von Michael Müller

Das 21. Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit oder ein Jahrhundert der Ausgrenzung, Gewalt und Verteilungskonflikte. Entweder gelingt es, die wirtschaftliche Innovationskraft zu stärken und mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit zu verbinden. Oder in Wirtschaft und Gesellschaft verschärfen sich weiter Ungleichgewichte, die reihenweise Krisen und Erschütterungen auslösen.

Diese Zuspitzung, wie sie auch das Grundsatzprogramm der SPD auf den Punkt bringt, baut sich seit den 70er Jahren auf, seit das sozialstaatliche Wachstumsmodell immer stärker unter Druck gerät. Die beiden wichtigsten Auslöser waren 1972 die Veröffentlichungen des Club of Rome über die ökologischen Grenzen des Wachstums, die bis heute nicht ernst genommen werden. Und Ende der 70er Jahre die Weichenstellungen zum Finanzkapitalismus, mit dem die damalige britische und amerikanische Regierung ihre angeschlagenen Volkswirtschaften zu Lasten Dritter auf einen höheren Wachstumskurs bringen wollten.

Die Krise des Wachstumsmodells

Diese Party auf Kosten der Zukunft, der Natur und der Dritten Welt, wie Jesse Jackson diese Verantwortungslosigkeit charakterisiert hat, beendete das »sozialdemokratische Jahrhundert«. Die Hauptverantwortlichen für die Entmoralisierung der Wirtschaftsordnung waren Margret Thatcher und Ronald Reagan, denen die Chicago-Boys von Milton Friedman weisgemacht hatten, dass Deregulierung wirtschaftliche Vernunft sei. Da der Marktradikalismus ihrer konservativen Ideologie entsprach, demontierten sie den Wohlfahrtsstaat, der 1933 mit dem New Deal von US- Präsident
Franklin Roosevelt in den USA eingeleitet wurde.
Mit der Stärkung der Wall Street in den 80er Jahren setzte sich das Einheitsdenken des Finanzkapitalismus durch. So kam es zur diabolischen Allianz der Investmentbanken mit der neoklassischen Ideologie. Das war das Gegenteil der Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit, die 1944 in Bretton Woods festgelegt worden war. Deren Ziel war die Regulierung von Finanzmärkten, um schwere Krisen zu verhindern.

Um das Wachstum zu steigern, wurde nicht nur den Geldhändlern freie Bahn gegeben, sondern auch das verdrängt, was wir über die Endlichkeit unseres Planeten gelernt haben. Lange Zeit überwog eine Distanz zu ökologischen Themen. Angefeuert durch die offenen Märkte und Konkurrenzkämpfe der Globalisierung war die falsche Heilsbotschaft »Wachstum, Wachstum über alles« in den 90er Jahren nahezu unumstritten. Statt zu einer Kurskorrektur zu kommen, wurden die Fehlentwicklungen verstärkt. Nun wird die Krise des Wachstums mit ihren spekulativen Exzessen und ökologischen Bedrohungen zur Krise der Politik, deren Modernisierung weit hinter den wirtschaftlichen Veränderungen und internationalen Umwälzungen zurückblieb. Sie war nicht, wie Willy Brandt gefordert hatte, »auf der Höhe der Zeit«.

Bei der Aufgabe, den globalen Kapitalismus zu zähmen, kommt der ökologischen Modernisierung eine zentrale Rolle zu. Die Umwelt- und Naturschutzverbände haben das erkannt. Sie führen eine breite Debatte über Wachstum, Naturverständnis und Nachhaltigkeit. Ökologische Fragen brauchen eine gesellschaftspolitische Antwort. Auch die Sozialdemokratie muss ihren Weg neu bestimmen. In den letzten 150 Jahren gelang der Umstieg von der Agrar- zur Industriewirtschaft und zu einer starken Arbeitsgesellschaft. Das war erfolgreich, geht aber aus zwei zentralen Gründen zu Ende.
Erstens werden die Belastungsgrenzen der Öko-Systeme erreicht. Beim Klimawandel z.B. steigt die Konzentration der Treibhausgase in einem Tempo, bei dem in spätestens 30 Jahren eine globale Erwärmung um zwei Grad Celsius nicht mehr zu verhindern ist. Zweitens werden Ressourcen und fossile Brennstoffe knapp und teuer. Eine Welt, in der einfach so weitergewirtschaftet wird, ist nicht vorstellbar. Künftig drohen Klima- und Rohstoffkriege, wenn es nicht schnell zu einer Wende in Richtung Effizienzrevolution, Kreislaufwirtschaft und Solarwirtschaft kommt.

