind, so berauscht man sich doch immer wieder an Durchbrüchen, vor allem an Fronten, von denen man gestern noch nicht wusste, dass sie überhaupt welche darstellen, an denen daher die einfache Überrumpelung als taktisches Glanzstück zu feiern bleibt. Diesmal hat die Kanzlerin sich selbst überrumpelt: Wen wird sie morgen –? So etwas fragt man nicht, es ziemt sich nicht, schon der Ton könnte den neuen Aufpassern, die bei dieser Gelegenheit gleich mit durchschlüpfen, übel aufstoßen … und dann? Ich frage: und dann?

Auch hier sollten die strengsten Gleichheitsmaßstäbe oberste Richtschnur jedes Abgeordneten bleiben: Passt auf euch auf! Passt gutauf euch auf! Wer zuviel sagt, den bestraft – nein, nicht das Leben, das hättet ihr gern, so leicht werdet ihr eurer Unvollendeten nicht entrinnen. Wusstet ihr eigentlich, dass die Zivilehe in Deutschland – ich nenne sie Zivilehe, im Gegensatz zur Sakralehe, in welcher der Kindersegen das Hauptbrimborium bildet – genau 142 (in Worten: hundertzweiundvierzig) Jahre gehalten hat, von ein paar napoleonischen Vorläufer-Krümeln abgesehen: mag sein, eine lange Zeit für ein Land, dessen durchschnittliche Staatsdauer vom Einzug der Abgeordneten der Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche bis zur Öffnung der Berliner Mauer der Schriftsteller Thomas Körner mit 20,1 Jahren berechnete, doch ganz gewiss ein Furz angesichts der ungeheuren Dauer, auf welche die Sakralehe, also die rituelle Zusammenfügung von Mann und Frau zum Zweck der geordneten Kinderzeugung und -aufzucht zurückblickt – wofür? Bitte, herzallerliebste Abgeordnete, wofür? Für ein Achselzucken? Für einen Haufen Gleichgültigkeit gegen die Zukunft dieses und aller zivilisierten Länder? Für das Programm »Unsere Kinder wachsen im Orient, in Afrika, auf Bäumen, wo immer Sie wollen, aber doch bitte nicht hier, wo alles so teuer und so ungleich verteilt ist«? Für eine Parodie? Und damit meine ich nicht die Schwulen- und Lesbenehe, oh nein, ich meine die ihres Sinnkerns beraubte Zivilehe, die Eheparodie, die künftig, brav in Recht und Gesetz gegossen, ihre Stelle einnehmen wird, vorausgesetzt, das Bundesverfassungsgericht entschließt sich nicht doch noch, bei alledem ein Wörtchen mitzureden. Der Staat – schön, das heute einmal so feststellen zu können – hat die Ehe nicht erfunden, er hat sie nur seinen Zwecken einverleibt und jetzt nimmt er ihr das einzige, wofür er legitimerweise ein Interesse aufbringen dürfte: die konkreteSorge für die Zukunft des Landes und der in ihm Lebenden, um diese reichlich kitschige Phrase auch einmal zu benützen, um sie – in den Wind zu schlagen. Dieser Jubel, er wird euch noch einmal… – ach was, die Hälse, in denen dergleichen noch stecken bleibt, schaffen es doch gar nicht mehr ins Hohe Haus, wer weiß, wo sie stecken, wahrscheinlich unterrichten sie gerade die Pinguine im Pfötchengeben.

Geschrieben von: Siebgeber Ulrich
Rubrik: Der Stand des Vergessens