Die Türkei geht uns nahe. Wer diesen Satz angemessen erläutern könnte, mit allen Vorder- und Nachsätzen, er würde Erhellendes zur Deutschen Pathologie beisteuern, die, effektiver als die Regierenden, das Land im Griff hat. Nicht das Schicksal der Türkei geht ›uns‹ nahe, auch nicht die Leute, nicht das Land an sich– was dann? Man könnte meinen, es seien die Millionen Türken und Deutsche türkischer Herkunft (mit türkischem Pass), die unübersehbar in die Mitte der Gesellschaft und – noch vereinzelt – in ihre höheren Ränge vorrücken. Aber gerade sie haben die Türkei verlassen, aus Gründen, über die niemand zu rechten hat. Und diejenigen unter ihnen, die im ›Aufnahmeland‹ nicht recht Fuß fassen konnten, ›identifizieren‹ sich vielleicht mit den Verhältnissen in der Türkei, weil im Hintergrund der türkische Sender läuft und die Familienbande nach wie vor intakt sind – nahegeht den Deutschen, Migrationshintergrund hin oder her, das alles nicht.

Das Ganze ist, unter Liebhabern deutsch-türkischer Geschichte, keine Frage von Identifikation oder Ablehnung, von geheimer oder offener Seelenverwandtschaft, sondern Ausdruck einer paradoxen kulturellen Verschränkung. Sie ist unlösbar mit der Idee Europa verbunden – einer Idee, älter als die Konzeptionen des politisch vereinten Europa, der EU oder der westlichen Werte-Gemeinschaft. Diese Idee Europa ist innerhalb der deutschen Tradition untrennbar mit dem Begriff der ›Bildung‹ verbunden, einem nicht-exklusiven Blick auf Kulturen, dem die paradoxe Aufgabe zufiel, letztere aus ihrem Mittelpunkt zu verstehen und gleichzeitig in ihnen allen das ›Humanum‹, die gemeinsame menschliche Substanz am Werk zu sehen – ein Gedanke, dem die Hegelsche Dialektik auf dem welthistorischen Fuß folgt. Dieser nicht-missionarische, nicht-kolonialistische Blick auf die außereuropäischen Kulturen traf in der Türkei auf den fremden Freund: islamgläubig, jahrhundertelang als Bedrohung des christlichen Abendlandes verketzert, als Hüter der dritten monotheistischen Buchreligion von Aufklärern wie Lessing zum Widerlager eines ›vernünftigen‹ Religionsverständnisses erkoren, asiatisch, aber als Eroberer und damit nolens volens Erbe des alten Konstantinopel eine europäische Macht, despotisch, aber eben deshalb in einem versteckten Bunde mit den Mächten der Heiligen Allianz und dem wieder erneuerten Kaisertum, denen das religiöse Fundament des Staates ebenso unverzichtbar erschien wie der Menschenrechtskatalog den führenden Staaten der gegenwärtigen Weltordnung. Die Revolutionen von 1908, 1918 und 1920 haben die beiden Länder enger zusammenrücken lassen als das Militärbündnis beider Staaten im Ersten Weltkrieg erahnen lässt: Sie fügten ihrem Verhältnis das Vorbild-Nachbild-Schema ein, dessen bizarre Kehrseite gelegentlich in Sentenzen des heutigen Staatspräsidenten wieder aufblitzt. Und sie wiesen ihnen – mit bitterem Witz – verwandte, wenngleich deutlich unterschiedene Plätze im europäischen Mächtespiel zu.

Manches spricht dafür, dass der Deutsche Bundestag mit der Armenien-Resolution vom Juni 2016 in kultureller Hinsicht sein Konto überzogen hat. Ihren Initiatoren mag das gleichgültig sein, einige davon dürften keine Lust darauf verspürt haben, Reminiszenzen auszuloten, die sich dem klaren Belehrungsgestus in Sachen Völkermord widersetzen. Andererseits ist der türkische Druck seit langem spürbar: Wer jahrelang offen und versteckt Loyalität seiner Noch- oder Nicht-mehr-Staatsbürger auf dem Boden eines fremden Staates einfordert, muss früher oder später mit Gegenläufigkeiten rechnen. Was die türkische Gesellschaft – noch – im Protest zu einen scheint, erlaubt es im günstigen Fall, ihren hiesigen Ableger zu spalten und damit dem Auseinanderfallen der deutschen Gesellschaft entgegenzuwirken. Eines hingegen scheint sicher: Ob mit dem gescheiterten Juli-Putsch wirklich die Zeit des Deliriums beginnt, wie deutsche Kommentatoren überwiegend anzunehmen scheinen, oder die Säuberungen sich im Bett einer ›kalten‹ Präsidialdemokratie verlaufen, entscheidet sich nicht entlang den Linien deutscher Geschichte. In diesen Dingen verfügt die türkische Seite über weit größere Erfahrung und ein unvergleichliches Repertoire.

Neid? Doch wohl nicht.

Geschrieben von: Siebgeber Ulrich
Rubrik: Der Stand des Vergessens