Der ökologische Umbau ist nicht nur zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen notwendig, er ist auch ökonomisch überfällig. Nach dem wirtschaftlichen Einbruch vom September 2008 ist die Rückkehr zu einer realwirtschaftlichen Stabilität entscheidend von den ökologischen Märkten abhängig. Nach der Theorie der »langen Wellen« von Nikolai Kondratieff geht es heute um die
»grünen Technologien«. Das erfordert den Umbau der Wirtschaft, die Erneuerung der Infrastruktur und eine Reform von Bildung und Wissenschaft. Die ökologische Wissensgesellschaft wird zur großen Chance für unser Land und die Europäische Union.
Der Finanzkapitalismus zehrt Arbeit und Natur aus. Um die Gewinne zu steigern, werden die sozialen und ökologischen Folgen wirtschaftlicher Entscheidungen externalisiert. Doch die kurzfristigen Vorteile sind in Gefahren und Krisen umgeschlagen. In allen OECD-Staaten sinkt das wirtschaftliche Wachstum, 22 der 31 OECD-Staaten verzeichnen ›nur‹ noch ein lineares Wachstum, mit dem die Sozialsysteme nicht gesichert werden und keine Haushaltskonsolidierung möglich wird.
Mit seiner Abschwächung hat sich das Wachstum deutlich von der Arbeitsproduktivität abgekoppelt. Arbeit wird von Technik übernommen, ohne dass ausreichend neue Beschäftigung geschaffen wird. Der Ausweg liegt in der Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität. Sie senkt die Kosten, ermöglicht Wettbewerbsvorteile und schafft neue Arbeitsplätze, weil effizientere Dienstleistungen Kilowattstunden einsparen, Abfall vermeiden und Emissionen senken. Die Effizienzrevolution war leider kein zentrales Thema bei Rot-Grün, sondern wurde erst von Sigmar Gabriel nach vorne gebracht.

 

Wohlstand durch Vermeiden

Die sozialdemokratischen Eckpunkte für die ökologische Modernisierung sind Demokratisierung der Wirtschaft, Gerechtigkeit im Umbauprozess und eine nachhaltige Entwicklung. Ein neues Gleichgewicht erfordert mehr Vielfalt, Wettbewerb und Dezentralität. Das ist der Kern des Umbauprozesses, denn die heutigen Großstrukturen fördern die Machtkonzentration und erschweren Innovationen.
Nachhaltigkeit erfordert Nähe und Fernstenliebe, dauerhafte Stabilität und Dezentralität, Vielfalt und Sparsamkeit. Doch dieser Umbau wird nur akzeptiert, wenn er gerecht ist, da er mit Belastungen und Umverteilungen verbunden ist.
Die ökologischen Herausforderungen können nur bewältigt werden, wenn die sozialen und demokratischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts bewahrt und weiterentwickelt werden. Doch dies geht nicht mehr auf den bisherigen Wegen, denn in der Natur gibt es kein unbegrenztes Wachstum. Deshalb müssen die Lösungen über eine Effizienzstrategie hinausgehen, denn deren
Erfolge werden durch das Massenwachstum immer wieder kompensiert. Nur wenn wir fähig werden, auch den Expansionsdrang zu begrenzen und dauerhaft Rücksicht auf den Schutz der sozialen und ökologischen Ressourcen zu nehmen, wird ein faires und gelungenes Leben für alle möglich. Die ökologische Modernisierung ist unabtrennbar von der Gerechtigkeitsfrage.

Die SPD kann bei der ökologischen Modernisierung eine zentrale Rolle einnehmen, wenn sie ihre Kernkompetenz, Partei des gesellschaftlichen Fortschritts zu sein, neu begründet. Sie muss eine gute Zukunft aufzeigen, die sich nicht länger von dem Dogma »Schneller, Höher, Weiter« leiten lässt. Das ist der ökologische New Deal, der in der Tradition der großen Transformation zum Wohlfahrtsstaat heute ansteht. Er verfolgt nicht nur technische und ökonomische Ziele, sondern leitet auch einen kulturellen Paradigmenwechsel ein. Von daher geht es auch um eine Veränderung der »Natur in uns«.
Ökologische Steuerreform, Atomausstieg, Klimaschutz und der Ausbau der erneuerbaren Energien haben unser Land vorangebracht und ihm auch international viel Anerkennung verschafft. Nun geht es um weitergehende Ziele, um auch Suffizienz (Genügsamkeit) und Konsistenz (dauerhafte Einordnung in die Naturkreisläufe) zu verwirklichen.
Dafür brauchen die Menschen gemeinsame Werte, Verlässlichkeit im Umbau und überzeugende Perspektiven für eine gute Zukunft. Das Leitbild dafür ist eine nachhaltige Entwicklung, die auf sozialdemokratische Reformideen zurückgeht: Auf die Idee der gemeinsamen Sicherheit von Olof Palme, die Idee des gemeinsamen Überlebens von Nord und Süd von Willy Brandt und auf die Idee einer sozial- und umweltgerechten Entwicklung von Gro Harlem Brundtland.

Nachhaltigkeit macht die Umwelt zur Mitwelt und führt zu einem veränderten Fortschreiten in der Entwicklung von Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. Wichtig ist zum einen der verantwortungsbewusste Umgang mit der Zeit - Entscheidungen müssen von der absehbaren Zukunft her getroffen werden - und zum anderen der Primat der Gesellschaft über die Wirtschaft. Außerdem nötig sind ein qualitatives Wachstum, das die Entwicklung sozial- und umweltgerecht macht, sowie mehr Demokratie und Freiheit von Bedeutung.
Nachhaltigkeit ist ein umfassendes Reformkonzept. Es bezieht die Neuordnung der Finanzpolitik ebenso ein wie die Reform von Wissenschaft und Forschung. Sie stärkt das Bildungssystem und fördert den Umbau der Gesundheits- und Sozialsysteme. Sie zielt auf die Erneuerung der Städte, die klimagerechte Landnutzung und die Vitalisierung ländlicher Räume. Der größte Vorteil liegt darin, dass Nachhaltigkeit auf allen Ebenen sofort umsetzbar ist, weil sie unterschiedliche Akteure durch regulative Prinzipien miteinander verbindet.
Nachhaltigkeit bedeutet ein neues Verständnis von Wachstum, ein schnelles Wachstum der Sektoren, die sozial und ökologisch verträglich sind, und eine Abnahme derer, die es nicht sind. Nur so kann die Welt wieder in ein Gleichgewicht kommen. Das ist das, was im Berliner Grundsatzprogramm der SPD von 1989 als gezieltes Wachsen und Schrumpfen beschrieben wurde.

Um die Rolltreppe der Naturzerstörung langsamer zu stellen, muss im ersten Schritt die Energie- und Rohstoffproduktivität bis 2020 gegenüber 1990 mindestens verdoppelt werden. Diese Effizienzrevolution ist möglich, eine bloße Entkoppelung vom Wachstum reicht für die Senkung des Verbrauchs aber nicht aus. Für diese muss es erst zu Dezentralität und Energiedienstleistungen kommen.
Diese Ökonomie des Vermeidens käme auch dem Handwerk, produktionsorientierten Dienstleistungen und dem Arbeitsmarkt zu Gute, denn eine Reduktion des Material- und Ressourcenumsatzes zahlt sich durch geringere Kosten für Unternehmen wie die Volkswirtschaft aus. Sie verringert die Rohstoffabhängigkeit und verbessert die Wettbewerbsfähigkeit, zumal überall in der Welt die Nachfrage nach öko-effizienten Produkten steigt. Diese Ökonomie wird durch die modernen Informationstechnologien möglich. Die Energiebereitstellung ist der strategische Hebel für die ökologische Modernisierung. Effizienzsteigerung und erneuerbare Energien kommen zusammen, d.h. Strom aus erneuerbaren Energien wird im Jahr 2020 über 30 % des Bedarfs decken. 300.000 Menschen sind bereits in dieser Branche tätig. 46 Staaten haben eine Förderung nach dem deutschen Vorbild übernommen. Die erneuerbaren Energien sind eine Erfolgsgeschichte.
Zusammen mit einer massiven Effizienzsteigerung kann der durchschnittliche Energiebedarf pro Kopf bis Mitte unseres Jahrhunderts drastisch gesenkt  werden. Die ETH Zürich hat aufgezeigt, dass statt einer 6.500 Watt- eine 2.000-Watt-Gesellschaft machbar ist. Vergleichbare Ziele müssen beim Material- und Rohstoffeinsatz aufgestellt werden.

In der Globalisierung muss sich das europäische Gesellschaftsmodell neu behaupten. Als Nachhaltigkeitsunion wird die Europäische Union weltweit zum Vorbild für Kooperation, Vielfalt und Demokratie. Dafür müssen die Gemeinschaft wie einzelne Staaten eine Pionierrolle für eine sozial-ökologische Wirtschafts-, Forschungs-, Struktur- und Regionalpolitik einnehmen. Diese Modernisierung wird dann zum Leitbild einer friedlichen und gerechten Weltordnung.

(Auch in: Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte 5, 2010)

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